Wohnungsnot trifft Jugendliche hart. Angebote wie Jugendwunnen bieten denen, die nicht bei den Eltern wohnen können, ein Zuhause

Projekt statt Party

Ein Zimmer für sich und Hilfe, wenn sie gebraucht wird. Das reicht oft, um Jugendlichen in Not wieder Halt und Orientierung zu g
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 28.07.2017

Eines Tages war Schluss. Sandra* wurde von ihrer Mutter vor die Tür der gemeinsamen Wohnung gesetzt. Die Konflikte zwischen den beiden waren zuletzt immer heftiger geworden, so dass sich die Schülerin einer Schule der Nordstad-Gemeinde Ettelbrück ans örtliche Jugendhaus wandte. Bei den Erziehern dort hatte sie bei früheren Familienstreits bereits ein offenes Ohr gefunden. „Zum Glück gab es das Projekt Jugendwunnen und es war gerade ein Zimmer frei“, erinnert sich die 25-Jährige im Gespräch mit dem Land.

Strenges Auswahlverfahren

Nach einem Gespräch mit den Verantwortlichen, Sozialpädagoge und Koordinator von Jugendwunnen Claude Nussbaum und Erzieherin Joana Lopes, in dem Sandra ihre Situation schilderte und sie ihr persönliches Ausbildungsprojekt skizzierte, stand fest: Sie kann das etwa 16 Quadratmeter-Zimmer im zentral in der Ettelbrücker Innenstadt gelegenen Wohnprojekt beziehen. Erschwingliche 355 Euro kostet die Miete normalerweise. Das Projekt finanziert sich über die Mieteinnahmen. Weil aber Sandra außer Kindergeld kein Einkommen hatte und die Eltern nichts beisteuerten, konnte sie zunächst für 80 Euro monatlich wohnen. „So blieb mir Geld für Essen und andere Dinge.“ Jugendwunnen hat zwei Plätze zum reduzierten Tarif für Härtefälle wie Sandra, die plötzlich ohne Dach übern Kopf und ohne Einkommen dastehen. Für die Dauer von drei Jahren maximal können bedürftige junge Frauen und Männer aus der Nordregion das Angebot nutzen, nach strengem Verfahren ausgewählt: Lebenslauf, Gespräch mit einer Assistante sociale und Interview mit den Betreuern inklusive. Voraussetzung ist, dass die Jugendlichen sich um ihre Zukunft bemühen, die Schule besuchen oder eine Lehrstelle haben. Wer auf der faulen Haut liegen, den ganzen Tag Party feiern und sich nicht einbringen will, ist bei Jugendwunnen an der falschen Adresse.

Doch obwohl sich die junge Frau schnell einlebte und ihr Examen bestand, kam bald die nächste Hürde: Weil die Absolventin einer 13e Technicien commerce keine Anstellung finden konnte, sattelte sie um auf Aide soignante und drückte erneut die Schulbank. „Ich wollte eigentlich immer Krankenschwetser werden“, sagt Sandra. Weil aber das Kindergeld auslief und sie für den zweiten Bildungsweg als Umschülerin keine staatliche Unterstützung mehr bekam, stand sie plötzlich wieder ohne Einkommen da. Das staatliche Mindesteinkommen RMG gibt es erst mit 25 Jahren. Wohlfahrtsorganisationen wie die Caritas fordern schon länger, die untere Altersgrenze beim RMG zu überdenken, um Härtefälle gerade bei jungen Menschen zu vermeiden. Sandras Fall erregte die Aufmerksamkeit von Erziehungsminister Claude Meisch: Er war Mitte Juli durchs Land getourt, um Projekte für Jugendliche ohne abgeschlossene (Schul-)Ausbildung, die sein Ministerium kofinanziert, zu besichtigen. Darunter Jugendwunnen.

Das Pilotprojekt der Region Nordstad mit den Gemeinden Bettendorf, Colmar-Berg, Diekirch, Erpeldange, Ettelbrück und Schieren gibt es noch nicht lange: Offiziell fiel der Startschuss im Mai 2015, zunächst mit 14 Plätzen, verteilt auf acht Apartments mit Einzel- und mit Doppelzimmern. Doch bereits in den ersten beiden Jahren gab es über 150 Anfragen. Ein eindeutiges Zeichen, dass die Nachfrage nach solchen Wohnplätzen groß ist. Demnächst sollen acht weitere Plätze für Jugendliche geschaffen werden, oder besser gesagt: für junge Frauen und Männer, denn obwohl sich das Angebot an Jugendliche zwischen 18 und 26 Jahren richtet, sind es vor allem Anfang Zwanzigjährige, die hier Unterschlupf finden.

Dabei ist Jugendwunnen nicht das einzige Wohnprojekt im Land, das sich speziell an Jugendliche und junge Erwachsene richtet. Ähnliches gibt es in der Hauptstadt mit der „Villa“ in Bonneweg, in der Schüler, die familiäre Probleme haben, auf Vermittlung des schulpsychologischen Dienstes wohnen und ihre Schulausbildung in Ruhe fortführen können. Oder Etape21, ein Angebot der Wunnengshëllef in Esch, das in diesem Herbst auf die Hauptstadt erweitert werden soll. Dort können Jugendliche drei bis sechs Monate wohnen, sie werden wesentlich enger betreut. Etape21 richtet sich an Jugendliche, die „wir stabilisieren wollen, die sonst ohne Perspektive auf der Straße wären“, erklärt Georges Andrabe, Leiter der Wunnengshëllef, der das Projekt koordiniert. 40 Jugendliche wurden bisher in den 17 Plätzen in Esch betreut, die Nachfrage lag bei über hundert. Weil viele bedürftige Jugendliche aus der Hauptstadt stammten, entstand die Idee, dort ein ähnliches Angebot zu unterbreiten, kofinanziert durch die Stadt. Die Miete kostet, so Andrabe, von 50 Euro monatlich für Härtefälle bis 400 Euro, abhängig vom und gestaffelt nach dem jeweiligen Einkommen. Außerdem gibt es Zugang zu Sozialleistungen wie Lebensmittelgutscheine, Épicerie sociale und ähnliches mehr.

Gegen Jugend-Obdachlosigkeit

2013 hatte der Service Streetwork der Stadt Luxemburg mit einer Studie versucht, den dringendsten Wohnbedarf für Jugendliche in Not zu ermitteln. Besonderes Augenmerk der Sozialarbeiter galt Jungen und Mädchen, die bereits auf der Straße lebten oder riskierten, dort demnächst zu landen. Keine leichtes Unterfangen, sie zu ermitteln, denn die Hauptstadt gilt als Anziehungspunkt für Jugendliche auch aus den benachbarten Regionen.

„Wir sind kein betreutes Wohnen. Unser Angebot wendet sich an Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren, vorrangig aus dem Norden, die weitgehend autonom sind. Die aus welchen Gründen auch immer nicht mehr bei ihrer Familie wohnen können“, erklärt Sozialpädagoge Claude Nussbaum den Unterschied zu dem Angebot der Wunnengshëllef. Junge Menschen mit psychiatrischen Problemen, Suchterkrankungen oder schweren Verhaltensauffälligkeiten werden an geeignete, eng betreute Unterkünfte überwiesen.

Der kräftige Mann mit dem breiten Lächeln sieht aus, als könne er einiges schultern. Das müssen er und seine sympathische Kollegin Joana Lopes fast täglich: Manche Geschichten, die die Jungen und Mädchen aus Schule und Familie mit ins Jugendhaus bringen, sind erschütternd, erfordern Empathie und zugleich professionelle Distanz.

Ursprünglich waren für die Begleitung von Jugendwunnen 20 Stunden vorgesehen. Lopes und Nussbaum, die seit 2006 bei der Nordstadjugend engagiert sind, teilen sich die Arbeit: Sie ist mehr im Haus, er erledigt zudem technische Reparaturen: „Ich habe viel dazugelernt. Situationen, wie ein verstopfter Abfluss oder ein defektes Licht, sind ideal, um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen“, findet Nussbaum, der betont, dass geregelte Arbeitszeiten in der Jugendsozialarbeit selten funktionieren: „Manchmal erhalten wir einen Hilferuf, dann kommen wir selbstverständlich. Aber wenn wir die Entwicklung sehen, die die Bewohner machen, bekommen wir für unseren Einsatz viel zurück.“ Mit der Unterstützung von Staat und Gemeinden soll das Stundenpensum für Jugendwunnen um weitere 20 Stunden erhöht werden. Eigentlich ist auch das eher knapp gerechnet und nur möglich, weil die Betreuer vorrangig im Hintergrund wirken.

„Wir stehen selbstverständlich für Tipps und Fragen zur Verfügung, aber als Grundsatz gilt, dass die Jugendlichen ihr Leben selbst auf die Reihe bekommen“, unterstreicht Joana Lopes. Hilfe kann der gemeinsame Großeinkauf mit dem Auto sein oder wenn jemand privat nicht mehr weiter weiß oder Tipps benötigt, wo er oder sie sich über Ferienjobs und Lehrstellen informieren kann. „Wir arbeiten vernetzt mit anderen Diensten, wie dem Office social, dem Office national de l’enfance, den schulpsychologischen Diensten, dem Comité national de défense sociale und so weiter zusammen. Sonst wäre das nicht zu leisten“, sagt Claude Nussbaum.

Einmal im Monat setzen sich alle zusammen und die Bewohner und die Betreuer sprechen über das, was gerade anliegt. Oft stehen auf der Tagesordnung klassische Themen einer Wohngemeinschaft: wer für was zuständig ist, sich aber nicht gekümmert hat. In der Waschkammer, wo die beiden Waschmaschinen und Trockner im Dauerlauf ihre Runden drehen, hängt ein Plan, der genau festhält, wer wann was zu erledigen hat. „Klar, Hygiene, Putzen und Aufräumen sind die typischen Reibungspunkte im Zusammenwohnen“, erzählt Joana Lopes lachend. Erst diese Woche hat die Erzieherin kurzerhand die beliebte Fritteuse entsorgt: Weil selbst nach mehrmaligem Auffordern kein Bewohner den Fettfilter reinigen wollte, müssen sie jetzt ohne auskommen. „Das ist hart, hier wird nämlich alles frittiert“, scherzt Claude Nussbaum.

Wenn zuhause nichts mehr geht

Für die Jugendlichen sind solche Konflikte aber ein Klacks im Vergleich zu dem, was sie zuhause erlebt haben. „Wenn ich die Unterstützung von Jugendwunnen nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, wo ich heute wäre“, sagt Anne*. Die junge Frau ist ebenfalls aus dem Elternhaus ausgezogen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Nächstes Jahr möchte sie an der Uni eine Ausbildung zur Erzieherin beginnen. Sollte sie angenommen werden, kann sie, das hat sie bereits abgeklärt, ihr Zimmer bei Jugendwunnen behalten. „Die Betreuer nehmen sich für uns Zeit, unsere Projekte durchzudiskutieren und Lösungen zu finden“, fügt Vanessa* lobend hinzu, die gerade ihr Examen bestanden hat und ebenfalls studieren will.

„Für manche Jugendliche sind wir fast so etwas wie Ersatzeltern“, sagt Claude Nussbaum. Etwa für Isabelle*. Die 24-Jährige hatte schon als 12-Jährige das Jugendhaus in Diekrich besucht. Mit 21 Jahren war sie eine der Pionierinnen, die bei Jugendwunnen unterkamen. „Probleme mit der Familie“ nennt sie kurz und knapp als Grund für den Umzug. Inzwischen steht die junge Frau auf eigenen Füßen: Sie ist, nach abgeschlossener Ausbildung, Flugbegleiterin bei der nationalen Fluggesellschaft und kann sich mit ihrem Einkommen inzwischen sogar eine eigene kleine Wohnung leisten. Allerdings auf der anderen Seite der Grenze: „In Luxemburg sind die Mieten unbezahlbar geworden“, sagt sie entrüstet.

Wohnungsknappheit und die hohen Preise sind für Jugendliche wie Tom*, der aus dem gewalttätigen Elternhaus bei Jugendwunnen unterkam und inzwischen eine Ausbildung als Auxiliaire de vie angefangen hat, ein echtes Problem. Aber nicht nur für sie. Der nationale Jugendbericht von 2015 der Universität Luxemburg, dessen Schwerpunkt den Übergängen vom Jugend- ins Erwachsenenalter gewidmet ist, stellt fest, dass die Sorge um ein eigenes Dach überm Kopf für viele Jugendliche und junge Erwachsene zentral ist. Luxemburg ist ein Eigentümerland: Über 70 Prozent der Einwohner leben in ihren eigenen vier Wänden, der Bau von Mietwohnungen kommt trotz millionenschwerer Investitionen nur schleppend voran. Obwohl der Auszug von daheim zur Schlüsseletappe auf dem Weg ins Erwachsenenleben und in die eigene Selbstständigkeit zählt, wohnt ein Drittel der 25- bis 29-Jährigen in Luxemburg noch bei den Eltern. Christof Mann, Leiter des Jugenddienstes der Stadt Luxemburg hat zwar recht, wenn er darauf hinweist, dass in Spanien oder Griechenland der Anteil der Jugendlichen, die noch bei den Eltern wohnen, deutlich höher liegt. Aber in den südeuropäischen Ländern ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen auch viel höher (in Spanien liegt sie laut Eurostat bei 38,6 Prozent) und die staatliche Unterstützung ist zudem deutlich geringer.

Aufschieben ist (k)eine Option

In Luxemburg, so ist dem Jugendbericht zu entnehmen, wohnt mehr als die Hälfte der Jugendlichen im Alter von durchschnittlich 24,3 Jahren nicht mehr zu Hause, bei den Männern liegt das Durchschnittsalter mit 24,9 Jahren um ein Jahr höher als bei den Frauen (23,7 Jahre); Frauen verlassen das Elternhaus also durchschnittlich früher als ihre männlichen Kollegen.

Anders als man meinen könnte, wohnt die Hälfte der Jugendliche mit niedrigem Sekundarschulabschluss mit 22,4 Jahren nicht mehr bei den Eltern, bei jungen Menschen mit Sekundarschulabschluss liegt das Alter, bei dem mehr als 50 Prozent daheim ausgezogen sind, bei 24,7 Jahren und bei Heranwachsenden mit post-sekundärem Abschluss sogar bei 25,6 Jahren. Der Auszug passiert also immer später, je höher der Bildungsgrad ist. Manche wohnen für die Zeit des Studiums im Ausland in Wohngemeinschaften oder alleine, müssen dann aber, wenn sie nach Luxemburg zurückkommen, feststellen, dass sie sich eine Unterkunft auf dem privaten Wohnungsmarkt nicht leisten können und ziehen wieder bei der Familie ein. Rückkehrer oder Boomerang-Generation nennen Soziologen das Phänomen.

Für Jugendliche, die wie Sandra, Tom, Vanessa zuhause Streit, Gewalt oder Vernachlässigung erlebt haben, ist den Auszug zu verschieben aber keine Option. Darüber ob ihre Zahl in den vergangenen Jahren gewachsen ist, liegen in Luxemburg keine gesicherten Daten vor, auch wenn anzunehmen ist, dass mit der wachsenden Bevölkerung der Anteil derjenigen steigt, die sich in solchen Notlagen befinden. Der Jugendbericht weist darauf hin, dass es sich bei Jungen und Mädchen, die nicht bei den Eltern leben, nicht immer nur um Wohnungslose handelt, sondern auch um Jugendliche in einer staatlichen Wohnstruktur, einem Heim oder in einer Pflegefamilie.

Die Forscher versuchen eine Annäherung über Anträge auf eine Domiciliation, der Möglichkeit für Personen ohne festen Wohnsitz pro forma und für einen befristeten Zeitraum eine Wohnadresse zu bekommen, um Sozialleistungen zu beantragen und Arbeit und Wohnung zu finden. Denn wer keine Adresse hat, findet meist keine Arbeit und umgekehrt. Ein Teufelskreis, aus dem nur schwer ein Ausbruch gelingt.

Tropfen auf den heißen Stein

Laut Tätigkeitsbericht des Familienministeriums von 2015 hatten 147 Personen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren solche Anträge bei der zuständigen Kommission gestellt. Die Dunkelziffer aber könnte deutlich höher liegen, wird auch die verdeckte Obdachlosigkeit berücksichtigt. Viele Jugendliche, die kein Zuhause haben, weichen zunächst zu Freunden auf die Couch aus. Tatsächlich wird diese Problematik zunehmend von staatlicher und kommunaler Seite erkannt: Ob Jugendwunnen, Etape21, Petrusshaus, Betréit Wunnen, Sleemo oder Liewenshaff; Wohnangebote, die sich speziell an junge Menschen in Not wenden, werden zahlreicher. Aber sie alle und die Jugendlichen selbst, die, weil sie noch nicht arbeiten, oft keine finanzielle Rücklagen haben, müssen konkurrieren um immer knapper werdenden Wohnraum, ebenso wie Flüchtlinge, kinderreiche Familien und andere sozial Benachteiligte. Anfang 2017 meldete das nationale Observatoire de l’habitat neue Spitzen im Wohnungsmarkt: Die Mieten stiegen im dritten Quartal 2016 gegenüber dem Vorjahr weiter an. Eine Wohnung zu mieten, kostete 1 430 Euro für 70 Quadratmeter oder 20,28 Euro pro Quadratmeter im Gegensatz zu 19,46 Euro im dritten Quartal 2015.

„Mieten von 1 000 Euro und mehr können wir nicht bezahlen, auch nicht, wenn wir ordentliches Lehrgeld bekommen“, sagt Tom verdrossen. Er kann verstehen, wenn Jugendliche Projekte wie Jugendwunnen als günstiges Wohnangebot missverstehen, obwohl es das eben nicht ist: „Für uns junge Leute, die nicht mehr daheim wohnen können oder wollen, fehlen bezahlbare Angebote.“ Wer sich auf sozialen Netzwerken umsieht, stellt fest: Wie Isabelle und Tom klagen viele junge Menschen frustriert. Die Wohnungsknappheit ist insbesondere bei der Jugend ein heißes Thema. Und wird es noch eine ganze Weile bleiben.

* Namen von der Redaktion geändert

Ines Kurschat
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