Zehn Jahre nach der Euthanasie-Debatte, die beinahe zu einer Verfassungskrise führte, wagt die Regierung sich an die Bioethik – und will dazu ein Rahmengesetz herausbringen

Vorsicht, Bio

d'Lëtzebuerger Land vom 22.02.2019

Der Abschnitt ist der vorletzte im Gesundheits-Kapitel des Koalitionsvertrags der Regierung, und er ist ziemlich kurz. Unter der Überschrift „Éthique de santé“ steht dort, ein „Bioethik-Rahmengesetz“ werde geschaffen. Es soll einen Rahmen für viele Dinge setzen: Zum einen für den Schutz des menschlichen Genoms, für Gentests und die Anwendung von Gentechnologien; zum anderen soll es „ethische Fragen“ um die künstliche Zeugung klären. Es soll sich drittens über die Patentierbarkeit lebender Organismen äußern und viertens zu Erfindungen am menschlichen Körper und zu wissenschaftlichen Experimenten, in denen „überzählige“ Embryonen genutzt werden.

Fragen, was es mit dem Gesetz auf sich haben soll, weist das Gesundheitsministerium ab: Es sei noch zu früh dafür. Die „interministerielle Abstimmung“ dauere noch an, erklärt die Sprecherin von Minister Etienne Schneider (LSAP), Monique Putz.

Oviedo Überraschend ist die Zurückhaltung nicht: Vieles von dem, was das Gesetz regeln soll, wurde schon gegen Ende der Neunzigerjahre diskutiert, nach der Jahrtausendwende wurden die Debatten intensiver. Die Nationale Ethikkommission schrieb zahlreiche Stellungnahmen, denn Luxemburg hatte 1997 zu den Erstunterzeichnern der Oviedo-Konvention gehört. Dieses Übereinkommen des Europarats setzt Minimal-Normen für den Schutz der Menschenrechte in der Biomedizin. Zwischen 1998 und 2008 wurde es um vier Zusatzprotokolle ergänzt, darunter eines zum Klonverbot von Menschen (1998) und eines über medizinische Gentests (2008).

Ratifiziert hat Luxemburg die Oviedo-Konvention noch nicht. Und auch andere Versuche, bioethische Fragen per Gesetz zu klären, blieben in ihrem Ansatz stecken: Die Abteilung für künstliche Befruchtung am CHL nahm 2005 ihren Betrieb lediglich aufgrund eines ministeriellen Erlasses auf. 2002 hatte der damalige DP-Gesundheitsminister Carlo Wagner einen Gesetzentwurf ausarbeiten lassen, der in Luxemburg die kontrollierte Embryonenforschung ermöglichen sollte. Er scheiterte damit jedoch am Koalitionspartner CSV. „L’embryon n’est pas assimilé à une personne protégée par la loi“, fand die Ethikkommission 2003 nach einer aufwändigen Exegese der Rechtslage heraus. Die CSV zog es vor, es dabei zu belassen. Darüber auch nur zu debattieren, hätte sie wahrscheinlich unter den Druck ihres rechten Randes gesetzt, Embryonen einen besonderen Status zuzuerkennen.

Kulturkampf Vor allem, wenn es um Embryonen ging, drohte immer ein Kulturkampf, beziehungsweise der christlichen Volkspartei ihr Lebenschützer-Flügel. Deshalb ist das geplante Bioethik-Gesetz vielleicht einer jener legislativen Schritte, die zu gehen höchste Zeit ist, was sich aber am ehesten machen lässt, wenn die CSV in der Opposition sitzt. Einerseits ist die Partei natürlich nicht so wirklichkeitsfremd, dass sie verkennen würde, welch ein Potenzial die biomedizinische Forschung hat und dass sich aus der Anwendung ihrer Erkenntnisse Chancen für eine Biotech-Branche ergeben. Nicht von ungefähr war es die CSV, die in ihrem Wahlprogramm versprach, Luxemburg zu einem „Health Hub“ zu entwickeln. Dort würden „Forschung, klinische Medizin und Industrie auf kleinem, aber ideal vernetztem Raum zu einem grenzüberschreitenden Knotenpunkt der Gesundheit zusammengeführt“ und sich „zu einem Pfeiler der Wirtschaft etablieren“. Dass Luxemburg zu einem „führenden Akteur“ in der Biomedizin-Forschung werden müsse, verstand sich dabei.

Doch dass der „Health Hub“ eines Rechtsrahmens bedürfe, fand die CSV nicht. Die DP übrigens ebenfalls nicht; was vielleicht eine taktische Unterlassung war, um eine eventuelle Koa-
lition mit der CSV nicht unnötig zu erschweren. „Bioethik“ hatten von den großen Parteien nur LSAP und Grüne in ihren Wahlprogrammen thematisiert. Letztere versprachen, die Oviedo-Konvention umzusetzen und „die Forschung in Biomedizin, Genetik und personalisierter Medizin voran[zu]treiben“. Außerdem würden die „Abstammungsregeln für Kinder, die durch eine künstliche Befruchtung gezeugt wurden“, klar definiert, und Kinder, die durch eine Leihmutterschaft im Ausland zur Welt gekommen sind, „diskriminierungsfrei behandelt“. Die letzten beiden Fragen hatten dem grünen Justizminister Félix Braz schon in der vorigen Legislaturperiode am Herzen gelegen, er hatte sich ihnen aber noch nicht zugewandt.

Die LSAP stimmte mit den Grünen weitgehend überein, wollte aber darüberhinaus mit ICT eine „vorbeugende und personalisierte Medizin auf[zu]bauen“. Und bemerkenswerterweise schienen die Sozialisten dem Laboratoire national de santé (LNS) sein Monopol für Gentests nehmen zu wollen: Eine „Anpassung der Gesetzgebung über das LNS“ sei nötig, bei der „die Rolle der verschiedenen Akteure im Bereich der Biotechnologien und der Gendiagnostik berücksichtigt werden“ müsse.

Enorme Entwicklung ICT in Zusammenhang mit Bioethik zu bringen, ist nur scheinbar weit hergeholt. Einerseits vollziehen sich die Entwicklungen in der Biomedizin derart rasant, dass ein Grundsatzwerk wie die Oviedo-Konvention mit ihren Minimalvorschriften vielleicht schon antiquiert ist. Andererseits wird die enorme Entwicklung gerade durch die Verschränkung von Biomedizin und ICT getragen: Zunehmend lassen Diagnosen sich anhand von Gen-, Protein- oder Stoffwechselmerkmalen stellen. Genomics, Proteomics, Metabolomics heißt das im modernen Jargon. Die vielen -omics aber sind unerhört datenintensiv, was Diagnosen bald schon zum Umgang mit Big Data machen wird. Und: Das Individuum wird dadurch identifizierbar. Datenschutz und Wahrung der Privatsphäre werden mehr und mehr zum Thema, wenn es um Grundlagenforschung in diesen Bereichen, aber auch um klinische Studien mit Patienten geht. Der Regelungsbedarf wächst konsequenterweise mit.

Nach der Jahrtausendwende hatte es in Luxemburg bioethische Debatten gegeben. Einerseits um die Sterbehilfe – dass die CSV die politische Auseinandersetzung darüber 2008 und 2009 verlor, sie zwischenzeitlich in einer Verfassungskrise um die Rolle des sehr konservativen Goßherzogs bei der Inkraftsetzung von Gesetzen zu münden drohte, war ein Hauptgrund dafür, wieso anschließend lieber niemand mehr beschließen wollte, wie die Regeln zu Embryonen, Stammzellforschung, Gentests und Gentechnologien beschaffen sein sollten. Lieber wurde über „Genfood“ und eine „genfreie Landwirtschaft“ gesprochen.

Missliche Lage Zwischen 2003 und 2006 aber waren das große Themen. Zum Teil wurden sie aus dem Ausland nach Luxemburg getragen, aber auch weil auf EU-Niveau einheitliche Minimalvorschriften diskutiert wurden. Dabei zeigte sich mitunter, in welch misslicher Lage die CSV steckte. Ihr Forschungsminister François Biltgen trug im EU-Ministerrat pragmatische Positionen zu Stammzellforschung und Embryonenschutz mit. Daheim war die CSV weniger flexibel. 2006 reichte der damalige LSAP-Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo in der Abgeordnetenkammer drei Gesetzentwürfe ein. Das eine Gesetz sollte die Oviedo-Konvention und drei ihrer Zusatzprotokolle umsetzen; das vierte zu den Gentests bestand damals noch nicht. Mit dem zweiten Gesetz sollte eine EU-Richtlinie über Qualitäts- und Sicherheitsnormen für Spende, Entnahme, Konservierung, Lagerung und Weitergabe menschlicher Zellen und Gewebe in nationales Recht übernommen werden; bei der Gelegenheit sollte geklärt werden, ob Luxemburg den Import bestimmter embryonaler Stammzell-Linien für Forschungszwecke gestatten könnte. Das dritte Gesetz sollte der Biomedizin-Forschung hierzulande einen allgemeinen Rahmen geben.

Doch die drei Gesetzentwürfe blieben auf dem Instanzenweg hängen. Der Staatsrat lehnte sie noch 2006 allesamt wegen zu vieler „Widersprüche“ ab. Während zum Beispiel der Oviedo-Gesetzentwurf „toute recherche sur les embryons humains in vitro ainsi que toute constitution d’embryons humains aux fins de recherche“ untersagen wollte und im Motivenbericht stand, damit entstehe „die strengste Gesetzgebung im Vergleich der EU-Staaten“, sollte laut dem Gesetzentwurf über die Biomedizin-Forschung eine Ausnahme für „la recherche fait in vitro sur du matériel biologique prélevé sur l’homme, du moment que le prélèvement de ce matériel a été opéré à des fins d’autres que la recherche“ gelten: An überzähligen Embryonen aus künstlichen Befruchtungen sollte also sehr wohl geforscht werden können. Doch das so klar zu sagen, wagte die damalige Regierung nicht, beziehungsweise die CSV. Mars Di Bartolomeo schrieb dem Staatsrat einen Brief: Er selber sei ja für die Embryonenforschung, doch mehr als in den Entwürfen stehe, sei derzeit nicht zu haben. Man müsste eine breite öffentliche Debatte darüber führen, doch die könne „die Gesellschaft spalten“.

Bioethik und Fake News Dieses Risiko könnte heute ebenfalls bestehen. Politisiert wird eine Bioethik-Diskussion auf jeden Fall werden. Von der ADR mit großer Sicherheit, vielleicht aber auch von der CSV, ein wenig zumindest. Wenngleich Martine Hansen, die Fraktionspräsidentin, die gerne die Rolle der Frau fürs Grobe übernimmt, als Forschungsministerin nichts gegen die pragmatische Sicht der Ethikkommission auf die Embryonenforschung hatte: Künstliche Befruchtungen würden in Luxemburg nun mal vorgenommen, meinte die Ethikkommission, als sie sich 2011 nach langer Zeit mal wieder bioethisch äußerte, doch nicht alle Embryonen, die dabei entstehen, würden verwendet. Statt die überzähligen Embryonen zu „zerstören“, sei ihre Freigabe für die Forschung das „kleinere Übel“.

Weniger gewiss ist, ob eine Bioethik-Debatte aufgeklärt genug geführt werden kann. Im Unterschied zu 2006 verfügt Luxemburg heute mit dem Luxembourg Institute for Systems Biomedicine (LCSB) und der Life-Sciences-Forschungseinheit an der Uni, mit dem Luxembourg Institute of Health und der Integrated Biobank of Luxembourg (IBBL) über Institutionen auf diesem Gebiet. Nötig wäre wahrscheinlich, dass sie ihre Expertise in die Debatte einbringen. In Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien, die über die sozialen Netzwerke verbreitet werden, besteht durchaus die Gefahr, dass eine Bioethik-Diskussion außer Kontrolle gerät.

Was? Wie? Inweit? Zumal sich nicht nur die Frage stellt, ob man reguliert, sondern auch wie und inwieweit. Ganz regellos funktionieren Biomedizin-Forschung und Biotech schon jetzt nicht. Es gibt EU-Normen, es gibt in manchen Gesetzen auch bioethische Bestimmungen, etwa das „Recht auf Nicht-Wissen“, das im Patientengesetz garantiert ist. Das ist zum Beispiel von Belang, wenn es um genetische Risiken geht. Zu Datenschutz und Privatsphäre – auch in Sachen Patientendaten – sagt die Datenschutzgesetzgebung etwas aus. Die Biobank IBBL wurde aufgebaut, obwohl es keine nationalen Regelungen zum „Biobanking“ gab; sie orientierte sich an EU-Vorschriften, gab sich eigene Qualitätsstandards und ist heute eine der angesehensten Biobanken Europas. Andererseits aber plädieren auch Biotech-Unternehmer für einen klaren bioethischen Rechtsrahmen: Man dürfe die Regulierung zwar nicht übertreiben, aber gar nichts zu regeln, sei keine gute Option. Das könne auch Investoren abschrecken.

Delikat ist freilich, dass aus Regulierung auch folgen kann, einen Markt zu schaffen. Vor sechs Jahren, kurz vor Ende der letzten CSV-LSAP-Regierung, gab es Konflikte um „prädiktive“ Gentests – solche, mit denen keine Erkrankung diagnostiziert, sondern eine Risikowahrscheinlichkeit bestimmt wird, eines Tages womöglich an etwas zu erkranken. Sollte die CNS dafür bezahlen? – Die Kasse lehnte ab, die damalige Regierung widersprach nicht. Endgültig wurde das im April 2018 geklärt, als das neue Spitalgesetz in Kraft trat: Es weist dem Laboratoire national de santé (LNS) den nationalen Dienst für Humangenetik zu. Was dort geleistet wird, bezahlt die Staatskasse, nicht die CNS, wie das LNS das macht, legt es selber fest.

Doch wenn, wie der Koalitionsvertrag ankündigt, das Rahmengesetz regeln soll, wie Gentests durchgeführt werden müssen und wie die Beratung des Patienten und gegebenfalls auch die seiner Angehörigen vor und nach solchen Tests auszusehen hat, dann könnte die Diskussion darüber aufkommen, ob das LNS nicht ein unzulässiges Monopol besitzt. Dass die LSAP der Ansicht in ihrem Wahlprogramm schon zuzuneigen schien, ist einerseits erstaunlich, wenn man bedenkt, wie ihre Minister Lydia Mutsch und Mars Di Bartolomeo dieses Monopol ebenso wie das für Krebsgewebe-Analysen verteidigten, weil ein spezialisiertes Zentrum für ein kleines Land besser sei als der Markt. Doch andererseits entwickelt sich die Biomedizin gerade bei der Bestimmung genetischer „Risiko-Profile“ außerordentlich schnell, was auch angetrieben wird durch spezialisierte Smartphone-Apps. So gesehen, könnte die Bioethik-Debatte übergehen in eine, was im Zeitalter der vielen -omics und von Big Data aus der solidarisch finanzierten Krankenversicherung werden soll, die jedem Versicherten ganz unabhängig von seinem Risiko dieselben Leistungen garantiert.

Footnote

Peter Feist
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