Man kann die Jahre kaum noch zählen, in denen die katholische Kirche Deutschlands zum Thema Missbrauch laviert, Ausreden und Ausflüchte sucht, sich aus der Verantwortung stahl und stiehlt. Nahezu zwölf Jahre ist es her, dass etwa der Trierer Bischof Stephan Ackermann zum Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz ernannt wurde. Damals – Ende Februar 2010 – knüpften sich viele Hoffnungen, vor allen Dingen der Opfer, an diesen Schritt, endlich einen Ansprechpartner in der Institution Katholische Kirche gefunden zu haben, ein offenes Ohr für Schmerzen, Enttäuschungen, Verletzungen. Es waren letztendlich zwölf vertane Jahre, wie nun ein vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebenes Gutachten offenbart. Demnach wurden Fälle sexueller Gewalt in der Diözese über Jahrzehnte hinweg nicht angemessen behandelt. Im Fokus stehen dabei zwei ehemalige Erzbischöfe des Bistums: Joseph Ratzinger, der heute emeritierte Papst Benedikt XVI., und Friedrich Wetter. Ob dieses Gutachtens prüft nun die Staatsanwaltschaft München mutmaßliches Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger in derzeit 42 Fällen. „Welche strafrechtlichen Normen verletzt wurden, ist noch Gegenstand der Prüfung“, erklärte Anne Leiding, Sprecherin der zuständigen Münchner Staatsanwaltschaft.
Dabei beschuldigt das Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) Ratzinger und Wetter konkret persönlichen Fehlverhaltens in mehreren Fällen. Auch dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird formales Fehlverhalten in mindestens zwei Fällen vorgeworfen. Die Gutachter sprechen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern, gehen gleichzeitig aber von einer deutlich größeren Dunkelziffer aus. Besonders brisant ist dabei die Rolle Ratzingers. Ihm wird vorgehalten, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Wahrheit gesagt hat. Dabei geht es etwa um den konkreten Fall einer Sitzung im Jahr 1980, in der beschlossen wurde, dass ein Geistlicher, der im Bistum Essen Jungen missbraucht hatte, nach Bayern versetzt werden soll. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Er gab an, nicht an dieser Sitzung teilgenommen zu haben. Dem widerspricht das Gutachten und führt ein Protokoll der Besprechung an, das die Teilnahme Ratzingers belegen soll, weil der Sitzungsbericht Dinge referiere, die nur Ratzinger habe wissen könne aus einem Gespräch mit dem damaligen Papst Johannes Paul II.
Es mag eine Petitesse sein. Ob Ratzinger nun an genau dieser Besprechung teilgenommen hat oder nicht. Doch seine Glaubwürdigkeit hat er verloren. Besonders schwer wiegt dies, da er einst Oberhaupt der katholischen Kirche war, als Stellvertreter Christi auf Erden galt und in Lehraussagen Unfehlbarkeit genoss. Es ist der hohe moralische und ethische Anspruch, der an das Amt und die Person geknüpft wird. Es geht um eine Frage des Glaubens. Oder des Zweifels und Zweifelns. Zusammengefasst in der Predigt eines Berliner Pfarrers: „Wem soll ich nun was noch glauben, wem kann ich noch glauben?“.
„Der Reputationsschaden für Benedikt ist groß, gerade weil er sich bisher stets als Kämpfer gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche gezeigt hatte“, sagte der katholische Theologe Daniel Bogner, Professor für Moraltheologie und Ethik an der Schweizer Universität Freiburg, dem Magazin Cicero. Manch anderer Kritiker des emeritierten Papstes geht weiter: Ratzinger wolle die Wahrheit nicht sehen, sondern leugne sie und versuche, alle Verantwortung von sich zu schieben, und dadurch brüskiere er die Opfer ein zweites Mal.
Die ersten Folgen aus dem Münchner Gutachten sind bereits spürbar: Die Termine für Kirchenaustritte sind etwa bei den Berliner Gerichten auf Monate hin ausgebucht. Gleiches gilt für Bonn. Und auch für Trier. Der Kirchenaustritt muss in Berlin entsprechend dem Kirchenaustrittsgesetz beim zuständigen Amtsgericht erklärt werden. Es wird eine Gebühr von 30 Euro erhoben. In Rheinland-Pfalz kann dies bei der zuständigen Gemeindeverwaltung geschehen. Eine Vorsprache beim Finanzamt, damit der Eintrag zur Kirchensteuer getilgt wird, ist jedoch nicht mehr erforderlich.
Entscheidend wird nun vor allen Dingen aber sein, welche Konsequenzen die katholische Kirche ziehen wird, ob sie weiterhin nur einzelne Personen zur Rechenschaft oder tiefergehende strukturelle Schlüsse daraus zieht. Forderungen werden laut, dass sich die deutsche Justiz der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche annehmen solle, da die Institutionen der Kirche bislang darin versagten. Die Selbstheilung des Katholizismus wird ein langer, schmerzhafter Prozess werden, der an den Strukturen der Kirche rütteln wird. Es ist dabei durchaus möglich, dass es zu einer weiteren Reformation, einem Schisma oder eine Abspaltung kommen wird. Dies hängt insbesondere davon ab, inwieweit die derzeitigen Machthaber von ihrer Gewalt – in jedweder Bedeutung des Wortes – lassen können.
Ein Fürsprecher findet Benedikt XVI. in Kardinal Gerhard Ludwig Müller, emeritierter Bischof von Regensburg. Er habe zwar das Gutachten nicht gelesen, so Müller gegenüber der italienischen Zeitung Corriere della Sera, „aber für mich ist klar, dass er als Erzbischof Ratzinger nicht wissentlich etwas falsch gemacht hat.“ Es werde ohnehin mehr über Ratzinger gesprochen als über die Priester, die Verbrechen begangen haben. „In Deutschland und nicht nur dort, ist man daran interessiert, Joseph Ratzinger zu schaden“, so Müller. Ratzinger vertrete eine orthodoxe Position, aber in Deutschland gebe es viele, die auf eine abweichende Position drängten, wie die Abschaffung des Zölibats oder Frauenpriesterschaft. Diese progressive Linie sei störend. Und schließlich gelte es auch den Mantel der Barmherzigkeit über die Geschichte zu legen: „Niemand wusste, was zu tun war, wie man angemessen reagieren sollte, in der Kirche wie in der Zivilgesellschaft“, führte Müller aus..