„Datenschutz und Urheberrechte“ waren einst die Hauptanliegen der Piratenpartei, erinnerte Andy Maar am Montagabend die Parteikollegen auf dem Kongress in Bonneweg. Die Piratenpartei war im Oktober 2009 als eine Art Franchise der 2006 entstandenen schwedischen Piratenpartei gegründet worden, als die inzwischen untergegangenen deutschen Piraten bei den Landtags- und Bundestagswahlen zu kandidieren begannen.
Im Trend der Zeit wollten Gründervater Sven Clement und einige Schüler und Studenten, meist von Computern begeisterte junge Männer, mit einer libertären Jugendpartei den Erfolg der Grünen eine Generation zuvor wiederholen. Bloß dass sie, im Trend der Zeit, statt des konstanten das immaterielle Kapital, nicht mehr die Natur, sondern das Internet retten wollten, von dem inzwischen der eine oder andere als Inhaber einer kleinen Firma lebt.
2013 hatte die Partei erstmals an Parlamentswahlen teilgenommen und ihr nicht ganz idealistisches Wahlziel erreicht, in allen Bezirken mehr als zwei Prozent der Stimmen zu erhalten. Denn vollständige Listen mit mindestens zwei Prozent Stimmen haben laut Parteienfinanzierungsgesetz von 2007 Anspruch auf sechsstellige Zuschüsse aus der Staatskasse.
Bei den Gemeindewahlen vergangenes Jahr hatten die Piraten in sechs Proporzgemeinen, an den Wohnsitzen ihrer aktivsten Militanten, kandidiert und zwei Mandate in Petingen und eins in Remich gewonnen. Nun hoffen sie, im größten Wahlbezirk, im Südbezirk, gegenüber 2013 zwei Prozentpunkte zuzulegen und einen Deputierten zu erhalten – auch wenn die Wählerbefragungen derzeit nicht darauf hindeuten.
Von Datenschutz und Urheberrechten ging kaum noch die Rede, als Generalsekretär Marc Goergen in seiner Begrüßungsansprache am Montag die Schwerpunkte des Wahlprogramms für den 14. Oktober aufzählte. Stattdessen fielen ihm ein „starker Mindestlohn, ohne die Unternehmen zu belasten“ ein, staatlicher Wohnungsbau, gleiche Steuern für Verheiratete, Junggesellen und Verwitwete, Autosteuer für alle Straßenbenutzer und strengerer Tierschutz.
Denn die Piratenpartei von heute ist nicht mehr die von 2009. Die Gründerväter sind erwachsen geworden, taten den Schritt von der virtuellen Welt in die reale und suchten links und rechts nach politischen Inhalten für ihr Franchise-Unternehmen. Die einen entwickelten Sympathien für soziale Randgruppen, die anderen für die Nöte der Geschäftsleute. Gleichzeitig kamen neue Mitglieder, sogar Frauen, Frustrierte aus fast allen anderen Parteien, Parteilose, Tierschützer und die üblichen Spinner, denen Datenschutz und Urheberrechte nichts bedeuteten, die aber in den Piraten eine kleine, hierarchiefreie Partei sahen, in der sie endlich Gehör für ihre Anliegen finden könnten.
In einem engen, an ein Bauholzlager erinnernden Saal der Rotondes standen dem halben Hundert Parteigänger am Montag drei Fahnen mit den Losungen „modern: Lëtzebuerg digital“, „fair: Déiereschutz“ und „sozial: Grondakommes“ gegenüber. Inzwischen reicht das Mitgliederspektrum von weit rechts bis weit links und mit viel Eklektizismus versucht die Partei, jeden zufriedenzustellen: Der neue Shootingstar der Piraten, der Remicher Immobilienmakler Daniel Frères, zuvor Pid, der mit Hilfe des Skandalblatts Lëtzebuerg Privat zum Sturz des grünen Bürgermeisters Henri Kox beigetragen hatte, beschwerte sich, dass ältere Landsleute sich nicht mehr trauten, beim Einkaufen luxemburgisch zu reden. Während Andy Maar, der ehemalige Präsident des ADR-Nachwuchsorganisation Adrenalin, erfolglos einen Änderungsantrag zum Wahlprogramm verteidigte, um die Nationalstaaten abzuschaffen und eine Republik Europa auszurufen.
Als ob das alles noch nicht genügt hätte, kandidieren nun auch noch 15 Mitglieder der spiritistischen Partei für integral Demokratie (Pid) auf den Listen der Piratenpartei. Nachdem er die ADR verlassen hatte, gründete der Arzt Jean Colombera diese bei der Integralen Politik Schweiz inspirierte Partei, um sein Parlamentsmandat im Norden zu retten, was ihm aber nicht gelang. Als Gast der Piraten erklärte Jean Colombera seine politische Linie am Montag: Die Pid sei ein Partei von reinen Außenseitern, er, Colombera, sei „mit nichts einverstanden hier im Land“, er sei für nichts weniger als einen „Systemwechsel“.
Seit zwei Monaten verfügt die Pid über ein eigenes Wahlprogramm für die Kammerwahlen, es umfasst 87 Punkte, von der Entkriminalisierung des Cannabis-Konsums über Arbeitszeit- und Steuersenkungen, eine Robotersteuer zur Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens und die Beibehaltung des Bargelds bis zu Eros-Zentren und zum Austritt aus der Nato. Allerdings muss die Pid ihr Wahlprogramm für sich behalten. Denn ihre Kandidaten haben sich verpflichtet, im Wahlkampf ausschließlich das Programm der Piratenpartei zu vertreten, von dem Pid-Präsident Christian Isekin behauptete, es „zu 95 Prozent“ mittragen zu können. Zu den fünf Prozent gehört offenbar, dass die Pid die Gehälter im öffentlichen Dienst um zehn Prozent erhöhen, die Piratenpartei die staatlichen Gehälterkosten aber einfrieren will.
Der Eklektizimus führt erwartungsgemäß zu Reibereien. Andy Maar beschwerte sich am Montag, dass das Wahlprogramm, anders als 2013, „im Eilverfahren“ bei nur zwei Workshops ohne Sitzungsberichte zustande gekommen sei und von allen Änderungsanträgen nur seine beiden nicht in den Text integriert, sondern gesondert zur Abstimmung gestellt worden seien. Der von der DP kommende Generalsekretär Marc Goergen entlarvte dagegen eine von Maar geleitete „Fraktion“ in der Partei, die das Konvent mit „Trollaktionen“ gestört und sich deshalb der „Parteischädigung“ schuldig gemacht habe. Ein Anhänger der Maar-Fraktion beschwerte sich wiederum, keine Einladungen zu Parteiversammlungen erhalten zu haben, was Präsident Sven Clement kurzerhand mit Problemen bei der Verwaltung der Mitgliedslisten erklärte.
So ist die Piratenpartei ein Chaotenhaufen, den Präsident Sven Clement mit eiserner Hand und einer streng preußischen Geschäftsordnung zu führen versucht, um nicht, wie sein neuer Verbündeter Jean Colombvera, den reinen Außenseiter, sondern den gutbürgerlichen Politiker spielen zu können: Unbeirrbar gefällt er sich in all dem Durcheinander darin, salbungsvolle Reden über die Halbherzigkeit von Regierung und CSV, die wirklichen Probleme im Land, über Europa, China und die USA zu halten, sowie sich einen Wahlkampf als nützlichen Wettbewerb der Ideen zu wünschen, um zu jedem Preis ins Parlament zu kommen.
Dieses Bemühen, als „richtige“ Partei von den anderen Parteien und den Wählern ernstgenommen zu werden, drückt sich auch im für eine kleine Partei sehr umfangreichen Wahlprogramm aus. Es listet Reformvorschläge für fast alle Regierungsressorts auf, so als ob die Piraten jederzeit bereit seien, Ministerämter zu übernehmen. Zudem ist es das einzige Parteiprogramm, das vollständig auf Luxemburgisch verfasst ist, damit niemand auf die Idee kommt, dass die Piraten eine Import-Franchise seien.
Gleichzeitig drückt der Eklektizismus des Wahlprogramms den Meinungswirrwarr in der Partei aus. Das Programm besteht aus seitenlangem Copy/Paste aus dem Programm von 2013, zu dem alle Parteimitglieder mittels einer Eingabemaske auf der Web-Seite der Partei ihr Pfefferkörnchen beisteuern durften, was der Kohärenz nicht immer förderlich war.
Die Piraten wollen sich wie 2013 vor allem mit dem Versprechen eines bedingungslosen Grundeinkommens von den anderen Parteien unterscheiden. Weil sie aber ebenso realistisch und verantwortungsbewusst wie die anderen Parteien erscheinen wollen, wird das Grundeinkommen bloß als „langfristige Lösung“ (S. 2) dargestellt, so wie auch die LSAP zwischen kleinlichen kurzfristigen Sachzwängen und edlen langfristigen Prinzipien unterscheidet. Das Grundeinkommen für alle soll vorsorgen, wenn Digitalisierung und Automatisierung keine Vollbeschäftigung mehr gewährleisten. Bei gleicher Gelegenheit sollen der Sozialstaat „vereinfacht“, der Arbeitsmarkt „flexibilisiert“ und „die Lohnkosten massiv gesenkt werden“ (S. 8).
Wer das Grundeinkommen bezahlen soll, bleibt sicherheitshalber unklar: Das Grundeinkommen soll „langfristig über die Einführung einer negativen Einkommensteuer finanziert werden“, bei denen Einkommensteuerpflichtige unter einem nicht genannten Einkommensniveau Geld bekommen (S. 6-8). Bedeutet diese „Finanzierung“ aber eine dramatische Umverteilung zulasten der anderen einkommensteuerpflichtigen Haushalte, sollen die von den Lohnkostensenkungen profitierenden Betriebe auch zahlen, entsteht die Ersparnis durch die Streichung von Renten, Kindergeld, Arbeitslosenhilfe, RMG... ? So steht das bedingungslose Grundeinkommen für das ganze Wahlprogramm: ein neoliberaler Vorschlag mit sozialem Anstrich.
Die Kleinunternehmer unter den Piraten klagen auch über „die enorme aktuelle Staatslast“ auf den Firmen (S. 45) und fordern eine Befreiung neu gegründeter Firmen von allen Steuern und Sozialbeiträgen. Die Piraten wollen einen „kontrollierten Rückzug des Staats“ aus der Wirtschaft (S. 44) und einer Vereinfachung des Steuerrechts mit dem „Ziel der Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ (S. 30). Dies hatte der christdemokratische Politiker Friedrich Merz 2003 in Deutschland als Angriff auf die unterschiedliche Steuerfähigkeit der Steuerzahler und die Progression der Lohnsteuertabelle vorgeschlagen.
Wie manche linke Partei in der Vergangenheit schlagen die Piraten eine Deckelung des Index vor. Von dem Abschnitt aus dem Programm von 2013 zur einst von der DP verlangten Einführung des Kapitaldeckungsverfahrens in der Rentenversicherung ist nur noch die einsame Überschrift übrig.
Die ökonomische Disziplinierung mittels der Maastricht-Kriterien wollen die Piraten weiter radikalisieren und auf die Minister ausweiten: Deren Gehälter sollen um ein Viertel gekürzt werden, wenn der Staatshaushalt nicht bis 2020 ausgeglichen ist, „nicht nur auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit“ (S. 25). Sanktionen sollen auch drohen, wenn die Kritiken des Rechnungshofes nicht beachtet werden.
Das Wahlprogramm der Piratenpartei bescheinigt Luxemburg ein „Demokratiedefizit“ (S. 21), schweigt sich aber zu dem noch 2013 im Wahlprogramm geforderten Ausländerwahlrecht nach einjährigem Aufenthalt aus, vielleicht auch unter dem Einfluss der rechten Neuzugänge in den eigenen Reihen. Dafür soll die Wahlpflicht abgeschafft und ein landesweiter Wahlbezirk eingeführt werden. Alle zwei Jahre sollen abwechselnd Kammer- und Gemeindewahlen stattfinden. Die Forderung von 2013 nach einem Referendum über die Monarchie oder eine Republik ist verschwunden.
Selbstverständlich setzen sich die Piraten auch für verschärften Datenschutz für sich selbst ein und für das Gegenteil, mehr Transparenz, beim Staat. Als vielleicht letzte Partei im Land fordern sie, das „Bankgeheimnis [zu] stärken“ (S. 46). Sie wollen den Glücksspielmarkt im Internet liberalisieren, haben aber das Zauberwort „Bitcoin“ in ihrem Wahlprogramm vergessen.
Wie die Grünen widmen die Piraten gesellschaftspolitischen Reformen viel Aufmerksamkeit. Sie lehnen ein Verschleierungsverbot für islamische Frauen und die religiöse Beschneidung von Knaben jüdischer und islamischer Eltern ab und fordern eine Legalisierung des Cannabis und eine „konsequente Inklusion von LGBTIQ-Menschen“ (lesbian, gay, bisexual, transgender/transsexual, intersex and queer/questioning, S. 33). Der Jugendpartei sind in ihrem Wahlprogramm nur 16 Zeilen zum Thema „Drittes Alter“ eingefallen, weit weniger als zum Tierschutz. Aber sie verlangt ein Verbot für Zirkustiere und die Abschaffung der Hundesteuer. Außerdem sollen Luxemburger Künstler im Ausland als Marque nationale, als „eine gemeinsame Kunstmarke“, auftreten (S. 89). Und weil es die Augen/Hand-Koordination und schnelle Reflexe fördere sowie Disziplin verlange, soll das Daddeln mit Computerspielen endlich als „offizielle Anerkennung von E-Sport als Sportart“ geadelt werden (S. 92).