Das Imperial War Museum in London

Kuchen und Konflikte

d'Lëtzebuerger Land vom 25.03.2010

Westminster und Big Ben sind Londons meist besuchte Sehenswürdigkei­ten. Wer allerdings nicht nur den Sitz der Mächtigen sehen, sondern auch sei­ne Kenntnisse über politische Auswirkungen im letzten Jahrhundert erfrischen will, sollte unbedingt das Imperial War Museum besuchen. Die Klei­nen werden sich sicherlich freuen.

Ein Katzensprung vom London Eye entfernt ragen zwei 40 Meter lange Schiffskanonen in den Himmel. Neben den Kanonen sitzt ein Mann mit seinem Sohn auf einer Bank; der Junge stopft sich gerade Kartoffelchips in den Mund. Eine Frau mit Kamera gibt zwei Männern Anweisungen, die vor den Säulen des Museums posieren. In der nahen Parkanlage schlendern Familien, Paare und Hundebesitzer. Dies ist ein typischer Samstag Vormittag im Park des Imperial War Museums.

Überraschend sind vor allem die vielen Kinder vor dem Gebäude. Sobald man das Museum betritt, weiß man, wieso diese jungen Besucher guter Dinge sind: Die Eingangshalle ähnelt wegen den originalen Raketen, Panzern und Kampfflugzeugen, die unter der Domkuppel schweben, einem riesigen Vergnügungs-Schlachtfeld.

Ein britischer Mark-V-Panzer namens „Devil“ befindet sich auf der linken Sei­te der Eingangshalle, nicht weit von „Ole Bill“, einem B-Type-Doppeldecker­bus der London General Omnibus Company, mit dem Soldaten im Ersten Weltkrieg zu den Schützengraben gebracht wurden. Auf dem Sockel einer V-2-Rakete sitzt eine Frau neben einem Kinderwagen, rollt ihn langsam hin und her und schaut verträumt hinauf zu einer 2 500 Kilogramm schwe­ren Heinkel, einem deutschen Jagdflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg, das unter der Decke der Eingangshalle angebracht ist. Eine ältere Dame hat ihre Handtasche auf den Rücken eines Bibers (U-Boot der deutschen Kriegsmarine) abgesetzt und wühlt darin herum. Ihr Begleiter liest währenddessen die Infotafel einer britischen Haubitze. Als die Frau findet, was sie gesucht hat, schlendern die beiden weiter zur Polaris-Rakete, die fast zur Kuppel des Museums reicht. In der Artillerieabteilung schlägt einem Kaffeeduft ent­gegen, der in ein paar Stunden durch Fleischtopf- und Pastetengeruch über­trumpft wird. Die Stühle und Tische des Museums-Cafés sind neben den Kanonenrohren leicht zu übersehen.

Am Ende der Eingangshalle kann man zwischen verschiedenen Ausstellungen wählen: die Galerien des Ersten und Zweiten Weltkrieges, Konflikte seit 1945, die Holocaust-Ausstellung, Völkermord und Kriege gegen die Menschheit, Secret Wars, die Kunstgalerie sowie eine Ausstellung über Feldmarschall Montgomery mit dem Titel Monty: Master of the Battlefield. Auch temporäre sind momentan zu besichtigen. Eine davon handelt vom Leben der Kinder während des Zweiten Weltkrieges. The Children’s War schlängelt sich leider oft durch sehr schmale Korridore und ist anfangs eher unspektakulär; mit Propagandaplakaten, alten Kleidungsstücken und Fotos. Erst in der Abteilung Bombenangriff, in der Schutzräume nachgebaut wurden, in denen Interviews mit Zeugen und Mitschnitte eines Luftangriffes zu hören sind, scheinen auch die kleinen Besucher gefesselt. Während Erwachsene erfahren, dass 1940 die wöchentliche Zuckerration bei 57 Gramm lag, schlüpfen die Kleinen aufgeregt in einen nachgebau­ten Luftschutzkeller, dessen Ende sich auf der anderen Seite der Mauer befindet. Gelegentlich sieht man auch Eltern, die ihren Kindern in den Tunnel folgen.

Anschließend wird man in den Alltag der britischen Bevölkerung eingeführt, da der Weg plötzlich durch aufwendig nachgebaute Zimmer ei­nes Wohnhauses führt. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und Badezimmer sind mit Originalmöbeln ausgestattet, und Details wie Magazine, Schreibutensilien, Kleidungstücke und Besteck sind so platziert, dass man sich eher wie ein Gast fühlt, denn als Besucher einer Kulisse.

Eine andere temporäre Ausstellung, die auf Kinder abgestimmt ist, nennt sich Terrible Trenches und basiert auf der erfolgreichen Buchserie von Terry Deary, der Kindern Geschichte durch gruselige Erzählungen schmackhaft gemacht hat. Dass dieses Ziel auch in der Ausstellung verfolgt wird, ist unschwer zu erkennen. An der Wand am Eingang der Ausstellung fragt eine Comicratte einen Comicsolda­ten, ob er wohl im Schützengraben überleben wird. Zur Einleitung kann man sich einen Animationsfilm ansehen, in dem der Erste Weltkrieg anhand von „Teams“ erklärt wird. Feldmarschall Sir Douglas Haig und Kaiser Wilhelm werden beide als „Public Enemy Number 1“ beschrieben und durch einen Steckbrief wie Figuren eines Videospiels vorgestellt. Spitzname, typisches Merkmal, fieser Charakterzug und „most likely to say“ sind einige Angaben, die man auf dem Steckbrief der beiden Karikaturen nachlesen kann. Ein wenig weiter steht die Pappfigur eines Soldaten mit Lochgesicht, in den Kinder ihr Gesicht stecken können, um für ein Foto vor einer Haubitze zu posieren.

Interaktivität wird vor allem in dieser Ausstellung groß geschrieben: Die Trench Entertainment-Abteilung lädt zum Malen ein, in der Foul Food-Ecke kann man die Essensrationen riechen, beim Miserable mining lädt ein Tunnel dazu ein, dem Feind beim Graben zuzuhören, und in Splat the Rat! kann man Ratten jagen. An einer Wand mit Kästchen und Drehmechanismen im mittleren Teil der Ausstellung können junge Besucher spielerisch die Namen der Waffen erraten, mit denen sich Soldaten gegenseitig umgebracht haben. Wicked Weapons ist einer der Punkte dieser Ausstellung, bei denen das Konzept des Familienmuseums schwer umzusetzen ist. Die Kinder erfahren zwar vom Leben in den Gruben, doch die Ernsthaftigkeit von Folterwaffen und Tod scheint hier banalisiert zu sein. Auch die Souvenirs, die man kaufen kann, wirken übertrieben (wie zum Beispiel die fern­gesteuerten Schützengragen-Plüsch­ratten). Das Leben in den Gräben ist in der Dauerausstellung zum Ersten Weltkrieg besser dargestellt: hier kann man durch einen nachgebauten Graben gehen, in dem lebensgroße Soldaten Wache halten und miteinander über Funk reden. Diese Trench Experience zeigt demnach auch den Kleinen auf einfache Art genau das, was Terrible Trenches mit Spiel und Spaß zu verharmlosen scheint. Doch vor allem bei Ausstellungen wie dieser ist es schwierig, ein gewisses Gleichgewicht zu behalten.

„Es gibt eine sehr spielerische Dimension in der Terrible Trenches-Ausstellung, aber auch sehr schwierige Informationen. Es ist eine Herausforderung, die Kinder zu unterhalten und ihnen gleichzeitig etwas bei zu bringen, ohne dass sie sich langweilen“, sagt Nick Hewitt, Historiker des Museums. Dies hat sich das Museum zur Mission gemacht, denn junge Besucher unter elf Jahren sind die Hauptzielgruppe der Londoner Branche des Museums, das seit 1936 in dem aktuellen Gebäude untergebracht ist. „Generell ist die Besucherzahl seit der Wirtschaftstkrise gestiegen: 2008 gab es 700 000 Besucher, im Jahr danach waren es über 850 000“, erklärt Hewitt und gibt als Grund das Phänomen des „Staycationing“ an: „Die Briten verreisen weniger und besuchen öfter heimische Sehenswürdigkeiten. Die Hochsaison bleibt demnach während Wochenenden und Schulferien“, so der Historiker.

Trotz des umfangreichen Angebots sind nicht alle Konflikte behandelt. Kriege seit 1945, eine Dauerausstellung, die 1995 eröffnet wurde, erwähnt kurz den Krieg gegen den Terrorismus und hinterfragt zwar die Arbeit der MI5 und MI6 („One man’s terrorist is the other man’s freedom fighter“), doch die Konflikte im Nahen Osten werden nicht erwähnt. „Wir planen gerade, die ‚Kriege seit 1945’ zu erneuern, da ja seitdem viel passiert ist. Ausstellun­gen über die Kriege im Nahen Osten sind allerdings ein heikles Unterfangen, da die Geschehnisse immer noch Teil des aktuellen politischen Lebens sind“, so Nick Hewitt, der mehrmals betont, dass sich das Museum der Neutralität verpflichtet hat. Momentan ist eine Ausstellung namens War Stories geplant, für die Soldaten, die gerade im Afghanistan stationiert sind, ihr tägliches Leben dokumentieren.

Das vorletzte Stockwerke des Impe-rial War Museum widmet sich ideologischen Fragen. Hier geht es um Crimes against Humanity, eine Ausstellung, die vor allem aus Videoprojektionen und Touchscreens besteht. Kernelement ist hier ein dreißigminütiger Film, der das Thema Völkermord grenzüberschreitend behandelt. Der überschaubare Raum, bei dessen Design übrigens der Luxemburger Georges Zigrand mitgewirkt hat, ist minimalistisch und nüchtern; die Sitzbänke vor der Leinwand sind klotzig und hart.

Ein praktisches Beispiel des Völkermords wird ein Stockwerk über der Genocide Gallery illustriert. Die Holocaust-Ausstellung illustriert das Thema der Judenverfolgung in allen Details. Ausgestellte Original-Objekte wie Kleidungsstücke von KZ-Insassen, Häftlingstransport-Waggons, Leichenkarren, Musterpaletten mit „arischen“ Haar- und Augenfarben, persönliche Briefe, Folterwerkzeuge, Tötungstechniken und ein großes Modell des Konzentrationslagers Auschwitz lassen sogar Jugendliche auf ihrem Klassenausflug verstummen. Spätestens am Ende dieser Galerie vermag nicht einmal mehr die Secret Wars-Ausstellung zu locken, die im Eingang mit dem Titelsong von James Bond auf sich aufmerksam macht.

Das Imperial War Museum ist mit seinem überwältigendem Angebot eine faszinierende und innovative Institu-tion, die Geschichte für jeden zugänglich macht. Das Erfolgsrezept des Museums ist ohne Zweifel die fließende Grenze zwischen Spaß und Ernst, die nur in den oberen Stockwerken klar definiert ist. Doch wer informiert ist, lernt auch kritisch zu denken, und die vier vollgepackten Stockwerke des Imperial War Museum erfüllen definitiv ihren Bildungszweck.

Claire Barthelemy
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