Zu den Errungenschaften des 20. Jahrhunderts gehören die Fortschritte in der Gleichstellung von Frauen und Männern. Die Männer reagieren unterschiedlich auf ihren Machtverlust: Die einen fürchten um ihre Männlichkeit und lassen sich Holzfällerbärte wachsen, die anderen trauern ihrer Männlichkeit nach und weinen.
Politikerinnen können sich keine sentimentalen Blößen leisten. Ihnen wird sonst vorgeworfen, dem harten Politikgeschäft nicht gewachsen zu sein. Dafür lassen sich ihre männlichen Kollegen neuerdings von Schwermut übermannen und brechen öffentlich in Tränen aus.
Nachdem der grüne Staatssekretär Camille Gira am 16. Mai 2018 einen tödlichen Herzinfarkt auf der Parlamentstribüne erlitten hatte, kämpfte Minister François Bausch im Fernsehinterview mit den Tränen: Weil sie „politesch zesumme gestridden hunn, gekämpft hunn…, mee mir ware perséinlech immens gutt Frënn…“.
Als am 21. Januar 2020 die Nachricht vom Tod von DP-Fraktionssprecher Eugène Berger das Parlament in laufender Sitzung erreichte, kündigte Sitzungspräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) weinerlich an: „Kolleegen, ech sinn… Kolleegen, ech muss Iech…“ Nach einer Sitzungsunterbrechung begann Kammerpräsident Fernand Etgen (DP) zu weinen, weil „hu mer… déi traureg Nouvelle kritt…“
Am Ende der Debatte über das Euthanasiegesetz schluchzte CSV-Premier Jean-Claude Juncker am 18. Dezember 2008 auf der Parlamentstribüne, als er erzählte: „Ech gehéieren zu deenen ongléckleche Mënschen hei am Land, déi keng Kanner hunn. Et sinn der nach heibannen. Ech gehéieren zu deenen, déi mengen, si géifen hire Partner iwwerliewen. […] Da sinn ech eleng. Ganz eleng, ouni iergendeen!“
Als die CSV 2013 die Wahlen verloren hatte, legte Parteipräsident Michel Wolter auf dem Kongress vom 8. Februar 2014 sein Amt nieder. Der Politikersohn erzählte zu Tränen gerührt von seiner Laufbahn als Berufspolitiker, dann spielte er zum Abschied Akkordeon.
2018 hatte die CSV erneut die Wahlen verloren. Wolters Nachfolger Marc Spautz musste auf dem Parteitag vom 26. Januar 2019 zurücktreten. Er zählte den Delegierten die persönlichen Opfer auf, die er als Parteipräsident, Ehemann und Vater gebracht hatte, und musste beim Verlassen der Rednertribüne weinen.
Nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo nahm Premier Xavier Bettel (DP) am 8. Januar 2015 an einer Kundgebung auf der Place Clairefontaine teil. Weil so viele Leute zur Verteidigung von „Wäerter wéi Demokratie a Pressefräiheet“ erschienen waren, musste er weinen: „Dann ass een houfereg …, Premier vun esou engem Land ze sinn…“
Manche hegen den Verdacht, dass die Rührseligkeit von Politikern berechnende Schauspielkunst ist. Nichts ist falscher. Sie ist Ausdruck eines aufrichtigen Gefühls: des Selbstmitleids. Weinende Politiker tun sich leid, weil der Tod eines Kollegen ihre Überzeugung bekräftigt, wie aufreibend und gefährlich ihre eigene Existenz als Berufspolitiker ist. Sie tun sich leid, weil sie sich einsam auf dem eisigen Gipfel der Macht fühlen, ohne Freunde, ohne Ehefrau, ohne Kinder. Sie weinen über den ungerechten Verlust dieses oder jenes Amtes nach all den persönlichen Opfern zum Wohle der Partei und der Nation. Sie tun sich leid, weil ein Anschlag im fernen Paris ihrer eigenen liberalen Politik und deren Werten von religiöser und sexueller Toleranz gilt.
Das Handwerk der stellvertretenden Demokratie hat eine solche Fingerfertigkeit hervorgebracht, dass
die Volksvertreter wie andere Bestrebungen, Affekte und Emotionen auch das Leid vereinnahmen. Sie leiten es aus der Gesellschaft um in das Parlament und destillieren es zu Selbstmitleid. Ihr Selbstmitleid wird zur Fortsetzung der Selbstzufriedenheit mit anderen Mitteln.