In diesen unvorhersehbaren Zeiten ist der ehemalige Diplomat und Handelskammerdirektor Pierre Gramegna der richtige Mann im richtigen Amt. Er erwarb seine Parteikarte erst, als er Finanzminister wurde. Er trägt die flinke Anpassungsfähigkeit und die zum Prinzip erhobene Prinzipienlosigkeit im Herzen, die seit jeher den echten Liberalen auszeichnen. Diese Fähigkeiten wurden gebraucht, um eine kopernikanische Wende der Staatsfinanzen und 258 Sanierungsmaßnahmen auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen und dann eine Mindestlohnerhöhung als „Investition in den sozialen Zusammenhalt, die Kaufkraft und damit die Lebensqualität“ zu loben (5.3.2019). Diese Fähigkeiten werden im Augenblick mehr gebraucht denn je.
Denn die blaurotgrüne Finanzpolitik ruhte auf zwei Säulen: ein struktureller Überschuss des Gesamtstaats von +0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und eine Staatsschuld unter 30 Prozent des BIP. Die Auflagen der Maastrichter Austeritätspolitik heroisch überzuerfüllen, hatte Pierre Gramegna mit der „impliziten Staatsschuld“ der Sozialversicherung und der Notwendigkeit erklärt, bei US-amerikanischen Rating-Firmen Triple-A-Noten zu kaufen.
Bis der Finanzminister im April 2016 die erste Säule der blaurotgrünen Finanzpolitik umstieß und dem Parlament erklärte, dass „Luxemburg ein neues mittelfristiges Ziel“, ein Defizit von
–0,5 Prozent beschlossen habe. Implizite Staatsschuld, Triple A: alles Humbug! Vergangene Woche riss er die zweite Säule nieder: In seiner Haushaltsrede hielt er mehr als 30 Prozent Staatsschuld für „eng besser Perspektiv wéi déi, vun engem ideologeschen Austeritéitsprogramm“. Damit meinte er wohl seinen rasch der Vergangenheit überantworteten Zukunftspak.
In Krisenzeiten erfinden Luxemburger Regierungen ihre Finanzpolitik nicht selbst. Sie ahmen vielmehr das deutsche Vorbild nach, das in der Europäischen Union sowieso Gesetz ist. So hatten sie 2008 fast drei Milliarden Euro in die Banque internationale und die Banque générale gepumpt und versucht, das Geld umgehend der Massenkaufkraft zu entziehen. Europaweit stürzte diese Art Austeritätspolitik die Wirtschaft gleich in eine zweite Rezession.
Nach dem Ausbruch der Corona-Seuche verteilte die Regierung nach deutschem Vorbild großzügig Milliarden an die Unternehmen und ihre Arbeitskräfte. Andere Staaten folgten und die Europäische Union erlaubte prompt, was sie Griechenland nie gestattet hatte: die Aktivierung der „general escape clause“ im Stabilitätspakt. Bei einem Staatshaushalt von 18 Milliarden Euro zahlten oder versprachen DP, LSAP und Grüne dieses Jahr elf Milliarden Euro für Kurzarbeit, Urlaub aus familiären Gründen, Zuschüsse und Bürgschaften für die Betriebe. Um kurzfristig das Geld zu beschaffen, hatte der Staat im Frühjahr 2,5 Milliarden Euro geliehen.
Der Staatshaushalt für nächstes Jahr muss also die Frage beantworten: Wer wird die Kosten der Corona-Seuche tragen? Der soeben hinterlegte Budgetentwurf sieht keine drastischen Etatkürzungen oder Steuererhöhungen vor. Er plant einen strukturellen Saldo von –1,7 Prozent und einen Anstieg der Staatsschuld bis 2024 auf 32,9 Prozent des BIP. Die Antwort lautet also: Es ist noch nicht entschieden. Es war abzusehen, dass Kampf um die Schuldentilgung aufgeschoben ist, denn die Seuche ist noch nicht vorüber.
Danach wird sich zeigen, welche soziale Klasse ihre Interessen durchsetzen kann, welche Unternehmerlobbys, Gewerkschaften und Parteien am einflussreichsten sein werden, vielleicht auch, wie nah die nächsten Wahlen gerückt sein werden. Gewinnen die einen, wird der Finanzminister meinen, dass die Hälfte der im Stabilitätspakt erlaubten Staatsschuld dank Negativzinsen und etwas Inflation nicht der Rede wert sein wird. Gewinnen die anderen, wird er bedauern, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die implizite Staatsschuld Steuererhöhungen und Kürzungen der Sozialausgaben unumgänglich machen.