Europäischer Frühjahrsgipfel

Vereinigte Eurostaaten von Europa

d'Lëtzebuerger Land vom 31.03.2011

In unserer schnelllebigen Zeit weiß man in der Regel heute nicht mehr, was gestern war. Früher, in grauer Vor-Internet-Zeit, gab es ein Maß für viele Dinge, das so lange dauerte, bis die Erde einmal die Sonne umkreist hatte. Herman Van Rompuy hat uns daran erinnert: Nach dem europäischen Frühjahrsgipfel trat er am 25. März vor die Presse und las seine vorbereitete Erklärung her­unter. Japan. Libyen. Europäische Wirtschaftspolitik. Genau ein Jahr zuvor hatte ihn der Europäische Rat beauftragt, ein Konzept für eine bessere und gemeinschaftlichere Wirtschaftspolitik zu entwickeln. Ein Jahr später sind die Ergebnisse verabschiedet. Van Rompuy hätte ruhig mal stolz in die Kamera gucken können. Er hätte mal lächeln können. Er hätte sagen können: Wir waren richtig gut, dass hätte uns vor zwölf Monaten keiner zugetraut. Nichts von alledem. Ein Van Rompuy kann nicht auch seiner Haut.

Versteckt hat sich der Belgier aber auch nicht. Trocken zählte er die Erfolge auf: 1. Der Euro-Plus-Pakt ist beschlossen, an dem sogar sechs Nicht-Euro-Länder teilnehmen werden und für den, man höre und staune, Spanien, Frankreich, Belgien und Deutschland sogar schon konkrete Programme vorgelegt haben. 2. Es gibt einen voll ausgearbeiteten Stabilitätsmechanismus einschließlich zeitlich begrenzter Finanzhilfen. 3. Der Lissabon-Vertrag wird geändert, um den Stabilitätspakt zu legalisieren, nachdem sich das Europäische Parlament dazu positiv geäußert hat. 4. Der Rat hat sich mit dem Europäischen Parlament auf sechs Gesetzesvorschläge zur Budgetüberwachung und zur makro-ökonomischen Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitik geeinigt.

Herman Van Rompuy spricht von einem grundlegenden Wechsel, den die Europäische Union in der Wirtschaftspolitik vollzogen habe. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von einem politischen Signal an die Märkte, dass die EU-Staaten stärker zusammenwachsen wollen. Jean-Claude Juncker zeigt sich leicht genervt, weil er als Vorsitzender der Eurogruppe die undankbare Aufgabe hat, zum 750-ten Mal den Deutschen zu erklären, dass sie nicht die einzigen sind, die Geld für die neue europäische Währungssolidarität bereitstellen müssen (siehe auch S. 9). Den EU-Staats- und -Regierungschefs sind die Absprachen und neuen Gesetze offensichtlich so schwer gefallen, dass nicht einer von ihnen auf den Gedanken gekommen ist, dass man das Erreichte ja auch mal mit seinen Bürger feiern könnte. Das politische Signal an die Märkte und Ratingagenturen ist allemal wichtiger als die eigenen Bürger und die grundlegende Weichenstellung für die Zukunft. Man kann den Angstschweiß fast noch riechen, den die europäischen Politentscheider das Jahr über ausgeschwitzt haben. Vor den Märkten und vor den Wählern.

Die Krise der Staatsfinanzen Griechenlands, Portugals und Irlands wird einmal zu Ende sein, auch wenn sie in keinem der Länder schon ausgestanden ist. Die Keimzelle einer europäischen Wirtschaftsregierung aber wird bleiben und sich weiterentwickeln. Europa hat wieder einmal bewiesen, dass es in Krisen wachsen kann. Das passt nicht jedem. In Deutschland und anderswo erheben zahlreiche Wirtschaftsexperten mahnend ihre Finger gegen den Europakt und beschwören das unvermeidliche Ende des Euro. Am ersten Gipfeltag protestierten fast 20 000 belgische Gewerkschafter im Brüsseler Europaviertel. Sie fürchten, dass die EU ihre Mitgliedstaaten zwingt, die Indexierung von Löhnen abzuschaffen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, Vorruhestand, öffentlichen Dienst und Staatsdefizite abzubauen. Sie vergessen dabei, dass es die Mitgliedstaaten selber sind, die diese Politik vorantreiben und dass auf Dauer nur ein gesunder Staatshaushalt die Grundlage für eine gesunde Wirtschaftspolitik liefert. Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist nicht einfach nur das Platzen einer Spekulationsblase gewesen, sondern auch eine Zeitenwende. 40 Jahre mehr oder weniger fröhlichen Schuldenmachens sind an eine Grenze gestoßen. Es ist auf jeden Fall besser, dass Europa auf dieses Problem eine gemeinsame Antwort gefunden hat. Ohne die gemeinsame Währung hätte es diese Antwort nicht gegeben.

Damit sieht es so aus, dass diejenigen Recht behalten werden, die der Auffassung waren, eine gemeinsame europäische Währung werde den politischen Überbau schon erzeugen, der für ihre Schaffung eigentlich Voraussetzung gewesen ist. In der Krise hat sich die Politik gegenüber den Märkten doch noch durchgesetzt. Die nächste Reise der Erde um die Sonne dürfte aus euro-europäischer Sicht weniger turbulent verlaufen.

Christoph Nick
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