Leitartikel

Recht auf medizinische Versorgung

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2019

Zu den größten zivilisatorischen Leistungen des an Katastrophen reichen 20. Jahrhunderts gehört die Einführung der universellen Krankenversicherung in den wohlhabenden und sozial fortgeschrittensten Ländern. Denn sie gewährleistet für fast die gesamte Bevölkerung eine Gesundheitsfürsorge und damit das elementare Recht auf Gesundheit unabhängig von Vermögen und Einkommen. Selbst wenn die gesundheitliche Verfassung und die Lebenserwartung noch immer vom sozialen Stand abhängig sind, da Vermögendere weniger gefährliche und gesundheitsschädliche Arbeiten verrichten müssen, bessere Wohnungen, solidere Autos haben und sich intensiver um ihren Körper und ihr Wohlbehagen kümmern können. Lange symbolisierte Fettleibigkeit, dass man es im Gegensatz zu den Hungerleidern im Leben zu etwas gebracht hatte; heute sind oft die Armen übergewichtig rund wie ihre Hamburger, während die Reichen durchtrainiert und drahtig wie ihre Windhunde daherkommen.

Politiker, die die Verteidigung der Krankenversicherung zu ihrem politischen Geschäftsfundus zählen, schrecken nicht davor zurück, die Luxemburger Krankenversicherung als die beste der Welt anzupreisen. Auch wenn das übertrieben scheint, hat diese Krankenversicherung doch ein vergleichbar sehr hohes Niveau, zumindest so lange ausreichend junge, gesunde Beitragszahler und ebenso gesunde Staatsfinanzen erlauben, den, wie manche Arzt- und Labortarife oder Medikamentenpreise zeigen, oft erheblichen Widerspruch zwischen einer öffentlichen Finanzierung und eine privatwirtschaftlichen Medizin überbrücken können.

Doch als historische Errungenschaft der Arbeiterbewegung und als Beitrag zur Stabilisierung des Lohnarbeitsverhältnisses ist die Krankenversicherung eng an die Erwerbstätigkeit der Versicherten samt Familienangehörigen gebunden. Deshalb beklagte die Vereinigung Médecins du monde diese Woche, dass es keine universelle Gesundheitsfürsorge gebe. Denn von ihr ausgeschlossen seien Personen ohne gesetzliche Anschrift, Einkommen und angemeldetes Arbeitsverhältnis, Einwanderer ohne Ausweispapiere, abgewiesene Asylsuchende, Leute, die keinen Asylantrag gestellt haben, und mitellose EU-Bürger, die sich seit mehr als drei Monaten in Luxemburg aufhalten. Im vergangenen Jahr pflegten die Ärzte von Médecins du monde 815 Patienten, von denen 72 Prozent keinerlei Krankenversicherung hatten und sich eine medizinische Versorgung nicht leisten konnten, weil sie fast sämtliche unterhalb der Armutsgrenze lebten.

Die Gesundheitskasse verbuchte zwar im Jahr 2017 einen Überschuss von 467 Millionen Euro, aber laut Médecins du monde fehlt hierzulande noch immer ein garantierter Zugang zur primären medizinischen Verpflegung, wie er beispielsweise in Belgien mit der Aide médicale urgente oder in Frankreich mit der Aide médicale d’État existiere. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Sozialleistungen selten als soziales Recht und lieber als Quelle eines möglichen „Missbrauchs“ dargestellt werden. Jedenfalls verlangt die Vereinigung, dass die Sozialversicherung auch Leute ohne feste Anschrift schützen und allen Kindern, die im Land lebten, eine vollständige medizinische Betreuung gewährleisten müsse.

Daneben weist Médecins du monde darauf hin, dass es neben Luxemburg nur noch drei Länder in der Europäischen Union gibt, wo die Kranken die Kosten ihres Arztbesuchs vorschießen müssten. Deshalb fordert die in fremden Ländern mutige Vereinigung eine Verallgemeinerung des Tiers-payant für alle gefährdeten Personen und eine schnellere Bearbeitung der Anträge auf den Tiers-payant social in den Gemeinden, ohne sich aber mit den Kollegen von der Ärztelobby anlegen zu wollen und das Nächstliegende zu verlangen, den Drittzahler für alle.

Romain Hilgert
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