Der radikale Erneuerer des Dramas galt als kein einfacher Charakter. Im Vergleich zu Fräulein Julie oder Totentanz zählt Der Pelikan zu den weniger bekannten Stücken des Schweden August Strindberg. Worin liegt der Reiz? „Ich glaube, seine Stücke sind unterschiedlich modern, aber Der Pelikan ist tatsächlich modern geblieben“, ist sich Regisseur Stefan Maurer sicher. Irgendwann sei klar gewesen, dass er Strindberg inszenieren werde. Dass die Wahl schließlich auf gerade dieses Stück fiel, habe auch pragmatische Gründe gehabt, etwa die überschaubare Anzahl an Schauspieler/innen.
„Strindberg ist ein Autor der Krise. Und beim Pelikan gibt es zwei thematische Schwerpunkte, beide kann man mit sozialem Narzissmus beschreiben“, so Maurer. Der eine sei das Persönliche, der andere das Gesellschaftliche. Im Original ist ein Erbschaftsstreit um die Jahrhundertwende Thema, zentral gehe es hierbei um Geld. „Jeder definiert sich darüber, und alle fahren im Prinzip zweigleisig“, erzählt Maurer am Rande der Proben in Esch. Jeder im Stück glaube, dass er über das eigene Image, das er sich aufbaue, einen Vorteil habe. Dies habe er spannend gefunden, denn „im Grunde musst du dein Image permanent weiter erfinden, und das ist es, was diese Figuren tun“.
Zu seinen Figuren werde aber nicht die Brücke via Social Media geschlagen, als freiwillige Selbstentlarvung der Menschen. Das fand Maurer zu einfach. Natürlich könne man die Leute mit Handys auf die Bühne gehen lassen. Doch gebe der Text selbst genug her und trage das Stück.
Strindberg, der von Freud beeinflusst gewesen sein soll, habe eine prototypische Konstellation geschaffen. Obwohl das Stück 1907 geschrieben wurde, sei es „ein archaischer Text der Moderne“. „Er würde nicht in der vorindustrialisierten Zeit funktionieren. Eine Überidee wird verdrängt durch Materialismus“, so Maurer.
Der Pelikan ist eine dunkle Farce über den Schein der Familie. Die Zuschauer/innen erwarte aber kein deprimierendes Stück. Es sei ein Stück auf der Kippe. Es liege im Auge des Betrachters, ob es einen eher herunterzieht oder man sich darüber kaputtlacht. Die Figurenkonstellation hat Maurer nur leicht verfremdet. Die Mutter Elise wird von Nora Koenig gespielt.
„Die Sprache von Strindbergs Protagonisten diene oft nicht mehr der Verständigung, sondern ihrer gegenseitigen Zerstörung ...“ liest man immer wieder über den ambivalent rezipierten, überempfindlichen Strindberg, der sich stets missverstanden fühlte. „Bei Strindberg gibt es auch eine problematische Seite, den Frauenhass“, weiß Maurer, der meint, „es ist wesentlich ambivalenter.“ Strindberg habe sich ausnahmslos starke Frauen gesucht, sich an ihnen abgearbeitet und wurde dann furchtbar wütend darüber, dass sie so stark sind. „Es spricht ja für ihn, dass er sich gerade solche Frauen ausgesucht hat“, verteidigt auch Nora Koenig den schwedischen Dramatiker. Dem Sohn habe er im Pelikan Rache zugestanden. „Dass er sich an der Mutter rächt, fand ich gefährlich, dass man sagt, es ist irgendwie nachvollziehbar, dass die Männer sich an den bösen Frauen rächen“, erläutert Maurer. „Auf der anderen Seite wollte ich diese Thematik ausklammern und habe deswegen die Rolle der Bediensteten zu einem Mann gemacht – aus einer allgemeineren Männerposition, womit man das problematisieren kann“, erklärt Maurer seinen Kunstgriff.
Man dürfe nicht vergessen, dass es in Der Pelikan um einen Erbschaftsstreit gehe, dass im Grunde alle auf die Erbschaft der Mutter starrten. Alle kreisten um sie wie Geier, so Maurer.
„Ich fand’s spannend mich mit Strindberg auseinanderzusetzen“, erzählt Nora Koenig. Gerade das Narzisstische an der Rolle der Mutter habe sie gereizt. „Es ist aber auch schwierig für mich, es wird immer alles der Mutter vorgeworfen, vom Vater reden wir gar nicht. Alle verehren diesen verstorbenen Vater und die Mutter ist an allem Schuld.“ Das sei etwas, was sie sehr gut kenne. Doch es sei noch mehr: Jeder poche auf sein eigenes Ich, darauf, das Recht zu haben, es ausleben zu können. Die Mutter blende aus, dass es auf Kosten von anderen gehe: „Ich missbrauche im wahrsten Sinne des Wortes meine Kinder für mein Ding.“
Man merke aber bei Strindberg, dass er selbst total hin und her schwanke. Doch gerade das mache ihn spannend, so Regisseur Maurer. Denn eigentlich trage das ganze System, in dem alle sich über ihr Ich definierten, Schuld.
Nach einer beeindruckenden Inszenierung mit einer wunderbar emanzipierten Nora Koenig als Stella, einer Kooperation mit dem Schauspiel Wuppertal im TNL in der Spielzeit 21/22, deren inklusiver Ansatz in weiten Teilen der luxemburgischen Kritik unverstanden blieb, arbeitet Maurer in Der Pelikan wieder mit den Luxemburger Schauspielern Nora Koenig und Germain Wagner. Das liege nicht zuletzt daran, dass sie mittlerweile ein eingespieltes Team seien. „Es hat Vorteile, dass man sich kennt, dass es ein stilles Verständnis gibt“, sagt der in Berlin lebende Maurer, der bereits seit 15 Jahren in Luxemburg Regie führt. Es sei toll, wenn man das Gefühl habe, dass man gemeinsam wohin will – auch in Gesellschafts- oder Rollenbildern.
Stefan Maurer ist kein autoritärer Regisseur, der strenge Anweisungen gibt. Er gibt seinen Figuren Raum zur Entfaltung. „Es gibt keine Stoppschilder bei mir“, sagt er. „Ich find’s wichtig, dass eine Atmosphäre von Freiheit entsteht, aber ich entwerfe trotzdem Bilder.“ Letztlich übertrage sich über Theater Bewusstsein.
Bietet die kleine Bühne des Escher Ariston den passenden Rahmen? „So klein ist die Bühne gar nicht“, meint Maurer. Für Strindbergs intimes Theater eigne sie sich perfekt. „Anfangs wird es sehr eng. Zwischendrin rücken wir uns ganz schön auf die Pelle.“ Die Bühne sei sehr nah am Zuschauer. Der nicht-sichtbare Raum spiele eine große Rolle.
Als Maurer zum Theater kam, wurde Strindberg rauf und runter gespielt. „Dann war auf einmal Sendepause. Und plötzlich ist er wieder der Autor der Stunde. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass er ein Krisen-, ein Umbruchsautor ist, weshalb man ihn jetzt wiederentdeckt.“ Es sei eine Freude, wenn man mit einem Text zu tun habe, in dem deutlich wird, dass Strindberg ein ganz eigenes Verhältnis von Sprache zur Welt hatte. „Er hat unendlich viel geschrieben und sagt eigentlich dennoch: Sprache dient dazu, sich mit dem Eigentlichen nicht zu beschäftigen.“ Das spüre man auch in der Arbeit, dass Sprache im Grunde eine Ablenkung ist, um wahre Missstände zu übertünchen.
Maurer wünscht sich, dass die Zuschauer/innen mit der Frage im Kopf hinausgingen: „Was ist dieses Selbstideal, das alle haben und womit auch wir beschäftigt sind?“ Die vereinende ethische Ordnung gebe es ja nicht, auch wenn Reaktionäre uns das glauben machen wollen. „Ich wünsche mir ein Erlebnis und eine Auseinandersetzung“, so Maurer. Idealerweise werde seine Inszenierung einen übers Lachen oder Erschrecken berühren. „Das hoffe ich, dass das passiert!“