Auf seiner Europatournee 2022 und 2023 präsentiert Jewgeni Kissin ein Konzertprogramm, das die Evolution der Klaviermusik von Bach über Mozart und Beethoven hin zu Chopin zeigt. Es sind große Klassiker, ein Kissin wohlbekanntes Repertoire, welches einer der berühmtesten Pianisten seiner Generation im Großen Saal der Luxemburger Philharmonie spielt. Die Tournee ist seiner im Juli 2021 im Alter von 98 Jahren verstorbenen Lehrerin Anna Pawlowna Kantor gewidmet, seiner ersten und einzigen Klavierlehrerin, die ihn seit seinem Eintritt in die Moskauer Gnessin-Musikschule ein Leben lang begleitete und sogar zusammen mit seiner Familie lebte.
Das Konzert beginnt mit der weltberühmten, vielfach zitierten Toccata und Fuge d-Moll von Johann Sebastian Bach in einer Adaption von Carl Tausig, einem Schüler von Franz Liszt. Diese Transkription des Orgelstücks ist weniger bekannt als Busonis Fassung für Klavier oder Stokowskis Version für Orchester. Doch erinnert sie uns an die Wiederentdeckung und Bachs durch die Spätromantiker und ihre Bewunderung von Bachs Fantasie. Bereits in den rhetorisch wirkenden Anfangstakten entfaltet sich der volle Klang des Stücks durch Kissins technische Meisterschaft. Das Programm wird mit einem sehr symmetrischen und melancholischen Mozartstück, dem Adagio h-Moll, fortgeführt, das zwar auch präzise gespielt wird, doch wie auch bei der Toccata etwas einseitig; man vermisst eine gewisse Leichtigkeit, die mit hervorragendem Klavierspielen einhergeht. Der erste Teil des Abends endet mit Ludwig van Beethovens Sonate für Klavier Nr. 31 As-Dur, einem anspruchsvollen, aber auch sehr klassischem Stück. Die formelle, nach einem präzisen Modulationsplan komponierte Sonate wird fehlerfrei, dennoch weder risikofreudig noch bahnbrechend dargeboten, was allenfalls zum Charakter der Musik passend sein mag.
Der zweite Teil des Abends kündigt sich nuancierter an. Mit Chopins Mazurkas, einem Repertoire, das Kissin seit seinem Kindesalter beherrscht, entwickelt sich die ganze Klangfülle des Abends. Gewiss ist der heitere Charakter der Mazurkas deren Wurzeln verpflichtet, die in der Tanzmusik zu finden sind. Doch zeigt Kissin das nötige Engagement für ihre ganz bestimmte Art der Nostalgie, eine Nostalgie, die damals wie heute mit Politischem geladen ist.
Im grandiosen Finale mit der Grande Polonaise brillante précédée d’un andante spianato demonstriert Kissin sein ganzes Können, seine Virtuosität und Geläufigkeit in einer wahrlich fesselnden Darbietung. Es folgen zwei emblematische Zugaben: Von Bach eine dramatische Chorale Prelude „Nun kommt der Heiden Heiland“, arrangiert von Busoni, und das schon fast obligatorische Rondo in D-Dur von Mozart, welches wiederum die Meisterschaft Kissins verdeutlicht.
Der Aufbau des an ein breites Publikum gerichteten Konzerts folgt einer klaren und chronologischer Logik. Jedoch wird der etwas schleppende erster Teil des Abends der Virtuosität des Pianisten nicht optimal gerecht.
Der 1971 in Moskau geborene Kissin begann bereits im Alter von sechs Jahren seine Ausbildung bei Anna Pawlowna Kantor an der Gnessin-Musikschule. Er galt als Wunderkind und spielte bereits mit zehn als Solist in Mozarts Klavierkonzert KV 466. Es folgt ein rasanter internationaler Aufstieg mit einem Konzert mit den Berliner Philarmonikern unter Herbert von Karajan 1988 und einem Publikumsrekord bei seinem Soloabend bei den BBC Proms in London 1990. Der mehrfach ausgezeichnete Pianist gilt als Vorzeigeexemplar der sowjetischen Schule. Wie kein zweiter russischer Pianist trat er aus dem Schatten solcher Titanen wie Wladimir Horowitz und Swjatoslaw Richter hervor; nicht zuletzt dank seiner Lehrerin Kantor, die ihn sowohl eiserne sowjetische Disziplin als auch die altrussische Klavierschule lehrte.
Doch steht der mittlerweile 50-Jährige seit längerer Zeit vor einem „Wunderkind-Problem“: Welchen Erwartungen unterliegt jemand, der bereits im Alter von zwölf meisterhaft Chopin gespielt hat, fast 40 Jahre später? Kann das „Wunderkind“ erwachsen überhaupt besser werden, oder geht es mit dem Alter womöglich in die entgegengesetzte Richtung? Sein klassisches und präzises Repertoire beherrscht Kissin technisch perfekt, doch verlangt eine technische Perfektion auch ein starkes Alleinstellungsmerkmal, eines, das ein junger Künstler mit seinem frischen Blick auf die Welt vielleicht eher bieten kann. Dennoch scheint auch der erwachsene Kissin immer noch begeistern zu können, vielleicht nicht auf ganzer Linie, dennoch in Glanzmomenten wie diesmal mit Chopins Grande Polonaise brillante und Mozarts Rondo, bei denen er wohl seinen Anfängen nachspürt.