Luxemburgensia

Wer da?

Kleines ABC der Pseudonyme in Luxemburg
Foto: TPC
d'Lëtzebuerger Land vom 22.06.2018

2003 nahmen die Mitarbeiter des Centre national de littérature ihre Arbeit am Autorenlexikon auf, einem verdienstvollen Projekt, das die Forschung zu Luxemburger Autoren seit der Freischaltung der Webseite ungemein erleichtert1. Seit 2003 arbeitet Nicole Sahl am CNL; sie hat über 150 Beiträge zum Autorenlexikon verfasst und kennt die Schwierigkeiten, mit denen sich Archivare und Forscher bei der Zuordnung einzelner Texte konfrontiert sehen. Es fällt nicht schwer zu glauben, dass die Geschichte der Publizistik im Allgemeinen und der Literatur im Besondern in einem kleinen Land wie Luxemburg besonders viele Autoren hervorgebracht hat, die nicht unter Klarnamen veröffentlichen. Allein das Ausmaß verblüfft: Der Erfassung von 17 000 Autoren in der Datenbank des Autorenlexikons entsprechen rund 10 000 Kürzel und Pseudonyme. Sahls Lexikon der Pseudonyme in Luxemburg ist damit das Resultat einer beachtlichen Fleißarbeit, die weit über den Umfang der repräsentativen und besonders interessanten Einträge hinausgeht, die ins Buch aufgenommen wurden.

Auch wenn sich die in einzelnen Artikeln nachgezeichnete Suche nach der Identität von Autoren manchmal geradezu wie Kurzkrimis liest, macht Sahls methodisches Vorgehen aus der Anthologie mehr als eine bloße Kuriosität. Als besonders nützlich erweist sich die systematische Zuordnung zu verschiedenen Kategorien von Pseudonymen, wie dem Anagramm (zum Beispiel „Emile Plosch“ für Pol Michels) oder dem Traductionym (zum Beispiel „François Guillaume“ für Frank Wilhelm). Sympathisch wirkt, dass die Herausgeberin ganz offen mit der Fehlbarkeit einiger ihrer Vermutungen umgeht und sogar die Hoffnung äußert, durch Reaktionen von Lesern mehr über die Identität der Maskenträger zu erfahren. Eine ganze Reihe der angeführten Pseudonyme gelten nach wie vor als unentschlüsselt.

An die Fragestellung, welche Pseudonyme in Luxemburg gebraucht wurden und werden, schließt Sahl die Frage an, aus welchen Gründen Autoren es bei der Veröffentlichung vorzogen, ihren Namen zu verbergen. Aus dieser Perspektive wird das Lexikon auch für den literaturtheoretischen Diskurs spannend. Der Leser wird sich schließlich nicht nur fragen, welcher Autor sich in Wahrheit hinter der Maske eines Fantasienamens verbirgt, sondern auch, warum er es ablehnt, mit bürgerlichem Namen für seinen Text einzustehen. Was die Beweggründe für die Wahl eines Pseudonyms anbelangt, so helfen nicht nur die von Sahl angegebenen Kategorien bei der Differenzierung, sondern auch die Hinweise auf die Textarten und Kontexte des Gebrauchs.

Eine erste naheliegende Art von Texten, deren Autoren ihre bürgerliche Identität verschleiern möchten, sind Erfahrungsberichte und Fiktionen, mit denen der Verfasser seine gesellschaftliche Stellung, seinen Ruf oder seine berufliche Zukunft aufs Spiel setzt. Sahl wählt auch das Beispiel von Erotikliteratur in den 60-er Jahren („Marina di Castello“) oder das einer Gruppe von Professoren, die 2003 unter dem Namen „Hieronymus von Busleyden“ auf Missstände am Centre universitaire aufmerksam machen wollten.

Eine Sonderstellung kommt zweitens der Satire zu, vor allem im luxemburgischen Kontext mit seinem engmaschigen Netz persönlicher Verknüpfungen sowie der Affinität verschiedener Medien zu politischen Parteien. Ein Blatt wie Den Neie Feierkrop, dem Sahl in ihrem Lexikon entsprechend viel Platz einräumt, konnte in den fünfundzwanzig Jahren seines Bestehens unter dem Schutz der Pseudonymität als zuweilen notwendiges Korrektiv zu konventionellen Medien wirken. Von den Autoren satirischer Texte wird gemeinhin nicht erwartet, dass sie ihre Identität preisgeben; die Verletzung von Konventionen der Kommunikation ist für die Satire ohnehin konstitutiv, etwa dadurch, dass sie lächerlich macht und überzeichnet. Abgesehen von Kürzeln, die sich gewöhnlich leicht einem bestimmten Autor zuordnen lassen, erscheint die Verwendung von Pseudonymen zu journalistischen Zwecken ansonsten fragwürdig und wird dementsprechend in mehreren Artikeln des Lexikons in Zitaten von Zeitgenossen der Autoren problematisiert. Sie bezeichnen Journalisten, die auf den Personenbezug in sachbezogenen Diskussionen verzichten, oft deutlich als Drückeberger und Feiglinge.

Wie aber steht es mit der literarischen Produktion? In der Literatur geht es schließlich nicht vorrangig um Aussagen, die sich an Wahrheitswerten messen lassen; literarische Texte sind nicht wahr oder falsch, sondern schön (gut), schlecht oder etwas dazwischen. Berechtigt der Status des Kunstwerks automatisch zum Spiel mit der Erkennbarkeit der Urheberschaft? In dieser Hinsicht wäre eine Rückbindung der von Sahl gewonnen Erkenntnisse an Theorien und Auffassungen von Autorschaft sicher lohnend, etwa, ob seit Roland Barthes’ These vom „Tod des Autors“ eine Veränderung im Gebrauch von fingierten Namen stattgefunden hat, ob dieser möglicherweise im Rahmen eines erweiterten Werkbegriffs zu betrachten ist, der die Selbstdarstellung des Autors als äußere Instanz des Werks begreift. Soviel scheint jedenfalls sicher: wer die Autoridentität verschleiern wollte, um alle Aufmerksamkeit auf den Text zu lenken, bräuchte sich nicht um eine Pseudo-Identität zu bemühen, sondern könnte den Autornamen einfach ganz streichen.

Zu bemerken bleibt, dass viele Pseudonyme überhaupt nicht der Verschleierung dienen; die Autoren wählen sie beispielsweise zur Bekräftigung ihrer künstlerischen Identität (Anita Gretsch/Claire Leydenbach, Jean Sorrente/Jean-Claude Asselborn und­soweiter.). Andererseits gibt es die tatsächlichen Decknamen, deren Entschlüsselung nicht auf Anhieb möglich ist. In seinem Abreißkalender geißelt Batty Weber 1927 die Verwendung von Pseudonymen in den Cahiers luxembourgeois als „unnötiges und unangebrachtes Zeichen von Dilettantismus“. Tatsächlich lässt sich an einer Vielzahl von Pseudonymen ab dem 19. Jahrhundert bis weit in die Nachkriegszeit ein dilettantisches Verhältnis zur Kunst ablesen: Die Autoren sind Freizeitschreiber, für die der bürgerliche Beruf Vorrang hat und das Schreiben den Status eines nicht ganz seriösen Zeitvertreibs einnimmt. Ein sprechendes Beispiel ist der Name „E. Feierabend“.

Im 21. Jahrhundert darf man allerdings davon ausgehen, dass der Nachweis einer künstlerischen Aktivität im Hinblick auf die soziale Stellung (beziehungsweise die Stellung in den sozialen Medien) allgemein eher als Plus gilt. Der Sinn eines Versteckspiels erschließt sich mithin vor allem aus der Frage, mit wem dieses Spiel überhaupt gespielt werden kann. Sicher nicht mit den wenigen Lesern luxemburgischer Autoren, da Leser – so wollen es die Gesetze des Buchmarkts – in der Regel zu Büchern von Autoren greifen, deren Namen sie kennen. In Luxemburg ist das umso eher der Fall, als Verlage keine großen Mittel aufwenden (können), um literarische Veröffentlichungen zu bewerben. So spekuliert der unter Decknamen schreibende Autor offenbar darauf, dass seine Identität von einem Rezensenten in Frage gestellt wird, damit sich aus dieser Spekulation eine verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit entwickelt. Der Rezensent wird mithin, falls er einfältig genug ist, seine Zeit für solche Spielchen zu opfern, als Mittel zum Zweck eines größeren Verkaufserfolgs eingespannt. Aus dieser Perspektive entpuppt sich der Gebrauch des Pseudonyms als fingiertes Ablenkungsmanöver, das – zumindest in der gegenwärtigen Literaturlandschaft Luxemburgs – in Wahrheit dazu gemacht zu sein scheint, wie ein großer Leuchtpfeil auf den Autor zurückzuweisen.

1 Vgl. www.autorenlexikon.lu

Nicole Sahl: Kleines ABC der Pseudonyme in Luxemburg. 351 S. Centre national de littérature, Mersch 2018. ISBN 978-2-919903-62-7.

Elise Schmit
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