ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Sozialtisch

d'Lëtzebuerger Land du 17.01.2025

In seinem Neujahrsinterview bedeutete Luc Frieden den Versicherungsgesellschaften, Besserverdienenden: Wir haben euch nicht vergessen! Er breitete seine Vorstellung von Rentenversicherung aus: „Niewent enger Grondrent“ bedürfe es mehr betrieblicher und privater Zusatzversicherungen (RTL, 1.1.2025).

Der Premier verwechselte die Grondrent (majoration forfaitaire) mit der gesetzlichen Pflichtversicherungsrente. Er verbildlichte seine Vorstellung: „Dee sougenannte Cappuccino-Modell. Wou een e Grondsaz vu Kaffi huet an dann driwwer Schlagsan an driwwer Schokla. Dat kann ee maachen, fir datt et de Leiden och am Alter besser geet.“ Es ist steuerlich absetzbar – von höheren Einkommen.

Vor mehr als 40 Jahren wurde das „Luxemburger Modell“ aus der Taufe gehoben. Es erklärte die Gesellschaft zur harmonischen Volksfamilie. Damit sie Solidaritätsopfer erbrachte. Um den Arbeitsplatzabbau in der Stahlindustrie zu bezuschussen. Und so Entlassungen, Arbeitskämpfe zu vermeiden.

Die Sozialpartnerschaft entwaffnete die Arbeiterbewegung. Nach dem Bankenkrach 2008 konnten die Unternehmer sich die Unkosten sparen. „Je dirais que, dans le domaine économique et social, la tripartite n’est pas le modèle sur lequel l’avenir peut être construit.“ Sprach ihnen Luc Frieden aus dem Herzen (Journée de l’ingénieur, 4.2.2012).

Doch Politiker, Statistikerinnen, Gewerkschafter, Leitartiklerinnen hatten das „Luxemburger Modell“ verinnerlicht. Manche bis heute. Sie teilen die Gesellschaft in zwei Blöcke ein: einvernehmliche Einheimische und problematische Ausländer. Höchstens noch in klassenlose Lohnquintile.

„On a un peu vite évacué le concept de ‚classes‘.“ Gab der Direktor des statistischen Amtes zu. „Or, il y a bien des groupes influents, des hiérarchies, des structures de pouvoir qui s’imposent à la ‚société d’individus‘“ (Rapport travail et cohésion sociale, 2024, S. 7). Serge Allegrezza überraschte. Dann ging er in Rente.

Nunmehr behindert Sozialpartnerschaft die Wettbewerbsfähigkeit. Neue Verhältnisse verlangen ein neues Leitbild. Der CSV-Premier fand als Erster einen Namen dafür: „Cappuccino-Modell“. Er borgte ihn bei der niederländischen Sozialversicherung. Deren Referenzen sind die Toeslagenaffaire.

In Friedens Cappuccino-Modell gibt es die Oberen, die alles haben zu einem süßen Leben: Kaffee, Schlagsahne, Schokolade. Die in der Mitte werden mit Schlagsahne zum Kaffee bei Laune gehalten. Für die unten bleibt am „Sozialtisch“ schwarzer Kaffee, Schiggeri, Muckefuck, Schluutchen.

Hinter den drei Säulen einer inegalitären Rentenversicherung verbirgt sich ein inegalitäres Gesellschaftsbild: Von denen da oben, einer Mittelschicht, denen da unten. Luc Friedens dreistufige Hierarchie erinnert an Klerus, Adel, Tiers État des Ancien Régime. An die Zweidrittelgesellschaft und Unterschicht der Neunzigerjahre.

Das Gesellschaftsbild macht keinen Unterschied zwischen Klassen, Fraktionen, Schichten. Ob sie von fremdem Mehrwert, produktiver, unproduktiver Arbeit leben. Ob sie Hegemonie ausüben, dominieren, regieren, murren, machtlos sind: globales Monopolkapital, Industrie-, Finanz-, Handelsbourgeoisie, lokale Kompradorenbourgeoisie, mittlere Bourgeoisie, traditionelles und neues Kleinbürgertum, Intellektuelle, Bauern, Beamtinnen, die Masse lohnabhängiger Angestellter, Arbeiteraristokraten und Arbeiterinnen, Subproletariat.

Luc Friedens Gesellschaftsmodell scheint primitiv. Es ist kein soziologisches Raster. Es ist ein politisches Programm: Auf das scheinbar horizontale „Luxemburger Modell“ folgt ein vertikales Cappuccino-Modell. Die Regierung vertuscht die Klassenunterschiede nicht mehr. Sie festigt sie. Bis zur letzten Nacht im Cipa.

Romain Hilgert
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