„Fun um Glacis“ statt Schueberfouer, heißt es in diesem Jahr, in dem für die Schausteller alles anders läuft als sonst. Auch schlechter?

Fahren bis zum Magendurchbruch

d'Lëtzebuerger Land vom 27.08.2021

„So Leute, könnt ihr noch? Na komm, einer geht noch, einer dreht noch.“ Mit gemütlichem Tempo 85 Meter in die Höhe und dann rasant im freien Fall dem Boden entgegen. So sieht eine Fahrt auf dem Hangover aus. Der Turm hat eine rotierende Gondel, die mit 100 Kilometern pro Stunde rast. Zuerst fahren die Besucher bis auf etwa die Hälfte des Turmes hoch, also etwa 40 Meter, und nochmals runter. Ganz oben angekommen, ist der Ausblick auf Luxemburg, im wahrsten Sinne des Wortes, atemberaubend. Einmal eine 360 Grad-Runde drehen und Achtung: Es klickt, das Herz rutscht den Mitfahrern in die Hose, was man vermuten muss, als diese sich die Seele aus dem Leib schreien, während die Bahn in die Tiefe stürzt. „Wir fahren so lange, bis ihr mir zeigt, was ihr gegessen habt“, kündigt der Moderator gutgelaunt durchs Mikrofon an. Besucher, die bei ihrem Spaziergang über das Glacisfeld beim Hangover stehen bleiben und sich für Boden statt Luft entscheiden, haben den Kopf in den Nacken gelegt und harren aus, minutenlang, die Hände vor das Gesicht haltend und mit hoher Wahrscheinlichkeit froh darüber, nicht da oben mit den Füßen im Himmel zu zappeln und die Ansagen aus der Sprecherkabine ertragen zu müssen: „Haltet schon mal euren Organspendeausweis bereit.“ Oder: „Hoffen wir mal, dass dieses Mal die Schrauben robuster sind als die von letzter Woche.“ Oder: „Ich hab einen Tag bei Schlecker gearbeitet, dann ging der Betrieb Pleite, mal sehen, wie lange ich hier arbeite.“ Oder: „Leute, wenn was schiefgeht, bin ich der erste, der hier weg ist, nur, dass ihr Bescheid wisst.“ Countdown. Fünf, vier, drei, zwei, eins, aus den Lautsprechern wummst es, vom Turm fliegen Haare in die Tiefe. „Ich hab nen Hangover, ohoho“, singt der Moderator, schönen Abend noch, tschüss, bis zum nächsten Mal. Patrick Prantl ist 19 Jahre und Rekommandeur. Er, der schlanke, fast zierlich wirkende Junge, sitzt hinten auf der Hebebühne hinter einer Glasscheibe, den Blick auf den Turm gerichtet. Er steuert die Fahrten, er belustigt die Leute, er redet mit ihnen, das war schon immer sein Kindheitstraum. An so einer großen Maschine sitzen und die Leute bespaßen. Wer rekommandiert, drückt nicht einfach nur Knöpfchen und klopft ein paar Sprüche. Für Prantl ist es wie eine Droge, sagt er im fränkischem Akzent. Mit 16 fing er in seiner Heimatstadt Nürnberg das Sprechen an. Eigentlich wollte er Bürokaufmann werden, nach seinem qualifizierten Hauptschulabschluss die Realschule nachholen. Aber dann kam das Angebot vom Hangover, nun ist er festangestellt und das erste Mal in Luxemburg. „Ich sehe nach der Fahrt, wie die Leue lachend rauskommen, ich sie für fünf Minuten mal aus ihrem Alltag herausgeholt habe, das macht mich mega happy.“ Im Coronajahr hat ihm all das gefehlt. Jetzt ist er froh, wieder draußen zu sein. Zwei mal am Tag fährt er selber den Turm hoch, obwohl er Höhenangst hat. Mit der Zeit, glaubt er, vergeht die.

Nach einem Jahr Coronapause gibt es wieder Spaß auf dem Glacis, „Fun um Glacis“ heißt die Kirmes, die seit Samstag das Viertel mit Leben füllt – auch wenn es keine richtige Schueberfouer ist. Das Glacisfeld ist in zwei getrennte Bereiche unterteilt: In Zone A herrscht volle Fahrt auf den Spielen, in Zone B stehen die Essensbuden. In Zone A herrscht Maskenpflicht, in Zone B gilt das Covidcheck-Prinzip. Die Zahl der Fahrgeschäfte und Stände wurde auf 41 reduziert. So soll das Gedränge reduziert und die Ausbreitung des Coronavirus erschwert werden. Wer den Eingang „ohne Zertifikat“ nehmen muss, findet sich unter einem weißen „Covidzelt“ wieder. Bis zu 48 Leute sitzen hier auf Holzbänken wie unter einem Bierzelt nebeneinander, nur, dass sie sich keine Gläser zuprosten, sondern Schnelltests posten. Einige Menschen mussten das Gelände nach 15 Minuten wieder verlassen, weil ihr Coronatest positiv ausgefallen ist. Das Gesundheitsamt weiß das nach wenigen Sekunden, weil sich die Kranken mit ihrem Handy über einen QR-Code registrieren müssen, der auf den Tischen klebt.

Trotz der verschärften Hygieneregeln kommen die Menschen. Spaß und Unbeschwertheit liefen monatelang auf Sparflamme, nun stehen die ersten Kunden bei Vincent Holzeimer am Stand, ein Mittwochmorgen um 11 Uhr. Seit 60 Jahren ist die „Maison Stany“ mit Nugat, Schokolade und Nüssen auf der Schueberfouer. Das letzte Jahr lief, wen wundert’s, „sehr schlecht“ für den Belgier. Seit Weihnachten 2019 habe er auf keiner Kirmes mehr gestanden, die staatlichen Hilfen haben nur die Kosten für die Versicherungen decken können, seine beiden Wohnwagen musste er verkaufen, um irgendwie über die Runden zu kommen. In den Geschäften rund um Arlon hat er seine Säckchen mit gebrannten Mandeln und Schokoladen-Marshmellows anzubieten versucht, „aber das lief nicht, die Leute kaufen diese Sachen traditionell nur auf der Kirmes, nicht im Alltag“, erklärt er. Teurer sei auch alles geworden. Seine Mandeln bezieht er aus Spanien, 13,50 Euro das Kilo. In diesem Jahr liege der Preis bei 20 Euro. Holzeimer könnte auf Nüsse aus Amerika ausweichen, die sind billiger, „aber qualitativ schlechter. Ich will meine Luxemburger Kunden nicht vergraulen.“ Seine Preise hat er auch deshalb nicht angehoben, 150 Gramm kosten bei ihm sechs Euro. Vincent Holzeimer ist sichtlich froh, dass jetzt alles wieder losgeht und auch gar nicht traurig darüber, dass um 23 Uhr Schluss ist. Weniger Besoffene.

Ute Bruch hat Tränen in den Augen, als sie von den vergangenen Monaten erzählt. Mit ihrem Mann Harry betreibt sie die Schwarzwald-Mühle. Die Düsseldorferin verwöhnt ihre Gäste mit Schwarzwälder Schinkenbrot, Spießbraten, Holzfällersteak, Backfisch, Reibekuchen und Würstchen vom Holzkohlegrill. Schwarzwälder Bergteufel zur Verdauung. Bis auf ein paar Pop-Up-Events in Deutschland begann das zweite Coronajahr nur schleppend. „Wir mussten unsere gesamten Reserven aufbrauchen, die wir uns für das Alter zurückgelegt hatten,“ sagt Bruch und fährt sich mit dem Finger unter das Augenlid. „Das geht mir jetzt noch nahe.“ Ute Bruch hat wenig Zeit, eilig läuft sie zwischen Ausschank und privater Sitzecke hin und her, immer wieder klingelt das Telefon. „Unterhalten Sie sich ruhig mit dem Herrn, der hat auch viel zu erzählen“, sagt Ute Bruch und zeigt auf den Mann, der mit einer Tasse Kaffee in der Hand das geschäftige Treiben der Schwarzwald-Mädchen verfolgt. Roger Pelzer war 35 Jahre Vorsitzender der Vereinigung der Schausteller der Schobermesse, das Wohl seiner ehemaligen Schaustellerkollegen liegt ihm immer noch am Herzen. „Hoffentlich ist der Zirkus bald vorbei“, sagt der Wahlluxemburger, der als junger Mann aus Aachen ins Großherzogtum kam. Die 10000 Euro, die er 2020 vom luxemburgischen Staat bekommen habe, hätten „soviel Papierkram“ erfordert, dass er es für 2021 ganz sein gelassen habe. „Nicht mal Urlaub oder Geschenke für die Enkelkinder waren drin“, sagt er. Pelzer wird nicht müde, seinen Ärger kundzutun. Im letzten Jahr habe er seinen gesamten Glühwein wegschütten müssen, als die Absage für den Weihnachtsmarkt kam. Mehrere Zehntausend Euro, wie er sagt. „Selbstgemachter Glühwein ist nur wenige Monate haltbar und die leeren Einwegkanister musste ich auch noch entsorgen.“ Pelzer selbst hat kein Karussell mehr, sein letztes hat er im Jahr 2010 an seine Tochter Cheryl weitergegeben. Die steht in Zone A mit ihrem „Panamericana“. „Das einzig logische, was sie machen kann“, sagt Pelzer, der von der Initiative „Kiermes am Duerf“ nicht so viel halten will. Sein Fahrgeschäft habe ihn damals eine halbe Million Euro gekostet, „die Hilfen reichen nicht, um das Geld wieder rein zu kriegen“, findet er.

Luxemburgische Schausteller können seit Mitte Juli und noch bis zum 12. September ihre Imbissstände und Karussells im Zentrum und anderen Stadtvierteln aufstellen. Das Karussellfahren ist gratis, dafür bekommen die Schausteller eine Entschädigung von der Gemeinde Luxemburg für diese acht Wochen: 5 000 Euro für Jahrmarktspiele wie Entenangeln, 20 000 Euro für kleine und 40 000 Euro für große Karusselle. Beim Entenangeln werden zusätzlich aber Tickets verkauft. Neu in diesem Jahr ist, dass auch Essensbuden eine Entschädigung bekommen, die je nach Standort zwischen 5000 und 10 000 Euro liegen kann. Insgesamt gibt die Gemeinde Luxemburg den Sommer über etwa drei Millionen Euro aus. Seit der Coronakrise haben sich die rund 45 Schaustellerfamilien aus Luxemburg um staatliche Hilfen beworben. Auf Anfrage heißt es aus dem Wirtschaftsministerium, dass im Zusammenhang mit den Covid-19-Beihilfen zwischen vergangenen und aktuellen Hilfen unterschieden werden müsse. Ab März 2020 habe es zunächst zwei Soforthilfen in Höhe von jeweils 5000 Euro (respektive 12 500 Euro bei der zweiten Hilfe) gegeben. 44 Schausteller hatten sich beworben, 38 sind ausbezahlt worden. Die aktuellen Hilfen sind unterteilt in Coûts non couverts und Aide de relance – sie müssen jeden Monat neu beantragt werden: Von November 2020 bis zum heutigen Tag (Donnerstag, 26. August) wurden laut Ministerium insgesamt 315 Anträge von 43 verschiedenen Schaustellern beantragt. 240 Anträge sind bisher ausbezahlt worden. Abgelehnt werden Bewerbungen, wenn die Schausteller keinen Verlust von mehr als 40 Prozent zum Vorjahr aufweisen konnten. Die Höhe der Hilfe wird durch die Anzahl der Mitarbeiter sowie den erwirtschafteten Jahresumsatz von 2019 ermittelt. Es könne nur ein Antrag für eine der beiden Hilfen gestellt werden: Für Schausteller, die in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, sei der Antrag auf die kostendeckenden Hilfen interessant. Wer lediglich eine Art Starthilfe benötigt, könne auf die aide de relance zurückgreifen. Einige Anträge sind noch in Bearbeitung oder wurden zur Korrektur an die Schausteller zurückgesandt, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Die gute Nachricht: Unlängst wurde entschieden, diese Hilfen bis Oktober zu verlängern.

Für Charles Hary, dem aktuellen Vertreter der Schausteller-Vereinigung „Fédération nationale des commerçants forains“ (FNCF), kommen die Hilfen genau richtig. „Keine Schaustellerfamilie ist wie die andere, deshalb muss die finanzielle Unterstützung angepasst werden“, sagt er. Er zeigt sich froh darüber, dass das Leben langsam wieder Fahrt aufnimmt und die Volksfeste wieder öffnen. Das sei ohne die Hilfen schwer bis gar nicht möglich gewesen. Insgesamt sieht Hary die Schausteller auf einem guten Weg. Und trotzdem: „Nichts ersetzt die Schobermesse“, sagt er. In dieser Zeit machen die Schausteller den größten Umsatz.

Cheryl Kalk-Pelzer, die Tochter von Roger, ist einfach nur froh, endlich wieder draußen zu sein und glückliche Kinder in ihrer „Panamericana“ zu sehen. Die längste Straße der Welt führt auf dem Glacis über zwei Etagen, ein Sechsjähriger jubelt, als er den Petzie in der Luft greift – für ihn gibt es eine Freifahrt. Die 33-Jährige Karussellbesitzerin hat zwar Marketing studiert, aber nie in dem Beruf gearbeitet. „Ich will auf der Kiermes bleiben, das ist mein Leben“, sagt die Tochter einer luxemburgischen Schaustellerin, die damals nach der Geburt in einem Wohnwagen aufwachte und jetzt mit ihrem Ehemann die Familientradition weiterführt. Für sie ging es in diesem Jahr zum erstem Mal an Pfingsten in Esch raus, „gut lief es“, sagt sie. „Sehr gut sogar, die Leute waren auf Entzug.“ Wie alle anderen Schausteller auf dem Glacisfeld bekommt auch sie einen Zuschuss von der Stadt; dafür, dass sie hier steht. 1 500 Euro für kleine Karussells wie das ihre, die großen Spiele bekommen 25 000 Euro. Die Unkosten fallen in diesem Jahr auch weg. Strom-, Stand- und Wassergebühren übernehmen die Stadt Luxemburg. Zusätzlich kann Kalk-Pelzer auf die aktuelle staatliche Hilfe zurückgreifen, die sie jeden Monat beantragt. „Das ist zwar viel Papierkram, aber dafür habe ich gerade 1 250 Euro für mich und 250 Euro für meinen Mitarbeiter, der in Kurzarbeit ist.“ Durch das Hygienekonzept der Stadt hat sie jetzt einen Kescher, mit dem sie die Eintrittschips einsammelt und die dann ein Desinfizierungsbad in einem Eimer nehmen, bevor sie wieder ausgeteilt werden. Die Kinder müssen vor Fahrtantritt die Hände desinfizieren und einen separaten Ein- und Ausgang gibt es jetzt auch. „Die können hier nicht mehr alle auf das Karussell stürmen wie früher“, sagt Kalk-Pelzer.

Das fällt auch in Bonnevoie auf. Beim Autoscooter auf der Place Jeanne d’Arc ist reger Betrieb. Ein Dutzend Heranwachsender steht in der Schlange und wartet auf Einlass. Die junge Französin hakt die Kette aus, einer nach dem anderen darf auf die Bahn. Ein paar Minuten später ist der Spaß vorbei und ausnahmslos jeder stellt sich wieder in die Reihe. Der Alltag der Karussellbetreiberin ist in diesen Tagen der „Kiermes am Duerf“ von Monotonie bestimmt. Desinfektionsflasche in die eine, Lappen in die andere Hand, den Autoscooter abwischen. Jeden einzelnen. Nach jeder Fahrt. Von 11 Uhr bis 20 Uhr. Mit ernster Miene tut sie, was zu tun ist. Manchmal sagt sie „Zieh deine Maske auf“, „bleib sitzen“ oder „es ist verboten, rückwärts zu fahren“ ins Mikrofon. Auf dem Platz stehen noch zwei Imbissbuden und zwei kleine Kinderkarusselle. Vor dem einen steht ein Mittdreißiger, Piercing in der rechten Augenbraue, rotunterlaufene Augen, Zigarette im Mund. Er hilft hier nur aus, sagt er. Das Spiel gehöre einem Kumpel. Eigentlich ist er Strumpfverkäufer auf dem Monatsmarkt im Norden, aber eine Hand wäscht eben die andere. Auf der Schueber sei natürlich mehr los als hier, wo die Kinder nicht mal mehr grüßen, weil alles kostenlos ist, „aber man kriegt nicht alles, was man sich wünscht“. Ganze Nachmittage verbringen die immergleichen Kinder hier. „Ich habe noch niemals deren Eltern gesehen.“ Die, die manchmal doch kommen, sitzen hinter der Bude und trinken ein Bier. Nächste Runde. „Attention au départ!“

Franziska Jäger
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