Am Mittwoch stritten sich in Kirchberg die lettische Regierung und die Europäische Zentralbank (EZB) darum, ob eine nationale Regierung das Recht hat, einen Zentralbankchef des Eurosystems abzusetzen und einen Vertreter für den EZB-Gouverneursrat zu bestimmen oder nicht. Dabei zeigte sich, dass im Zweifelsfall die persönliche Unabhängigkeit eines Zentralbankers wichtiger ist, als seine persönliche Integrität. Denn konkret geht es um den lettischen Zentralbankchef Ilmārs Rimšēvičs, der im Februar von den lettischen Anti-Korruptionsbehörden festgenommen, auf Kaution freigelassen und als Zentralbankchef entmachtet wurde, weil er Schmiergelder im Zusammenhang mit der Bankenaufsicht angenommen haben soll. Rimšēvičs ist noch nicht angeklagt, geschweige denn verurteilt. Aber es scheint außer Zweifel, dass bei der lettischen Bankenaufsicht einiges schief gelaufen ist.
Daher kann es arglose Beobachter auf den ersten Blick verwundern, wenn die EZB argumentiert, es stelle nicht nur ein legales Risiko, sondern auch eines für die Reputation der EZB dar, nicht wenn Rimšēvičs an den Ratssitzungen teilnimmt, sondern ihnen langfristig fernbleibt. Korruptionsverdacht hin oder her, Lettlands Stimme im Gouverneursrat gehört laut EZB Rimšēvičs, nicht seiner Stellvertreterin, die als Beobachterin an den Sitzungen teil nimmt. Da will sich die EZB von keiner nationalen Regierung hineinreden lassen, denn das wäre ein inakzeptabler Angriff auf ihre Unabhängikeit. Wenn er nicht an den Abstimmungen teilnimmt – der Zentralbankchef hat Reiseverbot und keinen Pass mehr –, bestehe die Gefahr, dass das notwendige Stimmquorum nicht erreicht werden könnte. Zumal der slowenische Zentralbankchef gerade gekündigt hat, um sich beruflich neu zu orientieren, er bis zum Herbst nicht ersetzt wird, und demnächst noch andere Ratsmitglieder beziehungsweise Zentralbankchefs ausgewechselt werden müssen. Dadurch sei der Entscheidungsprozess innerhalb der EZB gefährdet und damit ihr guter Leumund.
In ihrem Bestreben, ihre Unabhängigkeit unter allen Umständen gegen politischen Einfluss zu verteidigen, riskiert die EZB allerdings sich selbst auszutricksen. Denn um ihren Argumenten Gewicht zu geben, erklärte der Rechtsbeistand der EZB, in der Vergangenheit habe es bereits Probleme gegeben, das Stimmquorum zu erreichen. Ganz konkret zum Beispiel 2011 und auch im Rahmen von dringend einberufenen Telefonkonferenzen. Mitten in der Schuldenkrise also, als auf den Finanzmärkten Panik herrschte, in den Medien um den Globus tagein, tagaus Grafiken von Versicherungs-Spreads auf deutschen, griechischen, italienischen Staatsanleihen erläutert wurden und in Italien die Technokratenregierung Mario Montis eingesetzt worden war, hatte die EZB Mühe, genug Zentralbanker um den Tisch, beziehungsweise an die Strippe zu bekommen, um Entscheidungen zu treffen. Abgesehen von der Frage, was genau ein Zentralbankgouverneur Wichtigeres zu tun hat, als ans Telefon zu gehen, wenn Mario Draghi in Krisenzeiten anruft, zieht dieses Eingeständnis an sich die Glaubwürdigkeit der EZB ganz erheblich in Zweifel.
Den Euro rettete Draghi damals mit der Drohung an die Finanzmärkte, er werde alles tun, was dazu nötig sei. Diese Drohung steht und fällt mit dem Versprechen, jederzeit handlungsfähig zu sein, um sie wahrmachen zu können.
In Rom ist das Vorhaben vorübergehend gescheitert, eine neue Technokratenregierung einzusetzen, um zu verhindern, dass populistische EU- und Euro-skeptische Parteien die Macht übernehmen. Die hat das Vok gewählt, auch um gegen das nachhaltig wirkende Spardiktat der letzten Technokratenregierung zu protestieren, mit dem die Einhaltung der Euro-Stabilitätskriterien gewährleistet werden sollte. Daher haben Grafikanalysen und Spekulationen darüber, ob die Integrität der Eurozone erneut in Gefahr ist, wieder Hochkonjunktur. Da kann es schon absurd anmuten, dass die EZB lieber auf einen unter Korruptionsverdacht stehenden Zentralbanker angewiesen ist, um den Euro retten zu können, als ihre Gremien Mitgliedern zu öffnen, die mit ihrer Politik möglicherweise dazu beitragen würden, solche Protestwahlen zu verhindern.