Seit der nuklearen Katastrophe in Japan spricht jeder wieder von Cattenom. Großen Widerstand gegen die Laufzeitverlängerung gibt es hierzulande nicht

Atomalarm

d'Lëtzebuerger Land vom 17.03.2011

Entwarnung. Cattenom sei anders konzipiert als die Reaktoren von Fukushima in Japan, daher seien auch die Risiken andere, sagte Stéphane Dupré la Tour am Dienstag vor Journalisten. Der Direktor des 5 200-Megawatt-Atomkraftwerks hatte kurzfristig zur Pressekonferenz nach Cattenom geladen, um den vielen Anfragen zu begegnen, die ihn seit der nuklearen Katastrophe in Japan überhäufen. Tenor seiner Botschaft: Weil beim französischen Druckwasserreaktor das Kühlsystem passiv funktioniert, die Pumpen durch nach oben steigenden Wasserdampf automatisch betrieben werden, weil das Kraftwerk erdbebensicher gebaut und weder mit Tsunamis, noch mit extrem starken Erdbeben in der Moselregion zu rechnen seien, sei ein so schwerer Störfall wie jetzt in Japan nicht wahrscheinlich.

Nur bei der Nachfrage, wie sicher denn der Cattenom-Meiler vor Flugzeugabstürzen oder Terrorattentaten sei, kommt der Direktor etwas in Straucheln. Beim Bau des ersten von insgesamt vier Reaktorblocks im Jahr 1979 habe es den A-380 nicht gegeben, stellt Dupré la Tour süffisant fest. Allerdings hätten spätere Berechnungen ergeben, dass der Betonmantel dennoch stabil genug sein. Den guten Zustand der Anlage hätten auch externe Experten bestätigt, die derzeit im Rahmen der Zehnjahresinspektion die Anlage auf Herz und Nieren überprüften. Die Ergebnisse seien positiv, so der Direktor, die Laufzeitverlängerung auf 40 Jahre beschlossene Sache. Nur die Daten der letzten Belastungstests müssten noch ausgewertet werden. Ab 2016 steht eine weitere Großinspektion, dann für eine Gesamtlaufzeit von 60 Jahren, an. Also alles bestens in Cattenom?

Ute Schlumpberger, Initiatorin des Bündnisses „Cattenom, non, merci!“ bestreitet dies nachdrücklich. „Die Sicherheitsvorkehrungen in dem Reaktor sind keineswegs ausreichend“, betont die einstige Grüne und heute unabhängiges Mitglied im Perler Gemeinderat. Sie nennt den 1986 erstmals ans Netz genommene Atommeiler von Cattenom, neben der Anlage in Fessenheim bei Straßburg, eine „der schrottreifesten Atomkraftwerkzentralen europaweit“.

Schlumpbergers Sorgen werden nicht nur von den erklärten Atomkraftgegnern von „Cattenom, non, merci!“ geteilt. Erst vor wenigen Wochen, noch vor der Katastrophe in Japan, hatte der interregionale Parlamentariererrat, in dem Abgeordnete aus der Großregion sitzen, eine Resolution zu Cattenom beschlossen. Da-rin kritisieren die Abgeordneten unter anderem mangelnde Sicherheitsvorkehrungen im Reaktor sowie die Kommunikation durch den französischen Betreiber EDF – Elétricité de France. Man fühle sich nicht ausreichend informiert, erklärt CDU-Mitglied Helma Kuhn-Theis dem Land. Ein schlechter Informationsfluss war bereits 2008 Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage zweier CDU-Abgeordneter gewesen. Damals versicherte das rheinland-pfälzische Umweltministerium, es werde über nukleare Ereignisse, die Auswirkungen auf das Bundesland haben könnte, durch die Präfektur des Departments Moselle in Metz unverzüglich per Telefax informiert.

Es bestehe möglicherweise ein Sprachenproblem, räumt nun Dupré la Tour ein, der als Manager des größten Atommeilers in der Großregion und siebtgrößten weltweit selbst kein Deutsch spricht. In den kommenden Wochen wollen Abgeordnete aus der Großregion sich mit dem Cattenom-Direktor aussprechen. Dann werden voraussichtlich auch Luxemburger Abgeordnete dabei sein. Allerdings teilt die Strahlenschutzabteilung des hiesigen Gesundheitsministeriums die deutsche Kritik nicht. Man werde bei Störungen binnen kürzester Frist informiert, sagt Patrick Majerus im Gespräch mit dem Land. Nicht mehr via Fax, sondern gsnz zeitgemäß per Telefon und Internet. Allein auf die Meldungen des Betreibers will man sich aber auch nicht verlassen: Mit 23 radiologischen Messstationen verfügt Luxemburg über eines der dichtesten Messnetze der Welt. Sie messen im Minutentakt mögliche gefährliche Gammastrahlung, die dann im dazugehörigen Labor ausgewertet wird.

Die „absolute Transparenz“, die der Cattenom-Direktor verspricht, gilt offenbar nicht uneingeschränkt: Als das Land bei der Pressestelle eine Liste mit den Unfällen der letzten Jahren anfragt, erhält es zwar die ausführliche Beschreibung über die Stärken und Funktionsweisen der Anlage. Die Vorlage mit den Unfallstatistiken, obgleich ebenfalls ausdrücklich erbeten, befindet sich aber nicht mehr im Pressedossier.

Tatsächlich ist es aber die Häufung an Störungen, die die Gegner von Cattenom am meisten Angst macht. Bereits 2003 hatten sich Atomexperten des World Information Service on Energy (Wise) in Paris besorgt über „Anomalien“ bei den Brennstoffstäben sowie andere massive Verschleißerscheinungen im Reaktor 3 gezeigt. Fünf Jahre später attestierte ein im Auftrag des grünen Europadeputierten Claude Turmes erstelltes Gutachten des Wise-Atomexperten Mycle Schneider dem Kernreaktor wegen verstopfter Dampfgeneratoren ebenfalls eine erhöhte Störanfälligkeit.

Das war vor 2009. Mit offiziell neun Zwischenfällen der Stufe eins auf der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse ist 2009 das bislang schwärzeste Jahr in der Geschichte Cattenoms. Da wurde etwa ein zu hoher Wassergehalt im Öl der für den Notfall überaus wichtigen Kühlpumpen gemeldet. Auch gab es mehrere Notbremsungen wegen schwerwiegender technischer Mängel, bei dem die Produktion eines Reaktors zum Teil für mehrere Monate gestoppt werden musste. Im Fachjargon zählen diese auf der Ines-Skala auf der Stufe eins registrierten Zwischenfälle nicht als Störfälle, dieses ist erst ab Stufe zwei und drei der Fall, sondern als Störungen.

Im Folgejahr, wohl aufgrund häufigerer Kontrollen und etlicher Reparaturarbeiten, lag die offizielle Zahl der Zwischenfälle mit sechs deutlich niedriger, aber immer noch über der aus den Vorjahren. 2011 verheißt, nicht viel besser zu werden: Anfang Februar wurden bei Wartungsarbeiten zwei Arbeiter verstrahlt.

Und das sind nur die eigens gemeldeten Störungen. Die von der Autorité de sûreté nucléaire (ASN) erstellten und im Internet einsehbaren Inspektionsberichte zu Cattenom (www.asn.fr/index.php/content/view/full/1494) lesen sich wie eine endlose Liste kleinerer und größerer Mängel und Pannen. So fanden die Inspektoren im Februar 2011 falsch klassierte Geräte vor, die an Mittel- und nicht an Maximalbelastungswerten ausgerichtet waren. An wichtigen Zuleitungsrohren fehlten Temperaturangaben. Ebenfalls im Februar bei einer unangemeldeten Visite beanstandeten die Prüfer schlecht koordinierte Baustellen, durch die wichtige Zugänge zum Reaktor blockiert waren. Ihr Fazit: „Ce genre d’oubli est susceptible de provoquer des risques significatifs en termes de radioprotection, de securité des intervenants et de qualité des interventions.“ Ein anderes Mal fehlten Strahlungsmesser vor Ort. Beim Verlassen eines Reaktors wurden an der Sohle eines Besuchers radioaktive Kontaminationen festgestellt, aber statt den Ursachen für das Leck nachzugehen, wurde dieser lediglich angewiesen, den Schuh der Reinigung zu übergeben. Vorarbeiter wussten nicht, wo Jodtabletten für den Notfall aufbewahrt waren, anderen fehlten vorgeschriebene Schutzbrillen sowie Schutzanzüge in ihren Größen. Bei einer Inspektion im September 2010 stellte sich heraus, dass wichtige Prüfungsunterlagen nicht vorschriftsgemäß unterschrieben waren, auch hatte der Betreiber wiederholt Fristen unbeachtet verstreichen lassen, bis wann er bereits reklamierte Mängel beheben sollte. Mit den Wartungsarbeiten durch Fremdfirmen gibt es immer wieder Probleme: Manchmal waren Zuständigkeiten unklar, die Betriebsleitung hatte zudem wichtige Prüfarbeiten an Fremdfirmen ausgelagert, obwohl in einer Anweisung der Atomsicherheit ausdrücklich geschrieben steht, dass das Outsourcing derartiger Inspektionsarbeiten nur im Ausnahmefall gestattet ist.

Es sind diese Schlampereien, die vor allem die deutschen Nachbarn in Alarmbereitschaft versetzt haben: In ihrer Anfrage zur Sicherheit von Cattenom vom August 2010 nahmen die Grünen Ulrike Höfken, Sylvia Kotting-Uhl sowie Markus Tressel ausdrücklich Bezug auf die Inspektionsergebnisse. Im Oktober nannte Saarlands Umweltministerin Simone Peters Cattenom ein „akutes Sicherheitsrisiko“. Für Ute Schlumpberger kann es schon deshalb nur eine Antwort geben: Sofort abschalten! Und trotzdem bekam der Betreiber die gewünschte Laufzeitverlängerung. Da gibt es dann doch eine Ähnlichkeit mit Fukushima: Der erste 1971 in Betrieb genommene Siedewasserreaktor sollte zunächst auch nur 30 Jahre laufen, bekam dann aber die Lizenz zum Weiterbetrieb.

Und in Luxemburg? Da sind die gehäuften Zwischenfälle und die Laufzeitverlängerung kaum Thema. Auf Land-Nachfrage, wie die Luxemburger Strahlenschutzexperten die doch besorgniserregenden Inspektionsberichte bewerten, müssen diese passen: Man habe keine Zeit, die Berichte systematisch zu analysieren. Strahlenschutzexperte Patrick Majerus verlässt sich auf die Daten der Franzosen und lobt deren „Transparenz“, die aber so vorbildlich nicht ist: Zum Krisenmanagement im Falle eines nuklearen Notfalls befragt, verweist Cattenom-Direktor Dupré la Tour vage auf den mit der Präfektur koordinierten Plan d’intervention particulier. Nähere Auskünfte verweigert er. Auch über die Besprechungen der deutsch-französischen Kommission für Fragen der Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen, die sich einmal jährlich trifft und eine Gruppe Notfallschutzplanung hat, ist nichts Genaues zu erfahren.

Die 2002 vom luxemburgischen Gesundheitsministerium veröffentlichte und an alle Haushalte verteilte Broschüre „Was tun bei Atom-alarm?“, die im Notfall den Betroffenen rät, in geschlossenen Räumen zu bleiben und alle Fenster zu schließen, bezieht sich auf den nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl entwickelten Notfallplan von 1986. Seither wurde der Plan einmal überarbeitet, nämlich 1994.

Mit rund 600 000 Jodtabletten habe Luxemburg „eher eine Überversorgung als eine Unterversorgung“, sagt Patrick Majerus. Dumm nur, wenn die Gemeinden und Schulen, wo die Tabletten gelagert sind, nicht mehr wissen, wo sich diese befinden. Beim Testanruf im Escher Bürgerzentrum wusste der Leiter weder, wo die Jodtabletten lagern, noch wer für die Koordination im nuklearen Notfall auf Gemeindeebene zuständig ist. Gleiches Bild in der Hauptstadt. Dort verweist eine ratlose Mitarbeiterin an das Generalsekretariat, das wegen Mittagspause aber nicht besetzt ist. Sogar der erste Schöffe, der Grüne Fränz Bausch, muss zunächst passen: „Ehrlich gesagt, keine Ahnung.“ Für die beiden größten Gemeinden Luxemburgs, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Atomanlage befinden, ein befremdliches Fazit. Immerhin: Zwei Stunden später erfolgt der Rückruf mit der präzisen Nennung des Verantwortlichen, der seit 2007 mit das hauptstädtische Krisenmanagement leitet. Seit vier Jahren? Das Atomkraftwerk in Cattenom existiert seit über 25 Jahren. „Wir haben den Aspekt der Umsetzung in den vergangenen Jahren wohl vernachlässigt“, räumt Patrick Majerus ein. Jetzt aber herrsche hektische Betriebsamkeit unter den zwölf Mitarbeitern: Aufgerüttelt durch die Katastrophe in Japan würden sämtliche Kriseneinsatzpläne gemeinsam mit dem Zivilschutz, der Polizei, Ponts et chaussée und andere überprüft. Auch die Gemeinden sollen an ihre Verantwortung erinnert werden.

Seitdem in Fukushima der nach Tschernobyl größte anzunehmende Unfall eingetreten ist, wächst auch der Druck auf die Politik und auf die Atomkraftwerkbetreiber. In Brüssel forderte Energiekommissar Günter Oettinger auf einem Treffen am Dienstag Strahlenschutzexperten aller Mitgliedstaaten auf, ihre Notfallpläne offenzulegen. Außerdem soll es nun, ähnlich wie für Banken, Stresstests für Atomkraftwerke geben. „Sie machen aber nur dann Sinn, wenn sie auch ernsthafte Konsequenzen für die Betreiber haben“, betont Carlo Back, Leiter der Strahlenschutzabteilung.

Besonders viel Dampf machen nicht zuletzt die Atomkraftgegner der zweiten Stunde: Déi Gréng haben in der Gesundheitskommission am Donnerstag den Gesundheitsminister aufgefordert, Stellung zu beziehen. Ebenfalls für den Donnerstag hat Greenpeace aufgerufen, auf der Place Clairefontaine ein Zeichen gegen Kernenergie zu setzen. Sogar Wirtschaftsminister Jeannot Krecké, der vorige Woche im Land den Anschluss Luxemburgs an das Stromnetz von Cattenom noch verteidigt hatte, beeilte sich zu betonen, die Luxemburger Regierung sei nie für die „Entwicklung des Nuklearen auf Luxemburger Boden“ gewesen. Der LSAP-Politiker kritisierte via Pressemitteilung „la renaissance du nucléaire et la prolongation de l’auto-risation d’exploitation de réacteurs“, ohne jedoch auf Cattenom konkret einzugehen. Selbst die Beteiligung am umstrittenen Iter-Forschungsatomreaktor ist kein Tabu mehr und soll auf einmal hinterfragt werden – auf europäischer Ebene.

Giftiger Kommentar von Déi Gréng: Als Mitglied im Verwaltungsrat des Energieunternehmens Enovos habe Wirtschaftsminister Krecké nichts gegen den Kauf von Atom- und Kohlestrom unternommen.

Ines Kurschat
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