Lesung

Cross the border

d'Lëtzebuerger Land vom 27.04.2018

Vor anderthalb Jahren, am 19. Juli 2016, ist Jean-Paul Jacobs in Berlin verstorben. Das Kasemattentheater widmete dem Luxemburger Dichter am 18. April eine Lesung aus Originaltext und Kommentar, die einen anschaulichen Überblick über Leben und Werk bot. Zusammen mit der Schauspielerin Christiane Rausch, die den Großteil der Gedichte und Zitate des Autors vortrug, erinnerte Claude Conter, Leiter des Centre national de littérature und einer der Nachlassverwalter des Autors, an eine vor allem in den Anfangsjahren stürmische Künstlerkarriere. Der relativen Bekanntheit von Jacobs’ Spätwerk, die auf zahlreiche Veröffentlichungen und die Auszeichnung mit dem Prix Servais (2004) zurückgeht, setzte Conter die allgemein weniger bekannten Facetten der dichterischen Anfänge entgegen. In Berlin, wohin er in den sechziger Jahren dem Luxemburger Mief entflohen war, führte Jacobs ein unstetes Berufsleben, lebte in einer Künstlerkommune und schrieb Texte, die auf Krawall und Provokation ausgerichtet waren. Ausgehend von Jacobs’ erstem Gedichtband apoll kaputt und frühen Texten wie dem Gedicht „Die Demonstration“ oder der Kriminalsatire Die Toten schießen schneller verdeutlichte Conter die „Schockästhetik“ des jungen Jacobs, seine Verweigerung politischer Vereinnahmung in einer hochpolitisierten Umgebung, sein Angehen gegen ein verknöchertes bürgerliches Kunstverständnis. Die in dieser Schaffensphase typische Darstellung grotesker Gewaltexzesse und sexueller Freizügigkeiten band Conter zurück an Jacobs’ Bestreben, gemäß Leslie Fiedlers Schlagwort „Cross the border – close the gap“ Genrekonventionen aufzuheben und Grenzen zwischen hoher und populärer Kunst zu verwischen. Nicht ausgelassen wurden dabei Jacobs’ vergebliche Bemühungen, im deutschen Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Als Überraschungsgast betrat anschließend der Schriftsteller Pol Greisch die Bühne, um unter dem Gelächter des Publikums im Wechsel mit Christiane Rausch aus Jacobs’ fiktiven Telefongesprächen (De Jean-Paul rifft de Roger un, 1993) vorzulesen. Auch der Autor selbst kam noch in einem Tondokument zu Wort, das sich im Nachlass von Roger Manderscheid gefunden hat. In diesen Momenten der Heiterkeit entsprach die Lesung Jean-Paul Jacobs vermutlich am meisten. Wie der Dichter in seiner Dankesrede zur Verleihung des Prix Servais bekannt hatte, bestand nämlich genau darin die Zielrichtung seines Werks: den Leser zu „erquicken“ und zu „ergötzen“.

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