2 300 Einwohner besitzen einen Jagdschein. Wer ist Jäger in einem post-industriellen Staat wie Luxemburg?

„Et muss direkt an d’Häerz goen“

Rehböcke hängen in einem Kühlschrank
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 24.06.2022

Ein röchelndes Wildtier raschelt im Wald hinter uns. Allmählich erblicken wir den Kopf eines kleinen Rehs. Durch das Zielfernrohr seines Gewehrs identifiziert Charel einen einjährigen Bock mit struppigem Fell und mickrigen Spießen, – wie das Geweih von jungen Böcken genannt wird. „Das ist kein Zukunftsbock“, meint Charel und würde ihn erlegen; aber der Bock bewegt sich in einem sicheren Winkel außerhalb der Schusslinie. Und nach ein paar Schritten auf der Wiese huscht er wieder in den Wald. Der Bock schnauft, weil er an Rachenbremsen leidet – eine der häufigsten Rehwild-Erkrankungen. Larven kriechen in den Atemwegen des Rehwilds, die eine hummelartige parasitär lebende Fliege abgelegt hat. Ein starker Befall führt zum Tod, da die Larven durch ihre Dichte Rachen und Nase verstopfen.

Auf der Ansitzleiter überblicken wir die Wiese vor uns. Wir sitzen im Jagdrevier des Merscher DP-Bürgermeisters Michel Malherbe in der Nähe von Schönfels; er hat an diesem Juni-Samstagabend zur Jagd eingeladen. Die Wiese ist frisch gemäht, sieht aber eher geschoren aus und alles andere als saftig grün. „Op dëser Wiss ass keng Biodiversitéit méi, d’Réi ass ee Feinschmecker, hei ass awer kee Büffet, dofir huet d’Réi keng Loscht aus dem Bësch ze kommen“, urteilt Charel. Aber dann sehen wir in 30 Meter Entfernung ein junges Reh. Wieder ein Bock. Charles hält die Büchse schussbereit. Ich halte mir die Ohren zu; höre das Rauschen in meinem Kopf. Schießt er, oder schießt er nicht? Er drückt nicht ab: Dem jungen Bock sind zwar noch keine Hörner gewachsen, aber sein Fell ist robust und kräftig rot-braun verfärbt, – „déi gesond loossen ech lafen“.

Charel sieht aus, wie man sich einen Jäger vorstellt: Gekleidet in braun-grün-schwarzen Farbtönen, Stutzkappe auf dem Kopf, bärtig und mit vielleicht einem Kilo zu viel an den Hüften. Weshalb der 35-Jährige Waidmann wurde, diese Frage stellte sich für ihn nie wirklich: „Mein Vater ging auf die Jagd; ich bin da reingewachsen. Mindestens an vier Abenden die Woche waren wir im Wald“, erklärt er. Mittlerweile wächst eine neue Generation in das Handwerk hinein: Gelegentlich begleiten ihn seine siebenjährige Tochter und sein dreijähriger Sohn auf die Jagd. Seine Frau, von Beruf Krankenschwester, hat vor fünf Jahr den Jagdschein absolviert. „Ech sinn duerch an duerch Jeeër“, sagt Charel.

Anfang März bis Mitte April gilt die Waldruhe (Bësch-
rou), – während dieser Zeit darf im Wald nicht gejagt werden. Reglementiert ist überdies, welche Tierart wann getötet werden darf: Den Marderhund, das Wildschwein und den Waschbären kann der Jagdschein-Besitzer fast durchgehend jagen; Hasen und Ricken – weibliche Rehe – jedoch nur im Herbst. Ein großherzogliches Reglement erlaubt die Jagd auf insgesamt 17 verschiedene Tiere; wer sich nicht an die Vorgaben hält, dem wird die Jagderlaubnis entzogen. Wie gejagt wird, ist ebenfalls staatlich festgeschrieben: Die Treibjagd mit Hunden beispielsweise findet in Luxemburg nur von Mitte Oktober bis Ende Januar statt.

Nicht alle sind übers ganze Jahr passionierte Jäger. Manche sitzen selten auf dem Hochsitz, wie Bänker und Anwältinnen, die häufig Geschäftsreisen unternehmen und deshalb Jagdhüter anstellen, die sich um ihr Revier kümmern. Ihr Einkommen ermöglicht es ihnen, sich die begehrten Jagdlose in Nierderanven, Mertzig und dem Nordosten zu sichern, wo Hirsche leben. Studien aus Frankreich zeigen, dass Jäger:innen häufig Selbständige sind oder einen Posten im höheren Management bekleiden. Laut Jos Bourg fänden allerdings Milieuverschiebungen statt. Jedenfalls beklagte sich der Stugalux-Gründer und damalige Jägerföderations-Präsident (FSHCL) vor zehn Jahren im Tageblatt, immer mehr Unternehmer würden sich von der Jagd abwenden; sie verbrächten lieber „fünf bis sechs Wochen an der Côte d‘Azur“. Es sei „nicht mehr schick, auf die Jagd zu gehen“, weshalb Geschäftsleute immer häufiger Golfturniere statt eine Treibjagd organisierten.

Tatsächlich sind die Profile und Motivationen der Jagdschein-Träger divers: Von einem Vertreter der Prüfungskommission heißt es, vermehrt würden sich sogar Menschen für das Handwerk interessieren, die sich nach dem Selbstversorgerprinzip ernähren wollen und ein Viertel der Examensteilnehmer:innen seien mittlerweile Frauen. Insgesamt 2 300 Einwohner besitzen einen Jagdschein. In Europa sind es sieben Millionen, davon allein in Frankreich etwas mehr als eine Million. Seit einigen Jahren steigt die Zahl der Prüfungsabsolventen wieder. Der Präsident der Jägerföderation, Jo Studer, erläuterte unlängst gegenüber Radio 100,7, womöglich liege das an der Begeisterung für Naturaktivitäten, die durch den Lockdown gefördert wurde, oder Initiativen wie der „Bëschschoul“.

Die Jägerföderation lud Ende Mai zu ihrer Generalversammlung ein. Die grüne Umweltministerin Joëlle Welfring blieb der Veranstaltung fern, sie weiß, dass der Vorstand nicht mit Animositäten gegenüber dem Umweltministerium spart. Vor allem seit dem Fuchsjagd-Verbot 2015, das durch die damalige Ministerin Carole Dieschbourg und den mittlerweile verstorbenen Staatssekretär Camille Gira eingeführt wurde, ist die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Regierung und Jägern versauert. Als neues Streitthema etablieren sich derzeit die Jagdfallen für Wildschweine. Jos Studer bezeichnete die Fallen während seiner Rede im Mai empört als „Grausamkeit“. Die Verwaltung wehrt den Vorwurf ab; es handele sich um Gehegefallen, die den Schweinen keinen Schaden zufügten und in denen sie stressfrei erschossen werden könnten.

Zumindest sind sich Jagdpächter, Landwirte und Naturverwaltung derzeit darüber einig, dass das Wildschwein allzu häufig Kulturpflanzen schädigt. Dokumente der Verwaltung illustrieren eine Verdoppelung des Schadens über die letzten sieben Jahre. Jo Studer erwähnte im 100,7, die Jäger seien vergangenes Jahr mit 500 000 Euro für den Schaden aufgekommen. Wegen der hohen Dünger- und Energiepreise wird er dieses Jahr noch höher ausfallen. Die Naturverwaltung vermutet überdies, dass nur Schäden gemeldet werden, die über der Rückerstattungs-Grenze liegen, – die tatsächliche Schadensstatistik müsste demnach noch üppiger ausfallen. Ein Fonds, der ausschließlich über die Jagdschein-Gebühren von 230 Euro/jährlich gespeist wird, erlaubt eine Ausgleichszahlung von vier Euro pro Hektar Fläche. Für Wildschweine sind Maisfelder ein Schlaraffenland – hier ist der Futtertrog stets gefüllt und der Feldboden kühlt sie ab. Etwa 6 000 Wildschweine wurden in der letzten Dekade jährlich geschossen; in den 1980-ern waren es nur 1 000. 

Wer bruchstückweise das politische Gezanke zwischen Jägern und Umweltministerium mitbekommt, könnte meinen, beide Seiten würden völlig konträre Positionen vertreten. Beide Seiten geben jedoch an, sich um das Wohl von Wald und Wild zu kümmern. Jos Studer schreibt in der Föderationszeitung: „D’Natur ass wéi e Spannennetz, zitt een un engem Fuedem, da wackelt dat ganzt Netz! Dofir muss och all Mënsch säin Deel dozou bäidroen fir se ze schützen an ze verbessern“. Im Herbst letzten Jahres betonte er in einem Interview, zubetoniertes Grünland zerstöre den natürlichen Lebensraum von Wildtieren.

Über unserer Ansitzleiter streckt eine Buche ihre Arme aus. Im Wald hinter uns leben Bäume in Symbiose mit Pilzen, geben Vögeln ein Zuhause, verändern die Luftqualität, kämpfen um Licht und werfen dabei mit ihren Blättern wechselhafte Schatten. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen verdorrte Fichten, der Borkenkäfer und die Hitze setzten ihnen zu. Der ausgebildete Waldarbeiter, Charel, erzählt, als Kind habe er noch Fichten mit seinem Vater angepflanzt, heute würde dies klimabedingt niemand mehr tun. Über die Jahre habe sich der Gesundheitszustand der Wälder verändert. Förster sind alarmiert, weil das Reh Jungbäume weg knabbert und Verbissschäden hinterlässt. „Mee d’Réi eleng ass net Schold“, meint Charel, denn im Wald machen sich gerade viele Probleme gleichzeitig bemerkbar: Pilzbefall; Schwefelsäure, die auf Blätter gelangt, und neuerdings die Eichenprozessionsspinner, die ihre Wirtsbäume kahl fressen.

Wenn er ein paar Tage krankheitsbedingt nicht in den Wald gehen könne, werde er nervös. „Ech muss am Bësch sinn, hei schalten ech komplett of“. Der spanische Philosoph Ortega y Gasset spricht von der Jagd als Ecstasy – einem Außer-sich-stehen. Sie führe zu einer numinosen Verstrickung von menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen. Die Sinne des Jagenden seien geschärft und gänzlich gegenwartsbezogen; der Waidmann steige aus seinem Alltagsbürger-Dasein aus, um sich in einen vollwertigen Teilnehmer am Leben des Waldes zu verwandeln, wo es zur Begegnung von Beutegreifer und Beutetier komme. In der Jagdtätigkeit suchte auch der Philosoph, Tierarzt und mittlerweile ehemalige Jäger Charles Foster die Verbindung zu nicht-menschlichen Wesen; er war getrieben von „a desire for an intimate connection with the natural world, and for self-knowledge“. Als Jäger habe er der „interconnectedness“ zwischen Mensch und Tier näherkommen können, auf eine Art, wie es keine Buchlektüre ihm ermöglichte. Um andere Säugetiere und Vögel zu verstehen, wollte er ihnen nachspüren, beteiligt sein an deren Leben und Tod. Mittlerweile hat er sich von der Jagd abgewendet und urteilt: „blood is heavy stuff. It does unpredictable things to humans“.

Der Rehbock macht sich wieder durch sein Röcheln bemerkbar und läuft diesmal weiter vor auf die Wiese. Ruckartig schiebt mir Charles die Ferngläser in die Hand; meine Wasserflasche schruppt lärmend an den Holzbalken entlang. Aber das Reh springt nicht erschrocken davon. Charel hängt mit seinem Gewehr an den Leiterstufen; diesmal knall es. Das Tier bewegt sich nicht mehr: „Et muss direkt an d’Häerz goen, soss leeft de Bock weider“. Das behauptet er nicht entspannt, eher wie ein Leistungssportler, der kurzeitig unter Präzisionsdruck stand.

Während ich auf den toten Jungbock starre, der trotz ein paar Blutstreifen so aussieht, als könnte er in der nächsten Sekunde aufspringen und davonlaufen, frage ich Charel, ob ihm das Tier nicht leid tue. Nun eine Zigarette paffend, antwortet er: „Tiere, die ich nicht kenne, tun mir nicht unbedingt leid. Aber in meinem Revier lebte eine dreipfotige Ricke, die derart tapfer ihr Leben meisterte und Nachwuchs aufzog, dass ich sie nicht erlegen wollte“. In einem braunen Toyota Break fahren wir zu Michel Malherbes Schlachteinrichtung. Unterwegs frage ich, ob er gelegentlich angefeindet wird. „Ja, das kommt vor, dass Leute aus dem Auto heraus Mörder, Mörder brüllen. Manchmal ist ein Gespräch möglich, manchmal auch nicht“.

Wer das ganze Jahr über in seinem Revier unterwegs ist, kennt sein Wild. „Ich weiß, wo Wildschwein und Reh ihr Wohnzimmer haben“. Deshalb praktiziere er auch die Pirschjagd, während der man den Tieren nachspürt. Die Pirschjagd ist herausfordernd und wird in Luxemburg nur selten ausgeführt. Kognitionswissenschaftler und Anthropologinnen spekulieren derzeit, inwiefern die Fährtensuche die Herausbildung der Vorstellungskraft förderte. Denn Spuren zu verfolgen, bedeutet nicht, einfach ein paar Fußabdrücken hinterherzulaufen; es impliziert vor allem, Tierverhalten zu interpretieren – und dies gelingt am besten im Kollektiv. Die Ethnologin Bettina Ludwig dokumentierte, wie die Hoansi-San-Buschleuten kooperativ über vorgefundene Spuren spekulierten: Wie alt ist das Tier, wo könnte es sich gerade aufhalten, was waren seine Intentionen? Zusammen malten sich die Jäger ihre Beute aus und entwickelten Jagd-Szenarien. Aber um mögliche Handlungsweisen eines artfremden Wesens zu skizzieren, bedarf es der Vorstellungskraft. Sie ist ein unentbehrliches Jagd-Werkzeug.

Michel Malherbe stakst um seinen Gartenschuppen, während wir das Auto parken, – und ruft „Joker“, als er den Bock sieht. Die Wahrscheinlichkeit, an einem Ansitzjagd-Abend ein Tier zu schießen, liegt etwa bei eins zu zehn. Als er von dem zweiten Bock erfährt, den wir sichteten, meint er: „Deen haes de och solle schéissen“. An einem Bügel befestigt Charel den Bock und schneidet ihn längs auf. Blut fließt in einen Eimer, Unverdautes strömt aus den Eingeweiden, Kot-Knollen springen umher. Während die Hofschlachtung für Landwirte sanitärer Kontrollen bedarf, können die heutigen Jäger nahezu wie ihre Vorfahren des Paläolithikums vorgehen, ­– stünde da nicht ein elektrobetriebener Kühlschrank neben dem zerlegten Bock.

Später am Abend findet ein Gartenfest statt. Nach dem einsamen Rumsitzen im Wald finden sich die Jäger zum Essen und Trinken zusammen. „Mir sinn e bësse wéi ee Clan“, scherzt Malherbe, an dessen Hals ein Kreuz baumelt und den man im Verlauf des Abends einen pechschwarzen Blauen nennen wird. Frauen sind da, aber keine Jägerinnen. Der ehemalige Merscher Bürgermeister Abbes Henkel erwähnt: „Früher war es für manche Männer ein Drama, wenn Frauen mit auf die Jagd gehen wollten. Aber heute gibt es Männer, die behaupten, wenn ihre Frau nicht mit auf die Jagd eingeladen würden, würden sie auch nicht gehen“. Michel Malherbe und Charel versuchen mir vorzurechnen, wieviel Geld sie in ihre Freizeitbeschäftigung stecken: Im Schnitt kostet ein Gewehr 3 500 Euro, 1 500 ein Fernglas, hinzu kommen jährlich etwa 2 000 Euro für Feierlichkeiten, 4 000 für die Pacht sowie um die 1 500 für den Wildschaden. „Einen finanziellen Gewinn macht hier niemand“, unterstreicht Malherbe. Vom Tischende ruft ein älterer Herr: „Dat hei muss och an d’Land stoe kommen“, und zeigt auf einen Kuchen. Es ist ein visuelles Statement zum Fuchsjagdverbot: Darauf abgebildet ist ein nicht mehr ganz so junger Jäger, der auf einen jungen Fuchs zielt.

Vielleicht wird es demnächst Kuchen mit Wäschbär-Memes geben. Allerdings nicht weil es zu einem Jagd-Verbot kommen wird, sondern weil der Abschuss-Druck steigt. Die DP-Abgeordneten Max Hahn und André Bauler wollten im Mai erfahren, ob Jäger die Ausbreitung des Kleinbären eindämmen konnten. Die grüne Umweltministerin Joëlle Welfring antwortete diese Woche mit einem Balkendiagramm, aus dem sich eine Abschuss-Zahl von etwa 13 000 ergibt. Doch ihre Kartografierungen veranschaulichen, dass die Jagd seine Beheimatung nicht verhindern konnte, und Welfring schlussfolgert mit den Worten des Waschbärexperten Ulf Hohmann: Der Kleinbär sei „gekommen um zu bleiben“. Hinter den beliebten Bilder-Memes des Waschbären, die das Internet überfluten, versteckt sich für die Naturverwaltung eine invasive Art, die bodenbrütende Vogelarten wie den Kiebitz bedrohe. Jäger:innen sollen nun helfen, die Ausbreitung des Neozoons zu regulieren, aber bisher haben sie wenig Erfahrungswerte mit diesem Marderverwandten. Das wird sich auch nicht bald ändern, denn der Waschbär ist nachtaktiv und die Jagd ist nach der Dämmerung verboten.

Beim Abschied raten mir die Jäger, ein Wochenende im Herbst freizuhalten, „fir déi richteg Juegdsaison“, wenn die Treibjagd mit Hunden wieder erlaubt ist. Anfang November feiere man zudem den Heiligen Hubertus, den Schutzpatron der Jäger, dessen Attribut ein Hirsch ist. Auf der Heimfahrt passiert das, was häufig passiert, wenn man zu lange in die Tierwelt starrt, – sie starrt zurück. Vor dem Ortseingang in Buschdorf sitzt eine Schleiereule mitten auf der Straße. Ich halte an, die Eule richtet ihren Blick auf mich, in ihren Augen spiegeln sich die Scheinwerfer. Sie wurde beim Jagen gestört.

Stéphanie Majerus
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