Zeitgenössische Bühnenstücke mit Video-Projektionen bergen das Risiko, die historische Vorlage durch Effekte zu überformen. Entsprechend gewagt erscheint eine Neuinterpretation von Bizets 150 Jahre alter, allerorten rauf- und runter gespielter Carmen-Oper. Doch diese war bereits bei ihrer Uraufführung ein revolutionärer Bruch mit der Operngattung.
Glücklicherweise setzt Alexandra Lacroix gar nicht auf die x-te Neuinterpretation. In ihrer Kreation The Carmen Case, die Anfang Mai 2023 am Théâtre Auditorium de Poitiers (TAP) Premiere feierte, inszeniert sie den Klassiker als Gerichtsfall, die Komponistin Diana Soh setzt dezidiert auf Anleihen aus Bizets Oper.
So wollen Lacroix und Soh Alternativen des Schicksals Carmens aufdecken und zeigen: Ihr fatalistisch interpretiertes Ergehen hätte keineswegs so schicksalhaft sein müssen, wie es seit jeher dargestellt wird.
Im Hintergrund der kleinen Bühne im Grand Théatre ist ein omnipräsenter Bildschirm eingerichtet, über den anfangs eine Talkshow über Gewalt an Frauen ausgestrahlt wird. In der Runde der befragten männlichen Gäste auf der Bühne will niemand etwas mit den Vorfällen zu tun haben, vielmehr fühlen sie sich missverstanden und als Opfer der Justiz.
Dem voran ging ein Ehrenmord an einer Frau. Der ehemalige Lebensgefährte Carmens, José, hat die Tat bereits gestanden, doch die Öffentlichkeit hegt noch immer Zweifel – und fordert eine Anhörung. So wird der Fall zum öffentlich ausgetragenen Spektakel, in dem jeder seine Meinung äußert und vor Gericht verhandelt.
Bizets Carmen-Oper wird in Lacroix’ Kreation gewissermaßen von hinten aufgerollt. Der Prozess wird eröffnet, die Bühne wurde zum Gerichtssaal transformiert; vor hellem Holz heben sich die Figuren optisch gut ab. Anne-Lise Polchlopek gibt Carmen nicht im tiefroten Flamenco-Dress, sondern im lila Kleid: eine hochgewachsene Frau, die ästhetisch apart vor der Holzkulisse hervorsticht.
In einem durchsichtigen Glaskasten für alle und von fast allen Seiten sichtbar, der Angeklagte Don José der zunächst schnöde erklärt: „Ich liebe sie, ich habe sie getötet.“
Transparenz ist ein Stilmittel. So wird das Publikum von Anbeginn dazu animiert, Stellung zu beziehen. Zwei Zeitebenen interagieren und verschwimmen miteinander: der Prozess selbst und die Rekonstruktion der Etappen, die zu Carmens Ermordung führten.
Auf der Bühne wechseln die neun Darsteller/innen die Rollen, nachdem sie durch eine große Schwingtür förmlich in den Gerichtssaal hineingeweht werden. Die Tatwaffe, das Messer, wird in einer Plastiktüte versiegelt auf dem Bildschirm eingeblendet.
Die Parteien stehen sich gegenüber: Die erste Zeugin, Micaëla, erscheint im weißen Brautkleid, auf der anderen Seite Carmens Freundinnen, Frasquita und Mercédès, sowie ihr letzter (verschmähter) Liebhaber, der Toreador Escamillo.
Die Expertinnen entrollen eine meterlange Papierrolle mit psychoanalytischen Gutachten: ein starkes Bild. Don José sei stets ein guter Christ und rechtschaffener Bürger gewesen, sie muss ihn verhext haben, hört man. Vom gemeinen Volk wird Carmen als Flittchen gebrandmarkt.
In The Carmen Case wird den Aussagen des Publikums so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie der Partitur. Die musikalische Interpretation ist schräg und spannend gelöst. Sie erweist sich als ideale Untermalung des Geschehens: zeitgenössisch und doch dem Werk treu. Es spielt das hochkarätige luxemburgische Ensemble United Instruments of Lucilin, dirigiert von Lucie Leguay.
Der besitzergreifende José erscheint auf dem Bildschirm als bärtiger Revoluzzer (verträumt und pathetisch mit Tränen in den Augen), stets nach Carmen lechzend und schmachtend. Ihr „Nein“ versteht er bis heute nicht.
Lacroix findet eine Reihe ausdrucksstarker Bilder: Carmen eingezwängt zwischen zwei Holzblöcken, die sie zu zerquetschen drohen, oder José und Escamillo beim Schachspiel – wer wird gewinnen? Gut gelöst ist auch, den Täter José von zwei Darstellern verkörpern zu lassen: zum einen von François Rougier (frei), zum anderen von Xavier de Lignerolles (gefangen) ... Wenn die Kamera auf José in seiner Zelle zoomt, wird deutlich: Zwischen dem schmachtenden Liebenden und dem Täter liegt ein schmaler Grat.
Die Meinungen der Zuschauer/innen, die sich zu dem Fall äußern, verstärken die Unklarheit und schaffen zusätzliches Wirrwarr, etwa: „Sie ist es, die sterben wollte.“ – „Sie behandelt alle Männer mit derselben Verachtung.“ – Oder: „Er wollte sie besitzen.“ Die Gesellschaft ereifert sich über das Verbrechen und meint, das Verbrechen – den moralischen Zeigefinger erhebend – bewerten zu müssen. Der schöne Escamillo kommt zu Wort und beschwert sich: „Die Liebe von Carmen dauerte keine sechs Monate!“, während der Chor einwirft: „Sie wird Dir nie gehören.“
Anne-Lise Polchlopek überzeugt als physisch große, überlegen wirkende Carmen – weniger kokett, als vielmehr abgeklärt –, die ihren Freiheitsdrang mit ihrem Leben bezahlen wird. Die fesselnde Inszenierung überrascht durch ein starkes Ende. Sie verbrennt das Schreiben der Verteidigung – die Flamme wird kurz und heftig auflodern. Doch irgendwann ist auch sie erloschen. Am Ende steht zu Recht der frenetische Applaus des Publikums.