Drei Jahre nach dem Aufschrei über Missstände in Altersheimen will die Copas einen Verhaltenskodex einführen. Absichtserklärungen reichen aber nicht, um den Schutz der Bewohner zu verbessern

Recht auf Risiko

d'Lëtzebuerger Land vom 13.06.2014

Von „nicht menschenwürdigen Zuständen“, unterlassener Hilfeleistung und überfordertem Personal schrieb das Tageblatt über Missstände in verschiedenen Luxemburger Altersheimen. Das war 2011. Seitdem ist von Übergriffen, schlechten Arbeitsbedingungen oder Patientenklagen im Alten- und Pflegesektor so gut wie nichts mehr zu hören.

„Die Situation hat sich gebessert“, ist Krankenschwester Jacqueline Becker aus der Abteilung für Senioren im Familienministerium überzeugt. Die rund 50 Alten- und Pflegeheime würden jedes Jahr mindestens ein Mal kontrolliert, so wie es das Gesetz vorschreibt. Es gebe nur etwa zehn Beschwerden im Jahr. „Jeder einzelnen gehen wir nach“, verspricht Becker. Schwerwiegende Übergriffe seien in letzter Zeit keine gemeldet worden. Die Pflegeheime, die „länger dabei sind, sind konform“, nur bei den neuen gebe es „manchmal Kleinigkeiten“ zu beanstanden. Nur ein einziges Mal, „vor einigen Jahren“, hätten die Inspektoren, eine Medizinerin und ein technischer Beamte, größere Qualitätsmängel entdeckt, die auch nach der behördlichen Ermahnung nicht alle behoben wurden. Die Regel sei aber, dass Reklamationen immer binnen Frist erledigt würden, so Becker weiter.

Doch während die finanziellen Aufwendungen der Pflegeversicherung auch unter der neuen Regierung Topthema ist und sie wegen der Kostenentwicklung eine Erhöhung der Beitragssätze nicht ausschließen mag, existiert keine fundierte Untersuchung der Qualität der ambulanten und stationären Pflege von älteren Menschen. Einer Befragung des CRP Santé von 2012 zufolge zeigte sich eine Mehrheit der Heimbewohner zufrieden, 89 Prozent fühlten sich gut versorgt. Aber eine umfassende und unabhängige Evaluation der Situation von Pflegeheimbewohnern in Luxemburg gibt es bis heute nicht. Eine Sondierung der Lage durch die Menschenrechtskommission brachte auch nicht viel mehr Licht.

Die Heimkontrollen würden dokumentiert, die Ergebnisse mit den Trägern besprochen, versichert Jacqueline Becker. Gleichwohl sind die Berichte nicht öffentlich. Gerade einmal eine halbe Seite im Jahresbericht des Familienministeriums ist den Inspektionen im Altenheimsektor gewidmet. Wie sie ausfallen, welche Verstöße die Inspektoren registrieren, die ihre Kontrollbesuche oft mit der Inspection de travail et des mines abstimmen, und vor allem welche Konsequenzen daraus erfolgen, erfährt der Leser nicht.

„Gut gemeinte Freiheitsberaubung“ Dabei waren es nicht nur Tageblatt-Leserinformationen, die aufhorchen ließen. 2010 erschien eine Untersuchung der Uni Luxemburg darüber, wie verbreitet freiheitsentziehende Maßnahmen in der Altenpflege sind. Das Ergebnis war erschreckend: Rund 56 Prozent der Pflegeheimbewohner waren demzufolge freiheitsentziehenden Maßnahmen ausgesetzt, und das, obwohl die Arbeitsbedingungen und der Personalschlüssel in Luxemburger Heimen deutlich besser sind als in den Nachbarländern. Die Maßnahmen des pflegerischen Personals reichen vom Ans-Bett-Gurten, über Wegsperren und isolierte Unterbringung bis hin zum GPS, um rastlose Demenzkranke besser zu beaufsichtigen. 42 Prozent waren in geschlossenen Bereichen untergebracht. „Diese Situation ist rechtlich wie menschlich nicht haltbar“, mahnt Autor Wolfgang Billen, der die Ergebnisse seiner 2009 durchgeführten Befragung im jüngst im Springer-Verlag erschienenen Buch Macht und Missbrauch in Institutionen aufgreift.

„Seit ich vor 20 Jahren in der Altenpflege in Luxemburg angefangen habe, hat sich vieles verbessert. Früher war es viel schlimmer“, meint Billen im Gespräch mit dem Land. Besonders das fehlende Unrechtsbewusstsein vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die Folgen des Freiheitsentzug fiel ihm damals auf: „Für viele Pflegekräfte ist das Festbinden am Bett keine freiheitsentziehende Maßnahme, weil für sie als Motiv der pflegerische Aspekt und der Schutz des Patienten vor Stürzen oder Unfällen im Vordergrund stehen“, sagt Billen, der heute Pflegedirektor im Pflegeheim „Op Lamp“ in Wasserbillig ist.

Was der Freiheitsentzug für den einzelnen Menschen bedeute und „welche Ängsten ausgelöst und Schäden damit verbunden sind, wird nicht reflektiert“, warnt Billen. So kann ein Bettgitter, ursprünglich angebracht und hochgeklappt, um den Bewohner vorm Stürzen zu schützen, Beklemmung und Angstzustände auslösen. Überdies kann die Gesundheitsgefahr für den Bewohner steigen, wenn nämlich der (oder die) die Absperrung zu überwinden versucht oder sich am Gurt verletzt.

Heutzutage würden freiheitsentziehende Maßnahmen seltener eingesetzt, auch weil eine „andere Generation von Leitungskräften“ in den Häusern arbeite, die diese Fragen ernstnähmen, ist sich Billen sicher. Mehr Mitarbeiter würden geschult, Alternativen für die „gut gemeinte Freiheitsberaubung“ zu finden. So bieten Heime Neuankömmlingen eine Eingewöhnungszeit an. „In den ersten Wochen ist die Gefahr von Stürzen höher, weil sich die Bewohner in der neuen Umgebung erst noch zurechtfinden müssen“, erklärt Billen. Gerade Demenzpatienten laufen gerne einmal fort. Daher würde in der Anfangszeit die Betreuung verstärkt, „auch wenn das personalintensiver ist“.

Tabu existiert weiter Mit seiner Bestandsaufnahme war Billen 2010 nicht ganz alleine. Etwa zeitgleich beteiligten sich Experten der Pflegeversicherung und des CRP Henri Tudor am europäischen Projekt Milcea zur Prävention von Gewalt und Übergriffen in Alters- und Pflegeheimen. In ihren Beobachtungen kamen die Autoren zum Schluss, dass das Thema Misshandlungen älterer Schutzbefohlener in Luxemburg „noch immer Tabu sei“. Ursache für das beharrliche Schweigen sei die Luxemburger Mentalität, „Familienangelegenheiten eher im familiären Kreis zu belassen“. Nicht zu vergessen, dass es auch gewalttätige Angehörige gibt. Das Projekt lief 2011 aus, Konsequenzen für die Pflege und die Heime hatte es keine. „Es war mir leider nicht gelungen, Alliierte in der Angelegenheit zu finden“, bedauert Andrée Kerger, beigeordnete Leiterin der Cellule d’évaluation et d’orientation de l’assurance dépendance auf Nachfrage des Land. Der Abschlussbericht attestierte Luxemburg fehlende Qualitätsstandards in der Pflege. Während in den übrigen Teilnehmerstaaten Deutschland, Irland, Spanien und den Niederlanden Vorschriften und Gesetze zur Inspektion der Pflegequalität bestehen, befinde sich die Diskussion darum in Luxemburg noch ganz am Anfang.

Seitdem sind mehr als drei Jahre vergangen, das Tabu Freiheitsberaubung, sowie Gewalt und Übergriffe in Pflegeheimen scheint gleichwohl nur langsam zu weichen. Obwohl rund 13 000 Senioren in Luxemburg professionelle Pflegedienste in Anspruch nehmen, wird die Qualität der Leistungen selten öffentlich hinterfragt. Medien berichten nur selten über Mängel – weil es keine (mehr) gibt? „Viele Angehörigen trauen sich nicht, Verstöße oder Übergriffe zu melden, weil sie Folgen für ihre Mütter oder Väter fürchten“, sagt Michèle Wennmacher, Psychologin und Mitarbeiterin der Patientevertriedung. Sie und ihre Kollegen sind überzeugt, dass es vernachlässigte oder gar misshandelte Heimbewohner nicht nur in Deutschland gibt, wo kürzlich wieder ein vom Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff geleitetes Journalistenteam mit heimlichen Filmaufnahmen erschreckende Zustände in deutschen Pflegeheimen aufgedeckt hat. In Großbritannien und in der Schweiz filmten Angehörige Pfleger heimlich dabei, wie sie Heimbewohner hänselten und schlugen, und gaben das Filmmaterial weiter an die Presse. Der öffentliche Aufschrei war riesig.

Fälle seien „hierzulande vielleicht nicht so gravierend, weil die Arbeitsbedingungen insgesamt besser sind“, meint Steve Ehmann von der Patientevertriedung. Aber auch in Luxemburger Heimen würden ältere Menschen mit Medikamenten ruhig gestellt oder im Rollstuhl abseits von anderen gehalten, weil Pfleger überlastet oder überfordert seien. „Wenn die Personaldecke dünn ist, etwa beim Nachtdienst oder am Wochenende“, sei die Gefahr von Übergriffen besonders groß. Und trotzdem: Im Jahr erhält die Patientevertriedung durchschnittlich lediglich „zwei bis drei Beschwerden“ zu Gewalt in Altersheimen. „Wäre das Problem stärker im Bewusstsein, wären es sicher mehr”, ist Leiterin Wennmacher überzeugt. Die „Angst vor Repressalien“ sei einfach zu groß.

Freiwillige Selbstverpflichtung Immerhin: Das Handlungsbedarf besteht, hat der Dachverband der Altersheimträger, die Confédération des organismes prestataires d'aides et de soins (Copas), erkannt. Gemeinsam mit den Trägern arbeitet die Copas seit Monaten an einem Verhaltenskodex für das pflegerische und medizinische Personal in Pflegeheimen. Einige Einrichtungen haben bereits eigene Pflegeleitbilder formuliert und umgesetzt. „Uns geht es darum, verbindliche Mindeststandards für alle zu formulieren“, erklärt Copas-Verwaltungsratspräsident Marc Fischbach den Hintergrund für die Initiative. Für den früheren Ombudsman und Ex-Justizminister war der Ethikkodex von Anfang an ein Anliegen. „Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst.“

Noch in diesem Monat will Marc Fischbach die Leitlinien der Presse vorstellen. Demzufolge verpflichten sich die Träger erstmals, nachvollziehbare Standards bei der Pflege, etwa beim Umgang mit den Patienten und ihren Angehörigen einzuhalten. Auch die Fortbildung des Personals und die Zusammenarbeit mit den Angehörigen würden im Leitfaden berücksichtigt, so Fischbach.

Doch reicht eine freiwillige Selbstverpflichtung der Träger aus, um alten Menschen in Pflegeheimen den nötigen Schutz vor Freiheitsentzug und Gewalt zu geben? Viele Heimbewohner sind fragil und hilfsbedürftig, einige dement. Das erschwert den Nachweis von Missständen zusätzlich, zumal nur weniger Häuser über Bewohnerräte verfügt, obwohl die Menschenrechtskommission deren Einrichtung empfiehlt. Das Land sprach mit einer Pflegekraft, die über Überstunden, Dauerstress und Personalmangel klagte. Stress und Überforderung zählen zu den Hauptursachen für Gewalt in der Pflege. Mit ihren Problemen an die Öffentlichkeit gehen, wollen aber die wenigsten, aus Angst ihren Job zu verlieren oder weil sie nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Viele Pflegerinnen und Pfleger pendeln täglich über die Grenze zur Arbeit. Die meisten Beschwerden, die beim Seniorentelefon eingehen, stammen von Bewohnern und ihren Angehörigen, 2013 meldete sich nur einmal ein Heimangestellter.

Papier ist geduldig Die Problematik der Alten- und Pflegeheimen erinnert ein wenig an die in den Kinderheimen. Nach kritischen Medienberichten hatten die Heimleiter selbst Leitlinien zum Umgang mit Heimkindern aufgestellt. Aber erst als die Ombudsfrau Lydie Err bei Kontrollen des staatlichen Kinderheims Dreiborn erhebliche Mängel feststellte, sowie einen geradezu nachlässigen Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen, wie das Wegsperren in Zimmern ohne WC zur Isolierung, machte sich der Gesetzgeber dran, die Rechte der Heimkinder zu regeln. Luxemburg hat seit 2009 zudem ein Gesetz, das den Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Psychiatrie regelt. Auch dies kam erst, nachdem die Presse wiederholt über menschenunwürdige Praktiken berichtet hatte. Andrée Kerger von der Pflegeversicherung verlangt daher eine gesetzliche Regelung, um den Schutz von Pflegeheimbewohner ebenfalls zu verbessern, „so wie das in anderen Ländern der Fall ist“.

Marc Fischbach dagegen steht einer gesetzlichen Regelung eher zurückhaltend gegenüber. Das habe mit seinem Amt als Verwaltungsratspräsident des Heimträgerdachverbands nichts zu tun, beteuert er. „Es wäre schon gut, wenn der Gesetzgeber klarer wäre, aber ein Gesetz ist nur so viel wert, wie auch seine Einhaltung kontrolliert wird“, betont der Copas-Präsident. Ein Gesetz setze klare Normen voraus. „Die Pflegewirklichkeit ist aber kompliziert und nuancierter“, sagt Fischbach. So stehe das Recht älterer Heimbewohner, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, oft dem (über)großen Bedürfnis vieler Angehörigen nach bestmöglicher Sicherheit und Schutz für (Groß-)Vater oder Mutter gegenüber.

„Die Entscheidung zwischen Freiheit oder Gefahr ist im Alltag immer ein Wagnis“, schildert Wolfgang Billen das Dilemma des Pflegepersonals. „Da wird von Angehörigen, von Pflegern, aber auch von den Leitungskräften oft der vermeintlich sichere Weg gewählt.“ Also die Rollstuhlbremse festgezurrt, damit der Bewohner nicht hinausfällt oder wegfährt, oder der Spaziergang eingeschränkt, weil das Risiko, sich zu verlaufen, als zu groß eingeschätzt und eine spätere Suche als zu aufwändig empfunden wird. Alte Menschen haben auch „ein Recht auf ein gewisses Risiko“, betont Billen. „Aber erklären Sie das einmal den Angehörigen!“ Gerade für die Heimleitungen seien solche Entscheidungen schwierig, sagt Marc Fischbach, denn sie „tragen am Ende die Verantwortung“.

Bei der Patientevertriedung hat man „nichts gegen ein Gesetz“, bevorzugt aber „Konkretes“: Ein „Meckerkasten“ könne helfen, um sich anonym zu beschweren. Noch wichtiger sei jedoch: „Die Kultur in den Häusern muss sich ändern, der Patient mit seinen Rechten stärker wahrgenommen werden“, sagt Michèle Wennmacher. Ein pflegebedürftiger Mensch hat die gleichen Grundbedürfnisse wie ein gesunder. Mit einem großen Unterschied: Um diese Bedürfnisse zu erfüllen, ist er auf andere angewiesen. Genau da aber fehle es oft an Einfühlungsvermögen, werde über die Köpfe hinweg entschieden. So wurden die Patientenvertreter auch nicht in die Kodexpläne eingebunden, obwohl die Menschenrechtskommissionin ihrem Bericht eine „nationale Plattform“ vorgeschlagen hatte. Im Aktionsplan zur Demenz, der im Familien- und Gesundheitsministerium ausgearbeitet wurde, ist die Einführung ethischer Standards für die Betreuung zwar ein wichtiger Punkt, aber diese zu definieren, hat der Staat den Trägern überlassen. Es habe Überlegungen für ein Gesetz gegeben, die Idee sei fallengelassen worden, als die Heimträger versprachen, sich selbst zu kümmern, sagen Insider. Ex-Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) galt nicht eben als Freundin einer gesetzlichen Regelung.

Inzwischen mag man im Ministerium eine gesetzliche Regelung nicht grundsätzlich ausschließen, zunächst jedoch soll das Ergebnis der freiwilligen Selbstverpflichtung abgewartet werden. „Dass die Träger sich Leitlinien geben, ist ein Anfang. Wir werden sehen müssen, welche Auswirkungen diese haben“, sagt Jacqueline Becker. Um das festzustellen, müssten jedoch Kontrollen verstärkt werden, und – warum nicht? – die Ergebnisse öffentlich diskutiert werden. Eines von vielen Versprechen der Dreierkoalition war immerhin mehr Transparenz. Nur wenn (potenzielle) Nutzer wissen, was in den Alten- und Pflegeheimen tatsächlich geschieht, wenn nachvollziehbare Vorschriften und Kontrollen existieren, können sie entscheiden und gegebenenfalls den nötigen Druck für Verbesserungen aufbauen. Oder ist das für die Verantwortlichen am Ende das größere Risiko?

Ines Kurschat
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