Es war die Stunde des Abschieds. Zu Beginn seiner Erklärung zur Lage der Nation bedankte sich Premier Jean-Claude Juncker am Dienstag bei dem „bravourösen“ DP-Fraktionssprecher Charles Goerens und, zu Tränen gerührt, bei dem „alten Freund und Feind“, dem LSAP-Abgeordneten John Castegnaro. Den CSV-DeputiertenMarcel Glesener hatte er noch schnell in das Lob eingeschlossenund im letzten Augenblick auch noch Parteikollege Fred Sunnen. Siealle wollen am 7. Juni nicht mehr zurück auf den Krautmarkt.
Doch in Wirklichkeit war die Rede anderthalb Monate vor den Wahlen auch ein wenig ein Abschied von einer bis dahin vergleichsweise heilen Welt. Das Wort „Krise“ kam gleich 60 Mal darin vor. Es war der Abschied vom Wirtschaftswachstum. Noch imOktober habe man geschätzt, dass die Wirtschaft in Luxemburg 2009 um drei Prozent wachse, in den nächsten Wochen, so Juncker, werde die Europäische Kommission ankündigen, dass sie wohl um drei Prozent schrumpfen werde.
Aber auch Abschied überhaupt von einer Phase des jährlich vierprozentigen und höheren Wirtschaftswachstums: „Mittelfristig landen wir bei einem Wachstumspotenzial von weniger als drei Prozent und langfristig unter zwei Prozent“, schätzte der Premier,der noch Anfang des Jahrzehnts in seiner Erklärung zur Lage der Nation nachhaltig werden und den 700 000-Einwohnerstaat durch eine gezielte Senkung des Wirtschaftswachstums verhindern wollte.
Abschied von einem Finanzplatz, der während Jahren von Fed-ChefAlan Greenspans nun mit einem Bankenkrach brutal beendeten „irrational exuberance“ profitierte und mit ihm das ganze Land. Der Finanzplatz „wird nach der Krise nicht mehr die überragende Bedeutung haben, die er heute hat“.
Das bedeutet auch den Abschied von den Haushaltsüberschüssen und Mehreinnahmen: Nach derzeitigem Wissensstand belaufe sich das Haushaltsdefizit am Ende dieses Jahres auf 640 Millionen Euro. Es werde aber wohl noch mehr, „deutlich über zwei Prozent“ des Bruttoinlandsprodukts. Denn die Steuern gingen weiter zurück und die Sozialausgaben stiegen krisenbedingt weiter an. Auch nächstesJahr schließen die Staatskonten im Defizit ab und steige die Staatsschuld. „Wir laufen Gefahr, Ende 2010 keine Reserven mehr in den Investitionsfonds zu haben. Dann wären die Reserven der Investitionsfonds auf null, pleite, wie ich anderswo sagte.“ Wobei der Regierungschef es für nötig hielt, klarzustellen, dass dann nur die Investitionsfonds, nicht aber das Land pleite seien. Wenn eine Bank klarstellen muss, dass sie nicht pleite ist, ist ihr Krach nicht mehr zu verhindern.
Es war auch ein Abschied von Nachbarn, die der Premier für Freunde gehalten hatte. Von jenen in Frankreich und Deutschland, jenen in der Europäischen Union, die gestern noch das kleine Luxemburg einen gleichberechtigten Partner nannten und es heute wie einen Aussätzigen auf graue Listen setzen. Trotz seinerBereitschaft zum Informationsaustausch auf Anfrage. Also ein Abschied vom zweitletzten Rest Bankgeheimnis: „Wütend bleibe ich auf das G20-Spektakel in London“, obwohl „wir nicht viel verlieren, aber neue Gelegenheiten hinzu bekommen“.
Leicht fiel nur der Abschied von einer Ideologie, in deren Namen Bankdirektoren, Unternehmerverbände und DP-Politiker Juncker als Sozialromantiker und Ewiggestrigen lächerlich gemacht hatten, und die nun in die Katastrophe geführt haben: „Der Marktradikalismus gehört in den Mülleimer.“ Denn „Luxemburg ist keine Firma. Luxemburg ist ein Staat.“ Ein Staat, an den beispielsweise appelliertworden sei, als „das Risiko des Zusammenbruchs von Fortis und Dexia absolut gegeben war“.
Vor allem aber war es ein Abschied von der Vorhersehbarkeit, der Fähigkeit, irgendwie abzusehen, wie es in nächster Zeit weitergehen soll. Noch keine Erklärung zur Lage der Nation „war so schwierig wie diese, weil man so wenig über das weiß, was kommt“, klagte Juncker. Der von der CSV versprochene „sichere Weg“ sei noch nie so schwer zu finden gewesen wie heute. Deshalb schien die Rede, die das Land anderthalb Monate vor den Wahlen eigentlich aufrütteln, zusammenschweißen und begeistern sollte, planlos zusammengekleistert, voll Wiederholungen und Widersprüchen.
Gleich dreimal zählte der Premier auf, dass dies seine 15. Erklärungwar. Der DP, die noch am Vortag Durchhalteparolen für das Volkverlangt hatte, riet er: „Die Parteien wären schlecht beraten, wenn siedie Lage schön malen würden“, um wenig später mit der Feststellung zu überraschen: „Ich weiß nicht – und wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht sagen –, wie lange dieWirtschaftskrise anhält.“
Am Ende einer Legislaturperiode hört sich eine Erklärung zur Lageder Nation gemeinhin wie die Abschlusskonten der fünf Jahre zuvordem Parlament vorgetragene Regierungserklärung an. Doch der Regierungschef lobte nur floskelhaft seine Minister und ihre Arbeit. Er wusste, dass in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten niemand sich für die Vergangenheit interessiert und alle nur wissen wollen, wie es weitergeht.
Aber über die Zukunft wusste der Premier kaum etwas zu sagen, sogar weniger, als man von einem Mister Euro erwarten konnte. Abgesehen von der Aufforderung, „ein Volk von Zukunftsdetektiven“ zu werden, und der Feststellung, dass die „Stunde der alternativen Energien“ schlage, war die einzige handfeste Zukunftsperspektive dann auch, dass nach den Wahlen gespart werden müsse.
Trotz der Notwendigkeit, die Konjunktur weiter zu stützen, müssenächstes und übernächstes Jahr begonnen werden, die Staatsfinanzenzu konsolidieren. Die laufenden Ausgaben dürften insgesamt nichtschneller als der Index steigen, fakultative Subventionen müsstengründlich gerechtfertigt oder gestrichen werden, an Steuersenkungensei während der ersten Hälfte der Legislaturperiode kaum zu denken.Und beim Ausbau von Sozialleistungen müsse zwischen Sach- und Geldleistungen abgewogen werden – so wie es teilweise wörtlich bereits im CSV-Wahlprogramm steht.
Ansonsten waren sich alle Parteien beinahe einig. Für Charles Goerens (DP) war die Erklärung „ganz deskriptiv“, für Gast Gibéryen „eine sehr zaghafte Lagebeschreibung“, für Ben Fayot „eine Beschreibung ohne Beschönigung“ und für François Bausch „eine Analyse, die wir weitgehend teilen“. Selbst Claude Meisch fiel es leichter, Junckers Ratlosigkeit in der Krise anzuprangern, als selbst Rat zu wissen.
Wenn der Premier sich mitten im Wahlkampf sogar bei der Opposition bedanke, meinte ADR-Sprecher Gast Gibéryen, sei das ein Ausdruck von Machtlosigkeit. Aber wenn der Premier sich bei ihr bedanken kann, ist es auch ein Ausdruck der Machtlosigkeitdieser Opposition. Die schon in der kurzlebigen Krisenkommissionund im Finanz- und Haushaltsausschuss des Parlaments mit derMehrheit zusammensaß, Experten zuhörte, die Achseln zuckte und am Ende der Debatten am Mittwoch nichts mehr ausschloss, selbst die DP nicht einmal mehr Steuererhöhungen nach den Wahlen, wenn auch als „letzten Ausweg“.
Vor allem versuchte der Premier die Wähler zu beruhigen und das zu tun, was von einem Kandidaten im Südbezirk erwartet wird: sich als obersten Verteidiger des Sozialstaats in diesen stürmischen Zeiten darzustellen. Wiederholt betonte er, dass es unter ihm nicht zu Sozialabbau kommen werde oder nur ganz wenig.
Was schon an eine Empfehlung zugunsten einer Fortsetzung der CSV-Koalition mit der LSAP grenzte. Denn bei der Verteilung der Krisenlasten müssten „breite Schultern in den nächsten Jahren vorübergehend bereit sein, mehr zu tragen. Schmale Schultern vertragen keine zusätzliche Last. Dafür stehe ich ein. Dafür stehen die zwei Koalitionsparteien ein.“ CSV und LSAP haben also nichtnur gemeinsame Vorstellungen für die Jahre nach den Wahlen, sondern wollen auch die sozial Schwachen entlasten. Während Claude Meisch im Namen der DP am Mittwoch an die Regierung appellierte, „die Mittelschichten vor dem sozialen Abstieg“ zu schützen.