In Luxemburg nehmen Pflegebedürftige außerordentlich viele Medikamente ein. Das ist nicht nur teuer, sondern auch gefährlich

Vierzehn im Cocktail

d'Lëtzebuerger Land vom 23.08.2013

In der über 400 Seiten langen Bilanz zu 13 Jahren Pflegeversicherung, die Gesundheits- und Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) Ende Mai vorgestellt hat, nimmt es nur sieben Seiten ein. Doch das Kapitel über „Les médicaments dans les soins de longue durée“ hat es in sich. 74 Prozent der Empfänger von Pflegeleistungen seien „polymédicamentés“, liest man dort. Soll heißen: Im Jahr 2010, aus dem die Daten stammen, nahmen fast 9 000 Pflegebedürftige während mindestens sechs Monaten täglich fünf Medikamente oder mehr zu sich. „Fünf oder mehr“ ist die in der wissenschaftschaftlichen Literatur am häufigsten benutzte Schwelle, ab der von „Polymedikation“ gesprochen wird.

Der Bericht wird aber noch ein Stück präziser: 33 Prozent dieser polymedikalisierten Pflegebedürftigen hätten zwischen fünf und zehn Medikamente eingenommen und 32 Prozent zwischen elf und 20. Der Durchschnittskonsum habe bei 14 gelegen.

Das ist viel. In Deutschland, dem Staat, der sich 1994 als europaweit erster eine gesetzliche Pflegeversicherung gegeben hatte, war 2006 in einem Pilotversuch festgestellt worden, dass die darin untersuchten Pflegebedürftigen im Schnitt acht verschiedene Medikamente zu sich nahmen. Daraufhin wurden im Nachbarland Alarmglocken geläutet1.

In Luxemburg war in der breiten Öffentlichkeit die Polymedikation Pflegebedürftiger bisher noch kaum ein Thema. Und das obwohl es, wie der Pflegeversicherungsbericht zeigt, eine ungute Tendenz gibt: Lag 2010 der Medikalisierungs-Schnitt bei 14 verschiedenen Arzneimitteln, hatte er im Jahr 2000 noch elf betragen. Immerhin aber scheint der ganz große Konsum rückläufig zu sein. Noch 2006 bis 2009 hatten an die 15 Prozent der Pflegeleistungsempfänger sogar mehr als 20 Medikamente nebeneinander eingenommen. 2010 traf das nur noch auf acht Prozent zu. Doch wohlgemerkt: Die Statistiken beziehen sich nur auf ärztlich verschriebene Medizin. Was sich wer obendrein noch selber verordnete, und wie viel davon, ist unbekannt.

Gibt es demnach ein gravierendes Systemproblem bei der Versorgung Pflegebedürftiger? Schließlich können solche Cocktails kreuzgefährlich sein. Die Facharztgesellschaft der Geriater schrieb 2011: Polymedikation führe nicht nur zu komplexen Wechselwirkungen in den Nebenwirkungen der verschiedenen Medikamente, und es bestehe die Gefahr, dass die gewollte Wirkung der einen Arznei durch das Wechselspiel mit einer anderen abgeschwächt oder verstärkt wird. Sondern es komme obendrein „häufiger zu Verwirrungszuständen und Stürzen“. Schon die Verabreichung von mehr als vier Medikamenten erhöhe die Sturzneigung älterer Menschen – und zwar ganz unabhängig von der Art der Wirkstoffe in den Arzneien.

Ganz einfach aber lässt ein Systemproblem sich nicht behaupten. Ältere Menschen, ob pflegebedürftig oder nicht, sind generell nicht selten polymedikalisiert: 2008 waren es aus einer repräsentativen Stichprobe aller bei der CNS Krankenversicherten 15,8 Prozent der über 64-Jährigen. Verwundern muss dies nicht: Um 1900 wurden die Menschen in Europa durchschnittlich 45 bis 50 Jahre alt. Wenn heute oft 75 bis 85 Jahre erreicht werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, im letzten Lebensabschnitt chronisch zu erkranken, und das womöglich mehrfach. Dann werden auch mehr Arzneien verordnet. Dass die meisten Luxemburger Pflegeleistungsempfänger 80 Jahre oder älter sind, könnte erklären, weshalb unter ihnen die Polymedikation so verbreitet ist. Dass rund zwei Drittel der Pflegebedürftigen weiblich sind – vor allem wegen der statistisch höheren Lebenserwartung von Frauen –, dürfte wiederum der Hauptgrund dafür sein, dass diese mit 70 Prozent die Mehrheit in der Statistik der polymedikalisierten Pflegebedürftigen ausmachen.

Allerdings würden hierzulande „extrem viele“ Medikamente verschrieben, stellt Nathalie Rausch fest, die Direktorin der Cellule d’évaluation et d’orientation de l’Assurance dépendance (CEO) im Sozialministerium: „Die über die Polymedikation bei uns verfügbaren Zahlen liegen deutlich über denen in der internationalen Literatur.“ Als Fachärztin für Geriatrie weiß Rausch nicht nur um die schwer überschaubaren Wirkungen solcher Medikamentencocktails, sondern auch, dass die Wirkstoffe von Arzneimitteln im Organismus älterer Menschen anders verarbeitet werden als bei jüngeren.

Allerdings ist in Luxemburg bisher nur die Hitparade der an Pflegebedürftige verschriebenen Arzneien bekannt. Man weiß, dass auf Rang eins (16,4 Prozent) die Schlafmittel stehen und auf Rang zwei (14,5 Prozent) Schmerzmittel. Gefolgt von Magensäuresenkern, Blutverdünnern und harntreibenden Mitteln. Noch nicht im großen Maßstab untersucht wurde, welche Medikamente konkret gemeinsam mit anderen verschrieben wurden. Beunruhigende Feststellungen wie die in der schon erwähnten deutschen Studie vor sieben Jahren, in der sich gezeigt hatte, dass fast alle der angewandten Arzneien niemals an alten Menschen getestet und die Kombinationen aus den im Schnitt acht Wirkstoffen so noch nicht einmal an Jüngeren ausprobiert worden waren, konnten deshalb hierzulande noch nicht getroffen werden. Der Pflegeversicherungsbericht deutet lediglich noch an, dass die Polymedikation einen hohen finanziellen Kostenpunkt haben dürfte: 2010 lagen die Ausgaben der CNS für Medikamente für Pflegebedürftige fünf Mal so hoch wie für den Durchschnitt der Krankenversicherten.

Wie viele Medikamente Pflegebedürftigen verordnet werden, hängt aber offenbar nicht nur von deren Gesundheitszustand ab: Unter den Personen, die 2010 fünf oder mehr verschreibungspflichtige Medikamente einnahmen, waren zwei Drittel von mobilen Diensten Zuhause Betreute, aber nur ein Drittel Heiminsassen. Das ist ziemlich überraschend: Da der Pflegebedarf von Heiminsassen meist viel größer ist als der der Kundschaft von Pflegenetzen, müsste eigentlich das Gegenteil der Fall sein.

Zu einem ähnlich erstaunlichen Befund war 2011 eine Studie der Universität Luxemburg gelangt. Sie hatte nach Polymedikation in Heimen gefahndet und sämtliche Insassen in Betracht gezogen, nicht nur die pflegebedürftigen. Doch anders als zunächst vermutet, wurden nicht in den Pflegeheimen (Maisons de soins), wo so gut wie ausschließlich Pflegefälle betreut werden, die meisten Medikamente eingenommen, sondern in den Altenheimen (Centres integrés pour personnes agées, Cipa), in denen noch viel mehr „Valide“ leben, wie das im Pflegejargon heißt. In den Cipas hatten die Bewohner im Schnitt 8,45 verschiedene Wirkstoffe verschrieben erhalten. In den Pflegeheimen waren es 7,4 gewesen.

Für Nathalie Rausch liegt das an „Unterschieden in der Koordination“: Vor sieben Jahren hatten der Pflegedienstleisterverband Copas und der Ärzteverband AMMD vereinbart, dass Alten- und Pflegeheime Belegärzte an sich binden könnten; nach dem Prinzip, das auch in den Spitälern gilt. Heimbewohner ohne Hausarzt werden dann automatisch von einem der vier bis fünf Vertragsmediziner des Hauses betreut; und das kann für viele der Fall sein, denn nicht jeder erhält einen Heimplatz nah dem früheren Wohnort und der Praxis des Hausarztes. Die Beschränkung auf wenige Ärzte sorge für mehr Transparenz bei den Verschreibungen im Heim, so die CEO-Direktorin. Außerdem ernennen die Heim-Belegärzte aus ihren Reihen einen Médecin-coordinateur und führen ein Patientendossier im Haus, in dem unter anderem sämtliche Verschreibungen vermerkt werden.

Allerdings: Bis jetzt hätten sich in erster Linie Pflegeheime Belegärzte zugelegt, Altenheime „deutlich weniger“. Dort gingen nicht nur mehr Ärzte ein und aus. Die „mehr validen“ Insassen gingen darüberhinaus noch von sich aus zum Arzt, und all das führe zwangsläufig zu mehr Verschreibungen. Bei den daheim betreuten Pflegebedürftigen sei die Koordination der Verschreibungen am schwierigsten. Rausch hofft, dass die neu eingeführten Médecins-référents für Abhilfe sorgen. Bisher aber weiß noch niemand genau, ob das klappt: Wie viele Patienten mittlerweile einen Referenzarzt haben, soll erst Anfang 2014 klar sein; wie viele Pflegebedürftige darunter sind, wird man ebenfalls nicht früher wissen.

Die Verschreibungen besser koordinieren zu wollen, hat aber noch ein paar andere Aspekte. Es sei auch für den Arzt längst nicht immer einfach, die Wirkungen einer Polymedikation abzuschätzen, sagt Claude Schummer, Generalsekretär des Ärzteverbands. „Wir bewegen uns da oft auf einem schmalen Grat, das muss ich zugeben“, meint Schummer, der als Allgemeinmediziner auch Patienten in Pflegeeinrichtungen betreut. Luxemburg benötige dringend ein elektronisches Verschreibungssystem: Gekoppelt an ein elektronisches Patientendossier, in dem alle Verschreibungen festgehalten sind, und angeschlossen an ein computergestütztes „Expertensystem“, das via Internet aktuelle Informationen über die Wirkungen von Medikamenten bezieht, könne sich vermeiden lassen, dass der Arzt einen riskanten Cocktail verschreibt oder aus einem Wirkstoff-Mix eine besonders gefährliche Zutat zu spät absetzt.

In Krankenhäusern gibt es solche Systeme: Das Süd-Klinikum CHEM verfügt schon seit Jahren über eine computerbasierte Medikamentenausgabe; im CHL in der Hauptstadt wurde in der Akutgeriatrie vor kurzem eine „Pharmacie clinique“ geschaffen, in der, über ein elektronisches System hinaus, ein eigens dafür eingestellter Apotheker Ärzte und Pflegepersonal bei der Arzneimittelvergabe an betagte Patienten berät.

Für solche Innovationen auch außerhalb der Spitäler zu sorgen, ist einer der Punkte im Programm e-Santé der Regierung. Schritt für Schritt soll die elektronische Verschreibung ab kommendem Jahr eingeführt werden. Wie schnell sie auch sämtliche Alten- und Pflegeheime und noch die letzte Arztpraxis erreicht, ist jedoch eine große Frage: Sämtliche niedergelassenen Ärzte zu „informatisieren“, dürfte noch Jahre dauern.

In der Zwischenzeit stellt sich um die Medikamentenversorgung Pflegebedürftiger noch ein anderes Problem – ausgerechnet in der Zuhaus-Pflege, wo es die meiste Polymedikation gibt: Noch nie seit Bestehen der Pflegeversicherung war die Verabreichung von Medikamenten ein Pflege-Akt, für den die Pflegeversicherung aufkam. Wozu das in der Praxis führt, erläutert Evandro Cimetta, Generalkoordinator der Copas: „Muss ein Krankenpfleger eines Pflegedienstes einen Pflegebedürftigen sowieso aufsuchen, verabreicht er dabei, falls nötig, auch Medikamente, und das ist dann durch den Tarif für die andere Leistung gedeckt. Muss er dagegen nur wegen der Medikamentengabe los, wird er es der Person in Rechnung stellen.“ Was das kostet, weiß Cimetta nicht: „Es gibt ja keinen Tarif in einer Gebührenordnung dafür.“ Es handle sich um „ein Risiko, das die Sozialversicherung nicht deckt“.

Dass dem so ist, liegt daran, dass die Gremien der Sozialversicherung sich mit den wechselnden Ministern und der Copas nicht darüber einigen konnten, ob die Medikamentenvergabe an Pflegebedürftige eher Sache der Pflege- oder der Krankenversicherung sein soll, und bislang die Ansicht vorherrschte, Medizin zu verabreichen sei ein therapeutischer Akt. Therapien aber fallen laut Gesetz nicht unter Pflege. Doch mittlerweile wird nicht mehr ausgeschlossen, dass diese Position falsch sein könnte. Im Kapitel über die Medikamente in der Langzeitpflege in Mars Di Bartolomeos Bericht wird das angedeutet. Denn es könnte ja sein, dass ein Pflegebedürftiger sich um des Geldes willen seine Medikamente lieber nicht von einem Krankenpfleger verabreichen lässt. Und dass er seine Arznei vielleicht einzunehmen vergisst oder beim Mixen eines Cocktails aus mehr als fünf, vielleicht sogar 14, und womöglich gar noch mehr Medikamenten einen Fehler macht. Nicht auszudenken.

1 Lauterbach, K., et al: Verblisterung von Arzneimitteln für Altenheime und in der häuslichen Pflege: Beschreibung und Bewertung eines Pilotprojekts (September 2004 bis Dezember 2005), Köln 2006. Zitiert nach: Lauterbach, Karl: Der Zweiklassenstaat, Rowohlt Verlag, Berlin 2007
Peter Feist
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