Es ist mal wieder soweit: Organisationen schreiben den Parteien Wunschzettel für den Wahlkampf. Manche nennen das „Virschléi“, wie der Mouvement écologique, andere „Contributions“, wie der Unternehmer-Dachverband UEL. Wieder andere bezeichnen ihre Ideen unverblümt als „Forderungen“, wie die Plattform Meng Landwirtschaft. Der Ärzteverband AMMD hat ebenfalls niedergeschrieben, was er sich wünscht, und bescheiden mit „Überlegungen im Vorwahlkampf“ betitelt. Dabei haben die es in sich. Zum Beispiel steht dort: „Im Interesse der Patienten und im Sinne eines dynamischen und kompetitiven nationalen Gesundheitssystems muss die Monopolstellung der Gesundheitskasse aufgeweicht werden.“ Und dass es „notwendig“ sei, „die Zuständigkeiten alternativer Kassen zu fördern und auszubauen, damit ein möglichst breites Spektrum an Leistungen versichert werden kann und versichert werden wird“.
Auch ohne viel Fantasie versteht man: Macht die nächste Regierungsmehrheit sich diese Überlegungen zu eigen und setzt sie um, könnte die „Krankenversicherung für alle“ aufhören zu existieren, und die zurzeit nur punktuell bestehende Zweiklassen-Medizin nähme zu. Denn „alternative Kassen“ müssten die Leute sich leisten können, und wer das nicht könnte, dem bliebe der Zugang zu einem „möglichst breiten Spektrum an Leistungen“ verschlossen. Folglich geht es der AMMD, der Schluss liegt nahe, in ihren Überlegungen in Wirklichkeit um das Portemonnaie der Ärzte.
Doch die AMMD begründet, was sie angedacht hat, so: Jeder Arzt wird in Luxemburg automatisch und obligatorisch Kassenarzt. Anbieten kann er nur, was in der Gebührenordnung steht. Die aber ist hoffnungslos veraltet. Zwar haben AMMD und CNS begonnen, sie zu überarbeiten, darüber dürften aber noch ein paar Jahre vergehen. In der Zwischenzeit jedoch bestehe der dem Sozialminister unterstehende Medizinische Kontrolldienst der Sozialversicherung „auf einer harten und wortgetreuen Interpretation der bestehenden Gesetzeslage und verschließt somit den Ärzten jeglichen Handlungsspielraum“.
Falls das stimmt, ginge es der AMMD nicht nur ums Portemonnaie der Ärzte. Vielmehr würde es heißen, dass beamtete Ärzte einer Abteilung des Sozialministeriums eine Übergangsphase verhindern, in der ein Arzt draußen im Land anbieten könnte, was noch nicht in der Gebührenordnung steht. Die Leidtragenden wären die Patienten, obwohl ihnen der Code de la sécurité sociale eine Behandlung garantiert, die den „acquis de la science“ entspricht.
Ob der einzige Ausweg aus dieser Lage im Ausbau der „Zuständigkeiten alternativer Kassen“ besteht, fragt sich natürlich. Ob das Problem so groß ist, wie die AMMD es darstellt, fragt sich auch. Ihr Präsident Alain Schmit lehnte es ab, das mit dem Land zu diskutieren: Nach dem 28. Mai, kommenden Montag also, werde der Ärzteverband dazu „eine Kommunikation machen“, schrieb er per E-Mail. Eigentlich hatte die AMMD am Donnerstag vergangener Woche eine Pressekonferenz abhalten wollen, sie aber abgesagt, nachdem am Tag zuvor Staatssekretär Camille Gira überraschend verstorben war.
Das Sozialministerium kommentierte die Frage, wie der Minister Romain Schneider (LSAP) unmittelbar unterstehende Medizinische Kontrolldienst vorgeht und ob er auf Weisung des Ministers agiert, ebenfalls nicht. Romain Schneiders Generalkoordinator und Sprecher Abilio Fernandes versprach, „bei den Kollegen vom Contrôle médicale nachzufragen, ob sie ihren Ansatz geändert haben“, meldete sich bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels aber nicht zurück. „Beim Contrôle médical nachfragen“ zu wollen, impliziert jedoch, dass der Minister mit der Haltung seiner Kontrolldokteren am besten nicht in Verbindung gebracht werden soll. Und natürlich auch nicht damit, dass zurzeit womöglich nicht jeder CNS-Versicherte eine Behandlung nach dem Stand der Wissenschaft erhalten könnte.
Wie gravierend die Lage tatsächlich ist, könnte sich erst zu erhellen beginnen, wenn der Ärzteverband deutlicher erklärt, was er meint. Aber selbst in Ärztekreisen wurden bisher nur wenige Konflikte um „Einschränkungen“ bekannt. Eigentlich waren es nur zwei. In einem Fall entschied der CNS-Vorstand auf Anraten des Medizinischen Kontrolldienstes, Patienten mit einer Arthrose im Knie nicht mehr die Kosten für das Medikament Hyaluron zu erstatten. Bis dahin war es rund 6 000 Mal pro Jahr verabreicht worden, doch der Kontrolldienst berief sich auf die französische Haute Autorité de Santé, die zu dem Schluss gekommen war, das Medikament wirke nicht gut genug. Die AMMD entgegnete schockiert, die Hyaluron-Spritzen wirkten in 70 Prozent der Fälle und erlaubten es, den Einsatz einer Knieprothese über Jahre hinauszuschieben. Der Kontrolldienst blieb jedoch bei seiner Einschätzung.
In dem zweiten Fall beschloss die CNS, dass die Verschreibung von „Biotherapien“ bei Autoimmunerkrankungen nur noch bestimmten Fachärzten vorbehalten sein soll. Für die AMMD kam das einem Eingriff in die dem Arzt gesetzlich garantierte Verschreibungsfreiheit gleich.
Ein dritter Konflikt wurde in den Osterferien laut, war aber keiner: Da beschwerte die AMMD sich in einem offenen Brief an Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo, die CNS verpflichte die Privatlabors neuerdings zu kontrollieren, welche und wie viele Analysen die Ärzte verschreiben. Sie habe die Labors angewiesen, Patienten mit nicht konformen Verschreibungen abzuweisen. Die AMMD verschwieg jedoch, dass schon vor den Osterferien entschieden worden war, auch mit einer nicht konformen Verschreibung sollte kein Patient fortgeschickt werden, sondern gegebenenfalls – wie bisher – aus eigener Tasche bezahlen, wofür die CNS nicht aufkommt.
Desinformationen zu angeblichen Kontrollen und Klagen darüber, dass die Verschreibung einer Therapie von Fachkompetenz abhängig wurde, eignen sich nicht gut als Basis, um behaupten zu können, das bestehende System enthalte Patienten mit CNS-Karte Behandlungen vor. Da bleiben als Beispiel vielleicht nur die Arthrose-Spritzen. Doch selbst das hat nichts zu tun mit der Verschreibungsfreiheit und den Lücken in der Gebührenordnung, wegen denen nicht alle Behandlungen angeboten werden können – sondern damit, dass die CNS für ein Medikament nicht mehr zahlt. Und selbst aus Lücken im Tarifwerk muss nicht folgen, dass der Arzt nichts machen kann. Für den Einsatz von Zahnimplantaten etwa ist in der Zahnärzte-Gebührenordnung bis heute weder ein Behandlungsakt definiert, noch ein Tarif, der in Rechnung gestellt werden kann. Dennoch werden Implantate eingesetzt; der Patient bezahlt dafür selber.
Leider kann man aus all dem nicht so einfach schließen, dass die AMMD viel Lärm um nichts macht. Der Lärm scheint Ausdruck schon lange bestehender Widersprüche in dem von Staat und CNS recht und schlecht regulierten Gesundheitssystem zu sein, dessen wichtigste Akteure die Ärzte sind. Doch die automatisch und obligatorisch zu Kassenärzten gemachten Mediziner sind zum größten Teil Freiberufler, sogar in den Spitälern. Freiberufler aber sind Alleinunternehmer, die auf Umsatz und Gewinn achten. Deren Höhe entscheidet sich vor allem am Inhalt der Gebührenordnung, an der Möglichkeit, „Privatbehandlungen“ vornehmen zu können, und daran, wie viel der Arzt arbeitet. Für Arztleistungen gilt in Luxemburg in erster Linie das Prinzip Fee-for-service. Jeder Behandlungsakt hat einen Preis, und wer viele Behandlungen vornimmt, verdient viel.
Dass die AMMD sich „alternative Kassen“ neben der CNS wünscht, deutet klar darauf hin, dass es ihr um Verdienstmöglichkeiten an Leistungen geht, für die die CNS nicht aufkommt. 2013 und 2014 diskutierten Kasse und Ärzteverband erfolglos über eine Ausweitung von Zusatzbehandlungen. Das Problem war unter anderem, dass Zahnärzte in der Hinsicht freier sind als andere Ärzte, doch diesen dieselben Möglichkeiten einzuräumen wie den Dentisten, lehnte die CNS ab. Die AMMD gab die Frage an den Sozialminister weiter, scheint von ihm aber noch immer keine Antwort erhalten zu haben. Denn nach wie vor macht sie entschieden Front gegen den Tiers payant généralisé, über den Romain Schneider im Januar sagte, er könne auch per Gesetz eingeführt werden. Kurz zuvor hatte die AMMD ihm wieder einen Brief geschickt und „umgehend“ mehr Freiheiten zur Abrechnung von Zusatzleistungen verlangt.
Vielleicht lassen ihre „Überlegungen“ sich mit Frust über den Minister erklären. Andererseits scheint sie zu Recht darauf zu verweisen, dass bei steigender Einwohnerzahl ein Ärztemangel drohe: Zwischen 2007 und 2016 hat die Alterspyramide der Mediziner sich deutlich in Richtung der ab 50-Jährigen verschoben. Da Luxemburg seine Ärzte nicht selber ausbildet, die Medical School an der Universität schrittweise aufgebaut wird und ohnehin nicht dazu gedacht ist, den gesamten Ärztenachwuchs zu liefern, fragt sich durchaus, wo er herkommen soll, wenn nicht überwiegend aus dem Ausland. Und wie er für eine Tätigkeit hierzulande interessiert werden soll. Bisher funktioniert das vor allem über das Versprechen auf hohe Einkünfte für den, der viel arbeitet, und über den Vorteil, dass jeder Arzt, der sich hier niederlässt, Kassenarzt wird und bei der CNS abrechnen kann. Letzteren Punkt scheint auch die AMMD so zu sehen, denn von der von ihr früher verlangten „Dekonventionierung“ ist in den „Überlegungen“ keine Rede. So unbequem sitzt es sich demnach nicht auf dem Ast der CNS, deren Monopol man aufweichen will.