Die Grünen opfern ihren Sitz im Europaparlament, um ihr Abgeordnetenmandat im Norden und damit, wer weiß, die Chance auf eine Koalition mit der CSV zu retten

Eurofighter über dem Ösling

d'Lëtzebuerger Land du 01.06.2018

„Wir haben auch intern viel diskutiert: Wie machen wir das? Und es waren Lösungen da, die waren weniger brutal“, meinte Claude Turmes am Dienstag nach der Entscheidung seiner Parteileitung, ihn in die Regierung zu schicken. So als ob es für die grüne Partei etwas weniger Brutales geben könnte, als auf einen 57-jährigen Berufspolitiker zurückzugreifen, der fast 20 Jahre seines Lebens im Europaparlament verbrachte. So als ob es unvorstellbar gewesen wäre, einen 27-Jährigen zu schicken, der die Partei erneuern hilft, einen Angestellten mit einem normalen Brotberuf, jemand aus der Zivilgesellschaft, eine zweite Frau unter den vier grünen Regierungsmitgliedern.

„Weniger brutal“ meinte Claude Turmes mit tränenunterdrückter Stimme nicht zuletzt für sich selbst. Weil er jetzt „mit Emotionen und wenigstens einer halben Träne im Auge“ das Europaparlament verlassen müsse, das ihm „eigentlich außer­ordentlich Freude gemacht hatte“. Doch „ich höre auf im Europaparlament, damit den Leute im Norden bei den Wahlen im Oktober klar ist: Claude Turmes, wenn er gewählt wird, dann geht er ins Parlament“.

Unter „weniger brutal“ war offenbar zu verstehen, dass die Partei das getan hätte, was Parteien so tun, wenn sie Regierungsposten zu besetzen haben, dass sie ihren vor zwei Wochen verstorbenen Staatssekretär für Nachhaltigkeit und Infrastrukturen, Camille Gira, durch den Nächstgewählten im Nordbezirk ersetzt hätte. Aber ausgerechnet im Nordbezirk hat die Partei ein größeres Problem: Die Zweitgewählte, die Geschäftsführerin des Pall Center in Oberpallen, Christiane Wickler, gab nach nur einem halben Jahr ihr Mandat im Parlament wieder auf, weil der Geschäftsfrau dessen Effi­zienz und vielleicht auch der Umgangston in der grünen Fraktion nicht behagte. Der Drittgewählte, der Diekircher Physiklehrer Frank Thillen, durfte als Schwager des grünen Abgeordneten Claude Adam sein Mandat gar nicht erst antreten.

Also bedankte sich Parteipräsident Christian Kmiotek am Dienstag mit tränenunterdrückter Stimme ausdrücklich im Namen der Partei bei dem Viertgewählten, dem Studienrat und Useldinger Schöffen Gérard Anzia, dass er sich mit seinem Abgeordnetenmandat zufriedengibt und darauf verzichtet, Spitzenkandidat im Norden sein zu wollen. Dass er also den Weg frei macht, um vielleicht den grünen Sitz im Norden zu retten. Denn weil vier Monate vor den Wahlen und während der Sommerpause nicht mehr an politische Akzente in der Regierung zu denken ist, zielt das ganze Manöver darauf, einen neuen Spitzenkandidaten im Ösling zu mobilisieren, der der Popularität Camille Giras am nächsten kommt.

Folglich muss sich Claude Turmes, der einst auf der grünen Südliste und bei den Gemeindewahlen in Esch-Alzette kandidierte, auf seine Öslinger Wurzeln besinnen und am Wochenende in seine Geburtsstadt Diekirch umziehen. Gérard Anzia hämmerte ein: „Claude Turmes ist ein Mensch aus dem Norden, er kommt aus Diekirch und er wird auch in Diekirch wohnen.“ Claude Turmes erinnerte sich seinerseits mit tränenunterdrückter Stimme: „Jetzt komme ich dorthin zurück, wo ich geboren wurde, wo ich zur Schule ging.“

Claude Turmes’ Ernennung muss von einem außerordentlichen Kongress am kommenden Dienstag bestätigt werden. Da die Parteistatuten in dieser Frage noch vom Misstrauen der Basis gegenüber der Parteiführung und von den Rivalitäten der untereinander lange zerstrittenen grünen Parteien geprägt ist, bleibt die Prozedur kompliziert: Laut Statuten muss ein Regierungsmitglied durch einen Kongress mit einer 3/5-Mehrheit bestätigt werden. Damit dieser Kongress aber beschlussfähig ist, muss ein Sechstel der Mitglieder teilnehmen. Die Parteiführung befürchtet, dass dieses Quorum von über hundert Mitgliedern nächste Woche nicht erreicht wird. Dann hat ein Minimum von zehn Prozent der Mitglieder sechs Arbeitstage nach dem Versand des Kongressberichts Zeit, die Kongressbeschlüsse anzufechten und einen neuen Kongress zu verlangen. So lange muss der Großherzog mit der Vereidigung seines neuen Staatssekretärs warten.

Um ihren Nordsitz zu retten, sind die Grünen bereit, ihren Sitz im Europaparlament zu opfern. Denn dieser hing weitgehend von den persönlichen Stimmen Claude Turmes’ ab, der 2014 zwar zehn Prozent seiner Stimmen verlor, aber immerhin noch mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Zweitgewählte, seine designierte Nachfolgerin Tilly Metz, erhielt.

Laut Meinungsumfragen sollen die Grünen im Oktober keine oder zumindest weniger Stimmen verlieren als DP und LSAP. Deshalb macht sich ein Teil der Partei Hoffnungen – trotz der unfreundlichen Geste bei der Besetzung des Staatsrats – für die CSV als Koalitionspartner in Frage zu kommen. Damit diese Rechnung aufgeht, muss Claude Turmes aber Camille Giras Sitz im Norden verteidigen. Auch die grüne Zentrumsliste ist geschwächt, weil die Zweit- und der Drittgewählte, Viviane Loschetter und Claude Adam, nicht mehr kandidieren. 2013 waren die Grünen die einzige der drei Regierungsparteien, die ein Mandat verloren.

Dabei ist der ländliche Norden der Bezirk, wo die Grünen 2013 ihren niedrigsten Stimmenanteil hatten, wo es ein tiefes Misstrauen gegen den für blauäugig gehaltenen Messianismus für Biolandwirtschaft und Tierschutz gibt. „Camille Gira brachte es 1994 fertig, was es bis dahin nicht gab, nämlich den Grünen im Norden eine Stimme zu verleihen, in einem Milieu, das wir alle kennen, das eben konservativer ist“, erinnerte sich Gérard Anzia am Dienstag. „Er verlieh dem Naturschutz eine Stimme im Norden und das passt dazu, dass man konservativ ist, wenn man etwas konservieren will.“ Tatsächlich waren im Norden die enttäuschten Mitglieder linker Parteien seltener in der Umweltpartei als andernorts. Einer der Pioniere des Mouvement écologique im Norden, Marco Schank, ging nicht zu den Grünen, sondern wurde CSV-Minister. Camille Giras Erfolg erklärte sich auch damit, dass er sich darauf beschränkte, den jovialen Lokalpolitiker und Naturschützer zu geben.

Wie alle Europapolitiker spielte auch Claude Turmes stets eine Außenseiterrolle in seiner Partei. Der Sportlehrer und Aktivist des Mouvement écologique war 1999 unter mehreren Mitbewerbern als Quereinsteiger auf die Europaliste von Déi Gréng gesetzt worden, um der rechten Konkurrenz von Jup Webers Gréng a liberal Allianz (Gal) Stimmen abspenstig zu machen. Dass die Grünen dann einen Sitz im Europaparlament erhielten, wurde nicht zuletzt durch die zahlreichen persönlichen Stimmen des Erstgewählten, Camille Gira, möglich.

Obwohl Claude Turmes damals nur als Siebter gewählt worden war, durfte er nach Straßburg, weil all die besser gewählte Parteiprominenz einen Sitz im nationalen Parlament vorzog. Teilweise an der Partei vorbei verstand er es aber dann äußerst medienwirksam, aus seinem Europaexil das Bild des hyperaktiven, schrulligen Technokraten mit Pferdeschwanz und Spaßbrillen zu vermitteln und so dreimal wiedergewählt zu werden.

Claude Turmes wetterte nicht nur gegen Tanktourismus, Freihandel und andere Erbsünden der Regierungsgrünen. Im Gegensatz zu ­Camille Gira vertrat er auch linke Positionen, gab sich sozial­kritischer und politischer. Die Grünen profitierten von seiner großen Popularität, nannten ihn wegen seines manchmal naiv erscheinenden Tatendrangs im Straßburger Europazirkus „Eurofighter“, wie das viel kritisierte Kampfflugzeug, und wurden selbst angepasster und liberaler.

Aber der Alltag des Europaparlaments besteht aus ständigem Taktieren zwischen Institutionen und Parteien um jedes Komma. Zwei Jahrzehnte im Europaparlament sind deshalb eine große Schule der Anpassungsfähigkeit, selbst wenn man auf den magischen Telefonanruf von ­Claude Wiseler wartet. „Politik funktioniert am besten, wenn sie die Partei­grenzen überschreitet“, beteuerte Claude Turmes am Dienstag.

Romain Hilgert
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