Der Verkehr im Großherzogtum soll seine CO2-Emissionen bis 2030 mehr als halbiert haben. Was bedeutet das für Luxemburgs Zapfsäulen? Ein Besuch auf der umsatzstärksten Tankstelle der Welt in Berchem

Voll ausgetankt

d'Lëtzebuerger Land vom 06.08.2021

Leben im Truck Dienstag, 17.34 Uhr, Zeit für eine Pause. Saïd kramt seinen Espressokocher hervor und stellt ihn auf eine kleine Kochplatte zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. Neben der Milch im Kühlfach drunter tummeln sich Schokobonbons, Käse und Wurst. Das Fahrerhaus seines Lkw ist gleichzeitig auch Saïds Wohnung. Privatsphäre auf zwei Quadratmetern. Alles Nötige hat er mit an Bord. Die Raststätten sind teuer, deshalb kauft er die Vorräte für die gesamte Woche immer vorher ein. Elf Monate im Jahr ist der in Granada lebende Marokkaner auf Achse. Seit drei Jahren fährt er quer durch Europa, und weil er seine Familie so selten sieht, sitzt seine Frau heute neben ihm, eine Dose macarons aux amandes auf dem Schoß. Sie wird Saïd auf seiner Tour nach Lübeck begleiten, ehe die beiden am Montag wieder spanischen Boden unter ihren Rädern haben werden. Der Tachograph zeigt die verbleibenden Stunden bis in die norddeutsche Stadt an: Sieben. Weil Saïd heute schon fünf gefahren ist und die magischen neun nicht überschreiten darf, will er sich in Köln einen Schlafplatz suchen. „Das kann stressig werden, manchmal dauert es ewig, bis ich eine Lücke finde.“ Einmal vollgetankt und los gehts.

Brummifahrer wie Saïd gibt es viele. Etwa 1500 sind es, die hier täglich Halt machen, an der Aire de Berchem. Die 1983 errichtete Anlage an der E25/A3 (Richtung Luxemburg-Stadt) umfasst eine Fläche von 60 000 Quadratmetern (8,4 Fußballfelder) und ist damit 30 Mal größer als eine durchschnittliche Autobahn-Tankstelle in Europa. Dass hier der Sprit nicht ausgeht, dafür sorgen die Tanklastwagen von Shell, die in regelmäßigen Abständen die Zapfsäulen nachfüllen. Einer hat gerade geparkt, schwere schwarze Arbeitsstiefel plumpsen auf den Asphalt, zügig stellt der Fahrer rote Warnhütchen um seinen Tanker auf, bevor 40 000 Liter Diesel in ein unterirdisches Becken laufen. Eine Million Liter Diesel können hier unter der Erde gespeichert werden. „Im Sommer kommen bis zu 30 Tanklaster nach Berchem“, gibt der Lothringer Auskunft. „Pro Tag!“ 10 000 Liter Kraftstoff werden hier in der Stunde verkauft, „so viel wie sonst nirgends.“ Ob sich der Shell-Fahrer im Jahr 2030 immer noch über diesen Weltrekord freuen kann, ist fraglich.

Leben ohne Diesel Im Mai ist in den Niederlanden ein historisches Urteil zum Klimaschutz gefallen. Der Öl- und Erdgaskonzern Shell muss seine Kohlendioxid-Emissionen drastisch senken, wie ein Gericht in Den Haag entschieden hat. Bis 2030 muss Shell seinen CO2-Ausstoß um netto 45 Prozent im Vergleich zu 2019 senken.

Das Urteil könnte zum Präzedenzfall für Konzerne im Rest Europas werden: Der britisch-niederländische Konzern ist von nun an zum Klimaschutz verpflichtet. Das gelte für die eigenen Unternehmen ebenso wie für Zulieferer und Endabnehmer, heißt es in dem Urteil. Diesem vorangegangen war eine Klage von mehreren Umweltorganisationen sowie mehr als 17 000 Bürgern. Shell verstoße gegen die globalen Klimaziele und investiere weiter umfangreich in die Förderung von Öl und Erdgas, hieß es vonseiten der Kläger.

Zwei Monate später, im Juli nun, hat Umweltministerin Carole Dieschbourg (Déi Gréng) die detaillierten Klimaziele für Luxemburg vorgestellt. In fünf Bereichen sollen die Treibhausgase bis 2030 deutlich sinken: in der Industrie, im Verkehr, beim Energieverbrauch von Gebäuden, in der Landwirtschaft und in der Abfallwirtschaft. Die Ziele sehen in einigen Bereichen stärkere Reduktionen vor als in anderen. So sollen die CO2-Emissionen im Vergleich zu 2005 im Verkehr um 57 Prozent sinken. Heißt das, dass die Spritpreise jetzt steigen? Anruf bei Romain Hoffmann. „Wir sind nicht frei, unsere Preise festzulegen, weil der Staat einen maximalen Betrag vorgibt“, sagt der Präsident des Groupement pétrolier luxembourgeois (GPL). „Im Januar hat Luxemburg zudem die CO2-Steuer eingeführt.“ 20 Euro pro Tonne, das sind knapp fünf Cent pro Liter mehr für Benzin und Diesel. 2022 soll der CO2-Preis dann bei 25 Euro liegen, 2023 bei 30 Euro. Momentan haben 17 EU-Länder eine solche CO2-Bepreisung eingeführt, allerdings in sehr unterschiedlicher Höhe. Im Schnitt liegt der Preis pro Tonne bei knapp 36 Euro. 

Die Autofahrer sollen umdenken, so das erklärte Ziel der luxemburgischen Regierung. Ob sie das tun? Sorgt eine solche Preiserhöhung dafür, dass die Menschen das Auto häufiger stehen lassen? Ihren Fahrstil so ändern, dass sie weniger Sprit verbrauchen? Das lässt sich wegen der Pandemie derzeit noch nicht beantworten, weil die Menschen gerade weniger mobil sind. Man kann aber aus der Vergangenheit ableiten, wie Autofahrer auf Preisänderungen reagieren. Das haben Forscher des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung mit Daten der Jahre 2004 bis 2019 ausgerechnet. Das Ergebnis der Studie, die Zeit Online vorliegt: Eine Erhöhung des Benzinpreises um ein Prozent lässt die gefahrenen Kilometer um 0,25 Prozent zurückgehen. Da die CO2-Steuer Benzin um derzeit rund fünf Prozent verteuert, ist zu erwarten, dass Autofahrende im Schnitt deswegen 1,25 Prozent weniger Strecke zurücklegen werden. Bei Dieselfahrzeugen sieht es laut der Studie anders aus. Hier haben Preisänderungen weder Einfluss auf die zurückgelegte Strecke noch auf den Kraftstoffverbrauch. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass Dieselautos eher von Vielfahrern genutzt werden, also Menschen, die für den Beruf oder aus privaten Gründen viel fahren und das nicht ändern, wenn der Kraftstoffpreis steigt. Der CO2-Preis bleibt hier also offenbar ohne direkte Wirkung.

Leben mit Tabak Die Aral-Tankstelle in Berchem (Richtung Frankreich) ist die umsatzstärkste innerhalb der Aral-Gruppe in ganz Europa. In den Spitzenmonaten Juli und August werden hier jeweils mehr als zehn Millionen Liter Kraftstoff getankt. Coronabedingt schrumpfte der Absatz 2020 um 30 Prozent. Romain Hoffmann weiß aber auch, dass er – unabhängig von der Pandemie – auf lange Sicht nicht auf das Geschäft allein mit fossilen Brennstoffen zählen kann. Um einen möglicherweise sinkenden Tankumsatz auszugleichen, müsse er einerseits Alternativen finden, um die Kosten zu senken. Etwa bei der „Personalanpassung“, wie er sagt. Andererseits müsse das Angebot im Tankstellenshop ausgebaut werden. „Der Verkauf von Kraftstoff ist heute nicht mehr genug“, weiß Hoffmann.

Mehr verdienen im Nebengeschäft, das heißt, weiterhin auf Kaffee, Alkohol und vor allem Tabak setzen. Ein Blick nach Berchem zeigt deutlich, wie verbrüdert Sprit und Genussmittel sind. 30.000 Kunden, die meisten aus Belgien und den Niederlanden, strömen jeden Tag auf das Aral-Gelände, um zu tanken, Toilettenpause zu machen oder sich mit Zigaretten einzudecken. So wie der Mann Mitte 50, der auf dem Parkplatz vor seinem Wohnwagen steht, in der linken Hand die Hundeleine, rechts die Kippe. „Meine Frau und ich sind auf dem Weg in die Vogesen, nach Gérardmer, da ist zwar keine Sonne, aber egal.“ Dafür hat der Belgier hier vollgetankt. Benzin für 1,23 Euro, statt 1,57 in Charleroi. Francis, 48 Jahre, morgens um fünf aus Reims gestartet, hat gerade seine 45-minütige Pause hinter sich und lässt den Motor starten. Im Gepäck: 25 Tonnen Holzpellets und eine Stange Zigaretten für den Sohnemann. Wer sonst noch in den Trucks sitzt: Ukrainer, Bulgaren, Rumänen, Weißrussen, Polen, Tschechen, Niederländer, Portugiesen. Osteuropäer sind unter den Brummifahrern deutlich in der Überzahl. Ein Litauer zeigt stolz seine Ausbeute: vier Flaschen Vodka und ebensoviele Stangen Zigaretten. Zum Abschied schickt er einen Kuss in die Luft. Drei Vorderzähne fehlen. Innenbereich der Tankstelle. Auch hier: Menschen mit Kraut unter den Armen. Ein Pärchen aus Holland tankt an einem Stehtisch mit Automatenkaffee auf. Mit dem Wohnmobil sind sie auf dem Weg nach Frankreich. Wo’s hingeht, „wissen wir noch nicht, da, wo Sonne scheint“, sagt sie. Vor ihr liegen 20 Packungen loser Tabak. „Für einen Freund.“ Zehn weitere Packungen sind „für den Eigenbedarf“, sagt er. „Eigentlich rauchen wir gar nicht, aber wenn das hier schon so billig ist.“

Wie billig Tabak in Luxemburg ist, können seine Besucher im Shell-Shop centgenau ablesen. Von außen ein scheinbar gewöhnlich wirkender Laden. „Food“, „Drinks“, „Presse“ steht an den Scheiben. Die Werbung für Alkohol und Tabak, die draußen fehlt, erschlägt einen im Verkaufsraum auf mehr als zehn Bildschirmen. „Rauchen verursacht 9 von 10 Lungenkarzinomen“, steht auf der Vogue-Schachtel. Die langen, dünnen Zigaretten sollen vor allem „modisch bewusste“ Frauen ansprechen. Unter der Lungenwarnung ist eine Patientin im Krankenhausbett abgebildet. 58 Euro kosten zehn Schachteln à 20 Zigaretten. Auf dem Screen blinken drei Länderkarten auf. Kostenersparnis für Belgier: zehn Euro. Kostenersparnis für Deutsche: 14 Euro. Kostenersparnis für Franzosen: 47 Euro. Das weiß auch die Elsässerin, die gerade an der Kasse steht. Vollgetankt und vollbepackt mit vier Stangen Winston geht es jetzt nach Nordfrankreich. Laurent, Ohrringträger mit Glatze, füllt gerade sein Fahrtenbuch aus. 25 Tonnen Christaline-Wasser hat er in Saarbrücken aufgeladen. Auf dem Beifahrersitz liegen drei Zigarettenstangen à 45 Euro. Tanken musste er heute nicht.

Leben im Umbruch In Luxemburg kommen traditionell 15 bis 20 Prozent der Staatseinnahmen aus dem Tankstellengeschäft. Wie soll der Einnahmeausfall kompensiert werden, wenn der Verkehr bis 2030 57 Prozent seiner CO2-Emissionen im Vergleich zu 2019 senken muss? Überlegungen, die geringe Stromsteuer in Luxemburg anzuheben, gibt es nach Auskunft von Olaf Münichsdorfer, Generalkoordinator im Energieministerium, nicht. „Das Ziel ist ja, aus dem fossilen Tankgeschäft auszusteigen.“ Das gehe natürlich nicht von heute auf morgen. „Fossile Energien haben aber definitiv keine Zukunft. Und wenn ich auf einem absterbendem Ast sitze, muss ich mir schon überlegen, wie ich innovativ werden kann.“ Münichsdorfer meint damit auch den Umstieg auf E-Mobilität. Die Regierung belohnt diesen Umstieg mit Prämien. Mit Erfolg: 2018 betrug der Anteil der Neuzulassungen 2,2 Prozent, 2020 elf Prozent und in diesem Jahr (Januar bis Juni) bereits knapp 18 Prozent. Insgesamt 589 Chargy und ChargyOK-Ladepunkte sind (Stand jetzt) öffentlich zugänglich. Das sind 1173 Stellplätze, die mit Ladepunkten ausgestattet und mit sämtlichen Ladekarten kompatibel sind. 100 Gemeinden in Luxemburg haben mindestens einen Ladepunkt. 88 Schnellladepunkte (SuperChargy) werden über das ganze Land verteilt installiert. Was die Ladepunktdichte angeht, so ist Luxemburg mit 27,31 Ladepunkten pro 100 Kilometer in Europa auf dem zweiten Platz nach den Niederlanden (29,38 Ladepunkte pro 100 Kilometer). Geplant ist aktuell ein System auf Benelux-Ebene, sodass in diesen drei Ländern sämtliche Ladepunkte und -karten kompatibel sind. Dieses System soll als Beispiel für eine europaweite Umsetzung dienen. Die ist dringend nötig, wird doch immer wieder von luxemburgischen E-Fahrzeughaltern bemängelt, dass sie beispielsweise in manchen Städten Deutschlands an ihre Ladegrenzen kommen, weil Ladekarten nicht akzeptiert werden.

Luxemburgs Tankstellen sind noch weit entfernt vom Elektroauto-Trend. Nur eine einzige im Land verfüge über eine Ladestation, so Romain Hoffmann vom GPL. Nicht aber seine. „Wir bei Aral sind an dem Thema dran und dabei, Ladestationen zu installieren.“ Hoffmann macht sich aber auch Gedanken um das „Platzproblem“. Wenn mehrere Autos gleichzeitig aufladen, würden Plätze blockiert werden. „Tanken ist nur interessant, wenn es schnell geht. Deshalb laden die Menschen ihre Autos über Nacht bei sich zu Hause auf.“ In Deutschland ist man weiter. Dort werden bis Ende des Jahres 200 Schnellladestationen an den Tankstellen installiert.

Franziska Jäger
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