Die Lehrergewerkschaft SEW warnt vor der Ökonomisierung der öffentlichen Schule. Und steht damit nicht alleine

Der Bildungsmarkt

d'Lëtzebuerger Land vom 15.06.2018

Luxetoys heißt die Schüleridee, die dieses Jahr den landesweiten Wettbewerb des besten Mini-Unternehmens gewonnen hat und vom 16. bis 19. Juli Luxemburg in Belgrad vertreten darf, wenn es darum geht, herauszufinden, wer europaweit die beste Schülerfirma gegründet hat. Ausgedacht haben sich Luxetoys acht Schülerinnen und Schülern des klassischen Lyzeums in Diekirch. Sie erfanden das Memoryspiel PouBelle, das Kinder in die Geheimnisse von Recycling und Abfalltrennung einführt.

Den Wettbewerb um die besten unternehmerische Schüleridee gibt es seit über 15 Jahren. 2000 rief der Rat von Lissabon „unternehmerische Initiative“ als eine neue Grundkompetenz aus, kurz darauf wurde das Konzept der Schülerfirmen ins Leben gerufen. Ziel sei, heißt es seitens der EU-Kommission, „die Entwicklung echter wirtschaftlicher Aktivität in kleinem Maßstab beziehungsweise die realistische Simulation der Abläufe in echten Unternehmen“. Die Aktivitäten ermöglichten Jugendlichen „den Erwerb grundlegender unternehmerischer Kompetenzen“ sowie „die Entwicklung von persönlichen Qualifikationen und Querschnittkompetenzen“.

Nach Jahren des Nischendaseins spricht sich die Initiative offenbar herum, dieses Jahr war die Beteiligung mit 54 Luxemburger Schulen und rund 500 Schülerinnen und Schülern so hoch wie noch nie. Zur Feier erschien neben Bildungsminister Claude Meisch (DP) auch Staatssekretärin Francine Closener (LSAP). Als Hintergrundkulisse für die Preisverleihung prangten groß die Namen der Sponsoren, allesamt führende Wirtschaftsunternehmen des Landes. An diesem Tag schienen alle froh, von der sonst von Wirtschaftsverbänden oft gerne lautstark beklagten Realitäts- und Praxisferne der öffentlichen Schule war jedenfalls für einmal nichts zu hören.

Ohnehin stellt sich die Frage, wie begründet dieser Vorwurf ist, oder ob unter dem liberalen Bildungsminister der Einfluss auf die öffentliche Schule durch Wirtschaftsverbände und -vertreter sowie andere Außenstehende nicht eher zunimmt. Vor zwei Wochen stellte Meisch die selbsterklärte Bürgerplattform Up-Foundation vor, die sein Ministerium mit immerhin einer halben Million Euro Starthilfe unterstützt: Hinter der Stiftung, geleitet von Liz Kremer-Rauchs, bis vor kurzem Beamtin im Erziehungsministerium und dort Koordinatorin für Schulprojekte und Strategien, stehen prominente Wirtschaftsakteure wie die Pall-Center-Chefin Christiane Wickler, Raymond Schadeck, Ex-Unternehmensberater bei Ernst & Young, oder Produktdesigner und ehemaliger Berater von Luxinnovation Jan Glas. Sie will „Initiativen, Projekte und Programme“ unterstützen, die „das unterschiedliche Potenzial von Kindern und Jugendlichen entfalten helfen“. Wie das konkret geschehen soll, verriet das vierseitige Pressedossier nicht.

Eltern klagen seit längerem, dass im Grundschulunterricht immer mehr außerschulische Protagonisten Einzug halten: Ob Malkurse, Woch vun de Suen, jonk Fuerscher, ob Nichtregierungsorganisationen, Politiker oder Vertreter anerkannter Berufe – es ist eine schier unübersichtliche Schar, die an die Türen der öffentlichen Schule anklopft und oft auch Eintritt erhält. Die Woch vun de Suen, dieses Jahr vom 12. bis 16. März, ist wie die Jonk entrepreneuren einer europäischen Initiative entsprungen und wird von der ABBL, der CSSF und der Handelskammer organisiert. An erster Stelle der Ziele steht laut Bankenvereinigung, „Kinder für die Wichtigkeit von Geld und Konsum“ zu sensibilisieren und sie aufzuklären, „über ihre Lust zu konsumieren und der Realität des Lebens“, aber auch „kritischer Geist vor der Kaufentscheidung“; die Kaufentscheidung ist offenbar gegeben. „Das Erlernen eines verantwortlichen Umgangs mit Geld ist essentiel und hat ganz bestimmt einen Platz in unserer Schule“, begründet Claude Meisch, selbst ehemaliger Banker, die Unterstützung der Initiative durch sein Ministerium. Eine ehemalige Lehrerin und heutige Unidozentin kommentierte gegenüber dem Land dagegen skeptisch: „Viele Grundschulkinder des vierten Zyklus bekommen noch kein regelmäßiges Taschengeld. Und jetzt sollen sie ausgerechnet von jenen den vernünftigen Umgang mit Finanzen lernen, die mitverantwortlich für die Finanzkrise waren?“

Der Vorwurf ist zugespitzt, aber was der pädagogische Sinn und Zweck der „finanziellen Bildung“ ist, erfahren Eltern oft nur lückenhaft und am Rande. Ebenso wenig wird ihnen mitgeteilt, dass die Bankenvertreter, die in die Schulen kommen, sich an einen Verhaltenskodex halten müssen, der sie verpflichtet, keine Werbung zu machen. Eine beklagenswerte Nachlässigkeit, wie Pierre Reding mahnt: „Wir sagen den Schulen, sie sollen die Eltern umfassend über solche Initiativen aufklären.“ Was aber ist der pädagogische Wert eines von einer Bank ausgetragenen Malwettbewerbs, außer dass sie ihren Namen prominent platzieren kann? An welchen Wettbewerben eine Schule teilnimmt, entscheiden in der Regel die Schulkommissionen der Gemeinden, oft auf Anregung einer Schule. „Wir haben damit nichts zu tun“, betont Regierungsrat Reding. Die Woch vun de Suen ist eine landesweite Initiative, die das Ministerium finanziell unterstützt und im Newsletter bewirbt.

Auch der Besuch eines Unternehmens im vierten Zyklus wird vom Ministerium vorgegeben: Er steht im ministeriellen Rundschreiben vom März, das der Minister an die rund 150 Grundschulen im Land geschickt hat. „Der Besuch eines Betriebs ist Teil der beruflichen Orientierung, die früher als bisher ansetzt. Dadurch sollen schon Grundschüler Berufe kennenlernen und sehen, wie ein Unternehmen funktioniert“, sagt Pierre Reding.

Aber wo verläuft denn nun die Grenze zwischen pädagogisch sinnvoller Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern und dem eventuellen Versuch von Wirtschafts- und Unternehmensverbänden, sich unzulässig Zugang zu künftigen Konsumenten und Arbeitskräften zu verschaffen? Es gibt hierzulande keinerlei Richtlinien oder Orientierungshilfen, falls Lehrer und Schulen unsicher sind, ob der Besuch einer Lebensmittelfirma mit anschließender Verköstigung exklusiv mit eigenen Produkten noch Teil des Berufsorientierungsauftrags oder schon geschicktes Produkt-Placement ist. „Außer dem allgemeinen Werbeverbot im Grundschulgesetz gibt es keine Regeln“, bestätigt Robert Brachmond, Regionaldirektor in Echternach. Die Zusammenarbeit mit vielen Unternehmen sei „über die Jahre“ gewachsen: „Das sind Traditionen. Die hat noch nie jemand wirklich hinterfragt.“ Wie sie entstehen, warum vielleicht eine Firma öfters besucht wird als eine andere, mag ihrer Größe und ihren Ressourcen geschuldet sein, viele Schüler empfangen zu können – vielleicht aber auch nicht. Vor einigen Jahren führte die Zusammenarbeit zwischen Grundschulen und einer großen Luxemburger Molkerei zu Streit: Lehrer sahen den Milchkonsum der Kleinen eher kritisch und lehnten „den weißen Flüssigzucker“ aus gesundheitlichen Gründen ab, andere pochten auf die gesundheitsfördernde Wirkung von Eiweiß, Calcium und Vitaminen. Der Streit beschäftigte schließlich ein überregionales Inspektorentreffen. „Wir arbeiten im Rahmen von Food for School mit dem Landwirtschaftsministerium zusammen, das sich mit dem Gesundheitsministerium abstimmt“, sagt Pierre Reding. Es sei an den Gemeinden zu entscheiden, ob sie ihren Schulen Milch als Pausendrink empfehlen oder nicht.

Das ist nicht die einzige strittige Zusammenarbeit: Auch der Auftritt der Armee bei Berufsorientierungsveranstaltungen in den Sekundarschulen führte immer wieder zu Kritik nicht nur bei pazifistisch gesonnenen Eltern, die nicht wollten, dass ihre Kinder in der Schule mit Berufsperspektiven beim Militär konfrontiert würden. Die Armee wiederum ist als Freiwilligenarmee auf Nachwuchs aus den Schulen angewiesen.

Vor allem aber sind Schulen attraktive Geschäftspartner, weil sie mit hunderten Schülern und Lehrern wirtschaftliches Gewicht auf die Waage bringen. Insbesondere bei Computern, Software und den dazugehörigen Infrastrukturen winken mitunter lukrative Großaufträge, die es in sich haben: Internetriesen wie Google, Apple oder Microsoft lassen sich Kollaborationen oft mit Knebelverträgen versüßen: Dann sind mit der Online-Plattform oder dem Einführungskurs im Umgang mit Tablet, Software Nutzungs-Klauseln verbunden. In Deutschland entschied die Bundesverbraucherzentrale kürzlich, dass Apple seine Teilnahmebedingungen für Schülerkurse abändern muss: Eltern mussten zuvor eine Zustimmungserklärung unterschreiben, in dem sie sich nicht nur einverstanden erklärten, dass ihr Kind gefilmt, interviewt und fotografiert wird, sondern in dem sie zudem sämtliche Nutzungsrechte an Apple abtraten. Nach Auffassung der Verbraucherschützer schloss die Zustimmung ein, dass Apple Fotos und Videos von Minderjährigen geradezu beliebig und zudem noch kostenlos für Werbekampagnen hätte nutzen können.

Das Unterrichtsministerium ist als Folge verschärfter Datenschutzbestimmungen und gestärkter Verbraucherrechte durch die EU-Datenschutz-Grundverordnung derzeit dabei, sämtliche Firmenverträge erneut hinsichtlich der Nutzungs- und anderer Rechte „gründlich zu überprüfen“, wie Regierungsrat Reding betont. „Die Task force“, bestehend aus Juristen und IT-Experten, „geht derzeit Vertrag für Vertrag durch“, so Reding. Sie soll danach bestehen bleiben, um in Zukunft auf ähnliche Anfragen und Beanstandungen von Schulen reagieren zu können.

Für das SEW dürften diese Zusicherungen und Vorkehrungen, die das Ministerium im Hinblick auf dubiose Verträge zwischen Schulen und Privatunternehmen trifft, jedoch bestenfalls das berühmte Pflaster auf dem Holzbein sein. Die Lehrergewerkschaft warnt seit längerem vor der schleichenden Privatisierung der öffentlichen Schule und lud deshalb vergangene Woche zur Konferenz Qu’est-ce que la nouvelle école capitaliste et comment la combattre? mit Francis Vergne ins Gewerkschaftshaus nach Esch ein. Vergne ist Psychologe und forscht zu Privatisierung am Forschungsinstitut der französischen Lehrergewerkschaft Fédération syndicale unitaire de l’enseignement, de la recherche et de la culture (FSU) im Osten von Paris. Für ihn ist die Annäherung zwischen Schule und Wirtschaft mehr als ein Trend, sondern besorgniserregendes „Dispositiv zur Kontrolle und Regulierung“, das dazu beiträgt, den wirtschaftlichen Nutzen als „ultimatives Kriterium“ zu etablieren, um Bildungs- und Forschungsaktivität zu legitimieren. Als Beweis führt Vergne die immer stärkere Ausrichtung vieler Universitäten auf die angewandte Forschung an, von Unternehmen gesponsorte Lehrstühle, aber auch den Managementstil, der sich in fast allen öffentlichen Diensten durchsetze.

In Anlehnung an Vergnes Thesen prangert der SEW die Autonomie der Schulen an, wie sie Bildungsminister Meisch insbesondere für die Sekundarschulen vorgesehen hat, die ihre Profile durch neue Sektionen und Fächerschwerpunkte künftig noch mehr als bisher schärfen können. Aber auch die Kommerzialisierung von Bildungsinhalten etwa durch Lehrpläne und Prüfungen, die im Ausland eingekauft und dort auch kontrolliert werden, wie beispielsweise beim Bac international oder der International School Michel Lucius, die ihr englischsprachiges Schulprogamm vom Londoner Medienkonzern Pearson erworben hat.

Mit seiner Kritik an der Ökonomisierung von Bildung steht der SEW nicht allein. Bildungswissenschaftler wie der deutsche Pädagoge Jochen Krautz oder Ingrid Lohmann, Professorin für Ideen- und Sozialgeschichte der Erziehung an der Uni Hamburg, sind sich einig, dass Bildung in den vergangenen Jahren verstärkt einer ökonomischen Logik unterworfen ist. Für Lohmann lässt sich in bildungspolitischen Positionspapieren der Europäischen Kommission „das dominante Prinzip einer betriebswirtschaftlich ausgerichteten Optimierung der Humanressource Mensch“ ablesen, die immer früher beginne, mit dem Besuch der Krippen und der Ausdehnung der (non-formalen) Bildung bis weit vor das Vorschulalter.

Auch der betriebswirtschaftliche Jargon ist in der Bildungspolitik endgültig angekommen: Ob es um Monitoring geht oder Outputorientierung, ob um Steuerungsgruppen oder flache Hierarchien – das Vokabular klingt wie aus einem BWL-Studienbuch. Dabei geht es nicht bloß um Semantik. Dass Schulen Rechenschaft für Bildungsziele ablegen müssen, ist für den SEW Ergebnis einer neoliberalen Bildungspolitik, die ein „utilitaristisches Verständnis von Unterricht“ habe: In der Schule würden die Konsumenten und die Arbeitskräfte von morgen herangezogen, Flexibilisierung, lebenslanges Lernen seien die Stichwörter. Oft gehe mit der Ökonomisierung die zunehmende Finanzierung von Schulprojekten durch Privatunternehmen einher.

Dass der Staat weniger Mittel für die Bildung bereitsteht, trifft zumindest auf Luxemburg so nicht zu: Noch nie wurde so viel Geld für Bildung ausgegeben wie heute. Die Ausgaben für den Grund- und Sekundarschulunterricht verdoppelten sich von 540 Millionen Euro im Jahr 2008, das war vor der Grundschulreform von Mady Delvaux-Stehres, auf über 1,5 Milliarden im Jahr 2017. Das liegt zum einen daran, dass die Gehälter des Grundschulpersonals inzwischen zu zwei Dritteln vom Staat bezahlt werden, dafür entscheidet dieser mittels Koeffizienten maßgeblich über die personelle Ausstattung. Und weil die absoluten Schülerzahlen im selben Zeitraum weiter gestiegen sind.

Dem SEW ist dieser Zentralismus ein Dorn im Auge, die Gewerkschaft wirft der Regierung vor, mit der Einführung von (sozial gewichteten) Koeffizienten den Personalbedarf im Grundschulwesen kleinzurechnen und mehr auszugeben für teure Spezialposten, die den Schulen nicht viel brächten, weil sie dort nicht ankämen. Ob das so stimmt, ist unklar, denn es gibt diesbezüglich keine Analysen. Dass ausgerechnet der DP-Schulminister wie kaum ein zweiter Posten der höheren Beamtenlaufbahn im Schulwesen geschaffen hat, etwa für die neue Mediation, eine Beobachtungsstelle zu Bildungstrends oder für zusätzlich geschulte Fachkräfte für förderungsbedürftige Kinder und Jugendliche, ist ein kurioser Fakt dieser Legislaturperiode. Eigentlich waren die Liberalen angetreten, einen Schlussstrich unter die Strukturdebatte in der öffentlichen Schule zu ziehen und reden sonst gerne dem Sparen das Wort. Wie sehr Meischs kostspielige Maßnahmen den Schulen und konkret den Schulkindern zugute kommen, ob sie überhaupt helfen, den sozialen Graben zwischen armen und reichen Schülern zu verringern, ist eine Fragstellung, der sich weder das Ministerium noch die Bildungswissenschaftler der Uni Luxemburg bisher gewidmet haben. Dabei wäre – wenn schon, denn schon – eine Auswertung im Sinne einer propagierten Outputorientierung nur logisch.

Ines Kurschat
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