Arcelor Mittal Orbit

Schrecklich schön oder schön schrecklich?

d'Lëtzebuerger Land vom 03.03.2011

„Great. I’ll give you the steel“, soll Lakshmi Mittal knapp und entschlossen gesagt haben, als ihn der Londoner Bürgermeister Boris Johnson an der Garderobe des Weltwirtschaftsforums in Davos 2009 ansprach. Nicht länger als 45 Sekunden soll das Gespräch gedauert haben. Nur so lange brauchte Johnson, um Mittal, CEO des weltweit führenden Stahlunternehmens Arcelor Mittal, seine Idee vom Bau eines Turms im Londoner Olympiapark schmackhaft zu machen. So geht die Legende von der Entstehung des Arcelor Mittal Orbit, vom spontanen Bürgermeister, der nicht zögert, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen, und vom Stahlmagnaten, der blitzschnell Entscheidungen treffen kann, auch wenn es dabei um größere Geldbeträge geht.

Die größte Skulptur Großbritanniens ist das Ergebnis dieses schicksalhaften Zusammentreffens. Ein Kunstwerk, ein Gebäude, eine Struktur, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst – all das ist Arcelor Mittal Orbit, je nachdem, wen man fragt. Dass sich sowohl Mittal wie Johnson mit dem Orbit ein Denkmal für die Ewigkeit setzen wollen, merkt man nicht zuletzt daran, dass die Legendenbildung um das zufällige Treffen in Davos von ihren jeweiligen Marketing- und Kommunikationsabteilungen so angestrengt vorangetrieben wird, dass deren Mitarbeiter den genauen Wortlaut des Gesprächs auf Abruf auswendig aufsagen können. Der indische Geschäftsmann, der die britische Hauptstadt seit 1997 sein Zuhause nennt, will, so die offizielle Verlautbarung, London etwas zurückgeben, ein Geschenk machen. Dafür zahlt die Firma Arcelor Mittal: 16 Millionen Pfund. Die restlichen 3,1 Millionen Pfund trägt die London Development Agency zum Projekt bei.

Fast 115 Meter hoch soll Orbit werden, „höher als die Freiheitsstatue in New York“, wie alle Beteiligten gerne wiederholen. Die Skulptur des gebürtigen Inders Anish Kapoor, der spätestens seit er 1991 den Turner-Preis gewann, zu den Superstars der zeitgenössischen Kunst gehört, wird zwischen Olympia-Sta-dium und Wassersportarena aufgebaut, und soll auch nach den Spielen vom Sommer 2012 die Besucher nach Stratford in Londons Nordosten locken. Einen Turm wollte Boris Johnson haben, mindestens 100 Meter hoch, der den Vergleich mit dem Eiffelturm nicht scheuen muss, das war Ziel der Ausschreibung, an der rund 50 Künstler teilnahmen.

Mit dem Orbit erheben Kapoor und sein Partner, der Ingenieur Cecil Balmond von Arup, den Anspruch, das Konzept „Turm“ für das 21. Jahrhunderts neu erfunden zu haben. Anstatt, dass er unten breit und oben schmal ist, ist Kapoors und Balmonds Orbit eine geschwungene Form, ohne wirklichen Anfang und Ende, in sich gewunden, aus der Balance und unstabil. Und wie viele von Kapoors Arbeiten ist Orbit tiefrot, „fast so rot wie die verbotene Stadt in Peking“, sagt Pierre Engel, Ingenieur, der das Projekt für seinen Arbeitgeber Arcelor Mittal überwacht. Hohlräume, ein weiteres wiederkehrendes Thema in Kapoors Schaffen, spielen auch beim Orbit eine Rolle. Der Eingang der Touristenattraktion wird sich in einer tellerförmigen Aushebung befinden. Darüber wird ein mehrere Meter hoher trompetenförmiger – roter – Baldachin aus Fiberglas hängen. Der Abstand zum Boden am Rande des Baldachins soll nur drei Meter betragen. „Wer im Eingangsbereich nach oben schaut, blickt also in die Dunkelheit, ins Nichts“, erklärt die Architektin Katherine Finley. Das Gegenstück zu dieser Besonderheit befindet sich oben auf der kreisrunden Aufsichtsplattform in 80 Metern Höhe. In der Mitte der Plattform können die Besucher durch einen quadratischen Ausschnitt nach unten in die, weil in luftiger Höhe, helle Tiefe blicken. Eine begehbare Brücke umgibt die obere der beiden Aussichtsplattformen, von der aus die Besucher über die Dächer Londons blicken können. Allerdings umschließt die Brücke die Plattform nur zur Hälfte und trägt deswegen den sinnigen Namen unfinished bridge, wie Finley erklärt. Dennoch werden die Besucher ein 360-Grad-Panorama Londons sehen können: in konvexen Spiegeln, die den Rest der Skyline reflektieren. Den Himmel im Spiegel betrachten, auch das ist eine Idee, die Kapoor bereits in früheren Werken eingesetzt hat.

„Etwas wie Orbit wurde vorher noch nie gemacht“, sagt Ingenieur Engel, den am Projekt auch die technische Herausforderung interessiert. „Nur mit Stahl kann man eine solche Struktur bauen. Stahl ist das einzige Material, das bei geringem Gewicht die nötige Festigkeit hat, um so etwas umzusetzen. Orbit gibt uns die Gelegenheit zu zeigen, was mit Stahl möglich ist.“

Insgesamt 2 000 Tonnen Stahl werden für Fundament und Skulptur gebraucht. Rund 300 Tonnen davon stammen aus Esch-Belval. Dass Produkte aus dem Luxemburger Elek-trostahlwerk verbaut werden, liegt wohl auch an den Vorgaben des Ausschreibungskomitees: Mindestens 55 Prozent des Materials muss recycelt sein. Im Stahlwerk in Belval wird Schrott zu Trägern verarbeitet. Sie stützen nun das Fundament von Orbit und werden die Aussichtsplattformen tragen, sie heben dadurch den Anteil an wiederverwertetem Material auf 60 Prozent. Die Skulptur selbst besteht aus Stahlröhren, die zu pyramidenförmigen Elementen zusammengesetzt werden. So entsteht die geschwungene Form, obwohl alle Elemente aus geraden Teilstücken bestehen.

Die Präzisionsarbeit übernimmt die Metallverarbeitungsfirma Severfield-Powen Plc, zu deren Referenzen unter anderem das Terminal Fünf des Flughafens Heathrow gehören. Im Werk Watson in Bolton nahe Manchester werden die Einzelteile gebaut. Wie viele es sind, können weder der Werksleiter Peter Emerson, noch die Ingenieure von Arup so genau sagen. „Viele“, sind sie sich einig. Jedes Teil ist ein Einzelstück und wurde individuell von Arup berechnet. In Watson werden 9 000 Rohre im richtigen Winkel zurechtgeschnitten, zu Sternen zusammengeschweißt, 900 Verbindungsstücke werden gefertigt. Drei Wochen wird in der Werkstatt an einem Teil gearbeitet. Mittels Lasertechnik und Laptop wird kontrolliert, welches Teil aus dem Puzzle gerade bearbeitet wird, ob die Dimensionen den Vorgaben für genau dieses Teil entsprechen und wie es am besten gedreht wird, um die Schweißarbeiten durchzuführen. Dann wird noch einmal nachgeschliffen und poliert, danach gibt es nur noch minimale Abweichungen von unter 0,5 Millimetern. Noch in der Halle werden die Teile zur weiteren Kontrolle vorläufig zusammengebaut, dann wird Orbit wieder in maximal 30 Meter lange Teile zerlegt, zum roten, antikorrosiven Anstrich in ein anderes Werk gefahren und dann über die Autobahn nach London transportiert.

Im Januar 2011 war Baubeginn. Inzwischen hat Orbit mit über 40 Metern gut ein Drittel der endgültigen Höhe erreicht. „Orbit wird sehr bald alles überragen“, sagt Alison Nimmo, Direktorin für Design und Regeneration bei der Olympic Development Authority. Schon jetzt ist Orbit höher als das Stadium, neben dem es steht. Ob es die angrenzenden Gebäude, beispielsweise das von der irakisch-britischen Stararchitektin Zaha Hadid entworfene Acquatic Centre, lediglich überschatten oder aber in den Schatten stellen wird, daran scheiden sich die Geister. „Atemberaubend“, nennt es die Kulturberaterin des Bürgermeisters Munira Mirza. „Es hat den Wow-Faktor“, ist Arcelor-Mittal-Branding-Chef Ian Louden überzeugt.

Doch in den Internetblogs finden die Londoner Orbit weniger überwältigend, als dass sie sich von der Struktur überwältigt und überrrumpelt fühlen. Einerseits weil das Projekt von einer Jury von Galerie- und Museumsleitern ausgesucht wurde, ohne dass den Leuten aus Stratford oder ihren gewählten Vertretern eine Mitspracherecht eingeräumt worden wäre. Andererseits weil sie Orbit hässlich finden. „Was ist es? Eine kaputte Achterbahn? Ein Schrotthaufen?“, fragen die Bewohner Hackneys. „Übertrieben groß“ meinen weitere, die befürchten, dass die Skulptur die Gegend dominieren wird. „Wütend“ finden wiederum andere und fragen, ob die aggressive Farbe die Kriminalitätsraten in die Höhe treiben wird. Sie sorgen sich darum, dass die Nähe der Skulptur den Wert ihrer Häuser mindert. Kritik, die nicht nur von Kunstbanausen stamme, wie manche Blogger betonen, die als Beleg für ihren guten Geschmack auf das beschämend hässliche Logo der Olympischen Spiele 2012 verweisen. „London eyesore“, Schandfleck, witzeln andere in Anlehnung an das Riesenrad London Eye, das im Zentrum als Aussichtsplattform dient.

Solche Kritik lässt die Auftraggeber ebenso kalt wie die Verantwortlichen der Olympic Parc Legacy Company, einer öffentlich-privaten Gesellschaft, die dafür sorgen soll, dass das olympische Gelände nach den Spielen nicht verödet. Deswegen sucht die Legacy Company momentan für die Zeit nach 2013 einen Betreiber für Orbit. Bis Juni soll ein Kandidat ausgewählt sein, und dem verspricht man einiges: Bis zu 5 000 Besucher täglich und bis zu einer Million zahlende Kundschaft jährlich. Sie würden rund 10 Millionen Pfund Einnahmen generieren, also im Schnitt 10 Pfund für Eintritt und Aufstieg auf die Plattformen zahlen. Wenn sie denn nicht lieber Riesenrad fahren wollen.

Michèle Sinner
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