„Kolonialismus ohne Kolonien?“ – Eine Bestandsaufnahme

Das Erbe

d'Lëtzebuerger Land vom 24.06.2022

Ausgehend von Protestbewegungen wie „Rhodes must fall“ und „Black Lives Matter“ sind überall in Europa öffentlichen Debatten über Rassismus, Denkmäler für historisch „kontaminierte“ Persönlichkeiten und die einstige Komplizenschaft von Einzelpersonen und Staaten bei der Ausbeutung von Kolonien entfacht worden. Die Rolle des Kolonialismus in der Migration nach Europa, in der Erinnerungspolitik oder die Restitution geraubter Museumsgüter; diese Themen werden besonders stark in Ländern, die kolonialen Besitz hatten, wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland, diskutiert. Aber betreffen sie auch Nationen, die nicht direkt in den europäischen Kolonialismus involviert waren? Ist es sinnvoll, über die Präsenz und das Fortbestehen kolonialer Strukturen und Machtverhältnisse in einem Land zu diskutieren, das sich nie als Teil des europäischen Kolonialismus verstanden hat? Vor diesem Hintergrund soll hier der Frage nachgegangen werden, ob Länder wie Luxemburg, die keinen formalen Kolonialbesitz hatten, durch Kolonialismus geprägt sind.

Als Ausgangspunkt bietet sich ein Blick auf die Definition von Kolonialismus an. Dem deutschen Historiker Jürgen Osterhammel folgend lässt sich Kolonialismus als eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven definieren, die auf Gewalt basiert sowie auf der Überzeugung der Kolonialherrn, über eine höhere Kultur zu verfügen. Das Thema und seine Definition sind in der Forschung heftig umstritten. So finden sich etwa verschiedenste Erklärungsansätze, wieso Staaten in der Neuzeit Kolonialismus praktizierten. Lange wurden vor allem der Hochkapitalismus (J.A. Hobson oder auch Lenin und Rosa Luxemburg) oder die innere sozial-politische Lage (H.U. Wehler, Peter J. Cain und A.G. Hopkins) als Hauptverursacher kolonialer Expansion bezeichnet. Forscher/innen wie David K. Fieldhouse („man on the spot“) und John S. Galbraith („turbulent frontier“) zeigen hingegen, wie zentral Akteure an der Peripherie für koloniale Strukturen und Expansion waren.

Die Akteursbezogenheit, die Auflösung der Metropole-Peripherie-Dichotomie und die Sichtweise auf den europäischen Kolonialismus als „gemeinsames transnationales Projekt“, Punkte, die von der „New Imperial History“ betont werden, wären nicht ohne den wegweisenden Artikel „Imperialism of Free Trade“ der britischen Historiker Ronald Robinson und John Gallagher aus dem Jahr 1953 möglich gewesen. Eine entscheidende These: Formelle koloniale Herrschaft und informelle Einflussnahme sind zwei Seiten der Medaille Kolonialismus. Die Übergänge von formaler Territorialherrschaft zu unterschiedlichen Formen indirekter Herrschaft, ökonomischer Kontrolle und imperialistischer Infiltration waren häufig fließend.

Aus solchen Überlegungen ergibt sich unter anderem: Die Dekolonisierung sollte nicht als abgetrennte Epoche zum Kolonialismus verstanden werden oder gar als dessen Ende. Vielmehr leben koloniale Strukturen in anderer Form, vor allem im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich weiter. Die sogenannten post-colonial studies konzentrieren sich vor allem auf das letztere Feld. Sie helfen, Vorstellungen, Werthaltungen und Diskurse aus der Zeit des Kolonialismus bewusstzumachen und zu erklären, indem der Blick etwa auf koloniale Wissensproduktion gerichtet wird. Die Disziplin untersucht die nachhaltige Prägung der globalen Situation durch Kolonialismus und hinterfragt so Eurozentrismus auf mehreren Ebenen. Zentral in diesen neueren Forschungsentwicklungen ist also die Feststellung, dass Kolonialismus auch in anderen als formalen Strukturen wirken kann. Das bedeutet: Eine Nation/Gesellschaft muss nicht formal Kolonialismus betrieben, also Kolonien besessen haben, um durch koloniale Strukturen geprägt und mit ihnen verflochten zu sein.

Schauen wir nun, wie sich solch eine Prägung und Verflechtung im Fall Luxemburgs gestaltete. Die Verwicklung luxemburgischer Staatsbürger/innen in koloniale Projekte anderer europäischer Staaten ist sicherlich der bislang meistuntersuchte Aspekt. Régis Moes hat bereits auf die umfassende Kollaboration von Luxemburgern mit Belgiern im Kongo hingewiesen, genau wie unter anderem Serge Hoffmann, Marc Thiel und Romain Hilgert. Sie alle haben gezeigt: Luxemburgische Akteur/innen waren als Handlanger, Gehilfen und Kollaborateure, Profiteure und Trittbrettfahrer des Kolonialismus tätig. Es waren keine Eintagsfliegen, sondern Beziehungen, die über Jahrzehnte stabil blieben.

Die Ausstellung Le passé colonial du Luxembourg im Nationalmuseum für Kunst und Geschichte zeigt einige prominente Fälle. So war etwa der Offizier Nicolas Grang ein wichtiges Mitglied der Expedition des Afrikaforschers Henry Morton Stanley, welcher vom belgischen König Leopold II. beauftragt worden war, den Kongo zu erschließen. Nicolas Cito, ein Ingenieur aus Luxemburg, war maßgeblich am Bau der Eisenbahntrassen durch den Kongofreistaat beteiligt. Mehre Luxemburger nahmen über den gesamten Zeitraum des „Freistaats“ sowie des „belgischen Kongo“ Schlüsselpositionen ein. Diesen Umstand strich Lambert Schaus, Ex-Minister und damaliger Sondergesandter der luxemburgischen Regierung in Brüssel, in einer Rede vor einer belgischen Kolonialgesellschaft 1951 in seinem Vortrag „L’apport du Grand-Duché de Luxembourg à l’œuvre coloniale belge“ hervor. Doch nicht nur vermögende Unternehmer, Geistliche und hochqualifizierte Arbeitskräfte, auch Angehörige der Mittel- und Unterschicht waren Teil dieser Bewegung.

Auch wenn die Präsenz von Luxemburger/innen im belgischen Kongo wohl das sichtbarste Kapitel der luxemburgischen Kolonialgeschichte ist, so ist es nicht das einzige. Der Jesuit Jean-Philippe Bettendorf aus Lintgen betrat 1659 den südamerikanischen Kontinent, machte Karriere und wurde einer der einflussreichsten Geistlichen des portugiesischen Kolonialunterfangens in Brasilien. „Père Raphael“, ein Kapuziner aus Luxemburg, wurde 1717 Generalvikar von Nouvelle-Orléans und damit wichtigster Geistlicher der französischen Louisiane. Jean-Pierre Pescatore gelang es 1817, sich die Exklusivlizenz zum Export kubanischen Tabaks nach Frankreich zu sichern. Das Vermögen der Pescatores ist auf das Geschäft mit Kolonialwaren und Sklavenarbeit aufgebaut. Guillaume Capus bereiste als Ethnologe und Wirtschaftsberater der französischen Kolonial-
macht in Indochina am Ende des 19. Jahrhunderts die Welt. Der luxemburgische Parlamentarier Maurice Pescatore war selbst Eigentümer von Plantagen im heutigen Äthiopien und verfasste in den 1930ern Reiseberichte über seine Jagdabenteuer auf dem afrikanischen Kontinent.

Die genannten Personen vereint, dass sie bis heute in Luxemburg durch Straßennamen geehrt werden – im Falle von Nicolas Cito sogar mit einem Monument. Die Gemeinde Wahl entschied sich im Zuge aktueller Diskussionen bereits zur Umbenennung der „Rue Nicolas Grang“ in Buschrodt.

Es lassen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden, wie luxemburgische Akteur/innen auf vielfältige Weise in koloniale Geschehnisse verstrickt waren. Über tausend luxemburgische Söldner kämpften für die holländische Kolonialarmee in Indonesien. Missionare und Ordensschwestern aus Luxemburg waren auf sämtlichen Kontinenten aktiv, im Marienthal befand sich eine regelrechte Kolonialschule. Dennoch stellt sich die Frage: Ergibt es Sinn, (post-)koloniale Ansätze auf ein Land anzuwenden, das als Nationalstaat nie formale Kolonien besessen hat? Schließlich betonte der liberale Außenminister Eugène Schaus im April 1960 vor der Abgeordnetenkammer: „Le Luxembourg n’a jamais été une puissance coloniale”. Die offizielle Politik sei stets eine der Nicht-Einmischung gewesen.

Hierbei sollte man sich vor Augen halten: Die Teilnahme des Großherzogtums am europäischen Kolonialismus beschränkte sich nicht nur auf individuelle Partizipation, auch der Staat als Ganzes war beteiligt. So zeigt sich im Kongo, dass die Regierung die luxemburgische Beteiligung am Aufbau einer Musterkolonie tatkräftig unterstützte. Auch zu weiteren kolonial geprägten Unrechtsregimen pflegten luxemburgische Staatsvertreter Beziehungen, etwa zum südafrikanischen Apartheid-Regime oder auch dem portugiesischen Estado Novo, als es darum ging, im Zuge der Verhandlungen über Gastarbeiter/innen-Abkommen die Migration aus den portugiesischen Kolonien nach Luxemburg zu verhindern.

Der luxemburgische Staat unterstützte aktiv die Teilnahme von Luxemburgern an kolonialen Projekten; kolonialistisches Denken war in der politischen Kultur Luxemburgs fest verankert. Das wurde besonders deutlich in der intensiven – staatlich subventionierten – Kolonialpropaganda des Cercle colonial luxembourgeois (CCL) sowie der Alliance coloniale Luxembourg-Outremer (Luxom) und in der Tatsache, dass Luxemburg Mitglied in der Fédération internationale des coloniaux et anciens coloniaux (Fcicac) war, einem europäischen kolonialen Dachverband. Wie Matthias Thill, Präsident des CCL, sagte: „Le Luxembourg avait des colonies, les colonies de ses amis“.

Das Großherzogtum als Ganzes profitierte von den kolonialen Bestrebungen seiner Nachbarn, nicht zuletzt wirtschaftlich. Luxemburgische Unternehmen und luxemburgisches Kapital waren direkt und indirekt an kolonialwirtschaftlichen Aktivitäten beteiligt, wie Plantagenwirtschaft und Sklavenhandel. Jean-Pierre Pescatore wurde bereits erwähnt, aber auch viele andere profitierten, etwa Jean-Pierre Kuborn, der in Pulvermühle die erste Baumwollspinnerei Luxemburgs gründete und dort die von versklavten Menschen auf den Plantagen in Georgia gepflückte Baumwolle verarbeiten ließ. Mit dem Ende der Sklaverei in den USA musste Kuborn seine Mühle schließen – sein wirtschaftlicher Erfolg basierte einzig und allein auf den durch die Sklaverei reduzierten Kosten. Mächtige Firmen wie der Zigarettenkonzern Heintz Van Landewyck, Arbed oder auch Cactus spielen in der Kolonialgeschichte eine Rolle.

Das Beispiel Wirtschaft zeigt auch, „comment la colonie fait retour en métropole“, denn das in der Peripherie erwirtschaftete Geld wurde in Luxemburg eingesetzt. Kolonien waren kein Phänomen, das nur die Gebiete in Afrika, Asien und so weiter prägte. Es gab stets zahlreiche Rückwirkungen auf Europa selbst, auch auf Länder ohne Kolonien wie Luxemburg. Dies zeigt sich beim Thema Kultur.

Generationen von Luxemburger/innen wuchsenmit rassistischen Stereotypen in Kindergeschichten und Volksliedern, Reportagen über naive, kindliche „Wilde“ und Werbebildern auf, in denen die Kolonisierten bestenfalls als dekorative Statisten für Kolonialprodukte vorkamen. Beispiele dafür sind etwa das Lied De Jangli fiert den Houwald erop, in dessen dritter Strophe die Eisenbahn schließlich an „die Affen im Kongo“ verkauft wird. Prominent zieren in der Groussgaass Figuren von Plantagenarbeitern die ehemalige „Mohrenapotheke“ und die Zigarette „L’Africaine“ gehört noch heute zum Sortiment von Heintz van Landewyck. Auch ohne formalen Kolonialbesitz hat die luxemburgische Gesellschaft einen rassistisch motivierten Überlegenheitsdiskurs weitergeführt, der relativ ungebrochen bis heute weiterexistiert. Solche Phänomene betreffen auch Kultureinrichtungen, vor allem Museen. Im November letzten Jahres präsentierte der Direktor des Naturkundemuseums, Patrick Michaely, einen Sensationsfund, der „für ein Museum eines Landes wie Luxemburg Stolz und Anerkennung bedeutet“. Die Rede ist von einem bisher unbekannten Mineral, welches ursprünglich aus dem Kongo stammte und dann in den Archiven des Luxemburger Museums verschwand.

Ein Aspekt des Kolonialismus trat in Luxemburg verglichen mit anderen kolonielosen Staaten stärker zutage als anderswo: die starke Verstrickung in die christliche Mission; Beispiele wurden bereits weiter oben genannt. Diese war zumeist ein kulturelles Instrument des Kolonialismus und zentral an „othering“-Prozessen beteiligt, wobei es innerhalb religiöser Gemeinschaften auch immer Kritiker bestimmter kolonialer Praktiken gab.

Angesichts dieser vielfältigen Beispiele von engen Verflechtungen und Zusammenhängen kann man im Falle Luxemburgs nicht nur von einer Art „Sekundärkolonialismus“ sprechen, der lediglich auf Beobachtungen zweiter Ordnung beruhen würde. Gleichzeitig wäre es absurd, Luxemburg als eine Kolonialmacht wie Belgien oder Großbritannien zu bezeichnen. Ebenso ist die Kritik zu erwähnen, die von luxemburgischen Akteur/innen aus verschiedensten Kontexten gegenüber kolonialen Praktiken geäußert wurde. Auch Luxemburg hat eine koloniale Vergangenheit, ist mit dem europäischen Kolonialismus verflochten und von seinen Denkweisen geprägt. Luxemburg hat am Projekt Kolonialismus signifikant auf offizieller und individueller Ebene teilgenommen, es unterstützt und wirtschaftlichen Nutzen daraus gezogen. Luxemburg und der europäische Kolonialismus stehen in einem komplexen Verflechtungszusammenhang, koloniale Strukturen und Denkmuster sind auch hier fest in Kultur und Gesellschaft verankert. In Anbetracht all dieser Verwicklungen braucht es keine Abwehrreflexe, sondern eine ernsthafte, wissenschaftlich untermauerte Debatte, um aufzuzeigen, wie dieses Erbe bis heute nachwirkt. Als Nutznießer der wirtschaftlichen Vorteile und aktiver Teilnehmer kann die Gesellschaft des Großherzogtums eine gewisse historisch-moralische Verantwortung gegenüber dem europäischen Kolonialismus nicht abstreiten.

Yves Schmitz
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