Weitere Gründe dafür, dass die Dichter lügen

d'Lëtzebuerger Land du 13.12.2024

Ein Gespenst geht um in der Luxemburger Literatur – noch eines. Nachdem Tania Naskandy ein kurzes Corona-Comeback gefeiert und Tomas Bjørnstad soeben ein neues Buch vorgelegt hat, mischt sich nun auch Fabio Martone unter die Pseudonyme. Wie bei seinen Kolleg:innen handelt es sich bei ihm um das, was Fernando Pessoa ein Heteronym nannte, ein zum fiktiven Autor ausgeschmücktes Pseudonym.

Adrian Rooms Dictionary of Pseudonyms (2010) kennt 13 000 Pseudonyme, jedoch keines aus Luxemburg. Dabei gibt es hier überdurchschnittlich viele, wie Nicole Sahl in ihrem Kleinen ABC der Pseudonyme in Luxemburg (2018) feststellte. Die CNL-Forscherin macht dafür in erster Linie eine „kleine, bürgerlich-katholisch-konservative Gesellschaft“ verantwortlich, in der man sich offenbar hüten muss, mit seinen Aussagen identifiziert zu werden.

Schriftsteller/innen wurden wegen dem, was sie sagen, schon immer verdächtigt. Der Titel dieses Artikels ist der eines Gedichts von Hans Magnus Enzensberger. Er spielt auf Platons berühmte Kritik an den Dichter/innen an: Die ahmen lediglich die sinnliche Wirklichkeit nach, die selbst nur eine Nachahmung der einzig wahren Welt der Ideen ist. Statt sich dieser zu nähern, rücken sie mit ihren Kopien von Kopien weiter von ihr ab.

Heute verlangt man von Schriftsteller/innen, dass, wenn sie das Nachahmen schon nicht lassen können, sie dabei doch bitte möglichst nah an ihrer jeweiligen Lebenswirklichkeit bleiben. Ja nicht zu viel erfinden, und vor allem nicht über Menschen schreiben, die nicht sind wie man selbst. Eine sehr lesenswerte Kritik dieser Haltung präsentiert Zadie Smith in ihrem Essay „Fascinated to Presume: In Defense of Fiction“ (New York Review of Books, Oktober 2019).

Man kann die Praxis von Naskandy und Co. auch als Reaktion auf diese Fiktionsskepsis verstehen. Hier wird nicht weniger erfunden, sondern mehr. Guy Rewenig und Nico Helminger haben sich nicht nur in andere Menschen hineinversetzt, sie haben so getan, als ob sie andere Menschen seien – mit anderem Alter, Geschlecht, Geburtsland und so weiter. Die Fiktion ist nicht mehr auf den Text beschränkt, der sich zwischen zwei Buchdeckeln befindet, sondern umfasst nun auch die Buchdeckel selbst: Name, Biografie und weitere Details zu einem Autor oder einer Autorin werden miterfunden.

Die Ausweitung der Fiktion bedeutet nicht ihre Aufhebung. Naskandy trat mit sprechendem Namen (ital. „nascondere“ = verstecken) und fragwürdigem Lebenslauf auf. Bjørnstad kokettierte in seinen Texten mit seiner Identität. Die Fotos der beiden verdeckten mehr, als sie zeigten. Hinzu kommt die „Google-Gläubigkeit“, mit der Elise Schmit 2010 (d’Land 19.03.2010) im Fall Naskandy argumentierte: Buchautor/innen tauchten selten aus dem digitalen Nichts auf. Heute, wo sich das soziale Leben noch weiter ins Netz verlagert hat, erscheint vielen eine Existenz ohne Online-Profile ohnehin schwer vorstellbar.

Identität hat sich längst als zweischneidiges Schwert erwiesen. Man kann mit ihr gegen Diskriminierung und für mehr Sichtbarkeit von Unterdrückten kämpfen, aber auch Menschen auf ihrem scheinbar vorgegeben Platz in der Gesellschaft festnageln. Im Einwandererland Luxemburg fragt man: „Wo kommst du eigentlich her?“, selbst wenn jemand schon Jahrzehnte hier lebt. Naskandy, Bjørnstad und Martone antworten mit ungarischen Wurzeln, einem Vater aus Norwegen, einer italienischen Abstammung. Das erscheint anmaßend, vielleicht umso mehr, wenn es nicht nur von den empirischen Fakten abweicht, sondern noch ungeklärt ist, wo jemand „eigentlich“ herkommt.

Zadie Smith spricht vom Risiko, das der Fiktion stets innewohnt: Ob man mit den Menschen, auf die man in der Literatur trifft, mitfühlt oder sie als bloße Klischees wahrnimmt, entscheidet sich in jeder Begegnung zwischen Text und Leser/in aufs Neue. Die Identität des Autors oder der Autorin lässt kein Vorab-Urteil zu. Engen gesellschaftlichen Verhältnissen, die der Fiktion wenig Raum lassen, können sich Schriftsteller/innen auch dadurch entziehen, dass sie diese Identität mit aufs Spiel setzen.

Jeff Thoss ist Mitinhaber des Verlags Hydre Éditions,
bei dem Fabio Martones

Jeff Thoss
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