Die repräsentative Demokratie erscheint trügerisch. Entblößt von aller Schönfärberei, läuft sie darauf hinaus, dass die Reichen regieren lassen und die Armen regiert werden. Den Reichen ist ihre Zeit zu wertvoll, um auf Stimmenfang zu gehen und Aktenvermerke zu lesen; die Armen wurden nie gelehrt, sich zu Wort zu melden. Deshalb wird für die zunehmend berufsmäßige Verwaltung der Staatsgeschäfte ein politisches Personal mit Geld und Ruhm bezahlt. Es stammt aus einer Mittelschicht zwischen Arm und Reich, einem weitgehend verbeamteten oder selbstständigen Kleinbürgertum, das alles andere als repräsentativ für die große Mehrheit der Bevölkerung ist. Die soziale Herkunft der Kandidaten beeinflusst aber bewusst oder unbewusst ihre politischen Ansichten.
Diese Tendenz führt zu einer erstaunlichen Homogenität der Kandidatenlisten, die weitgehend unabhängig ist von der sozialen Zusammensetzung der Stammwählerschaft, der Ideologie und dem Ursprung der zum Regieren berufenen Parteien. Das zeigen erneut die seit dem Wochenende vollständig vorliegenden Kandidatenlisten von CSV, DP, LSAP und Grünen für die Parlamentswahlen am 14. Oktober. Seit dem Zweiten Weltkrieg durften ausschließlich CSV, LSAP und DP Minister, Staatssekretäre und Mehrheitsabgeordnete stellen, seit den letzten Wahlen auch die Grünen. Die kleineren Parteien, wie ADR, Linke, KPL oder Piraten, bleiben vom Regieren ausgeschlossen. Die Reform des Wahlgesetzes von 2003 macht es ihnen sogar schwerer, Kandidatenlisten aufzustellen, so dass sie bisher noch keine veröffentlicht haben.
Um die Repräsentativität der Demokratie zu beweisen, geht viel von Kandidatenquoten die Rede: Seit dem 19. Jahrhundert gelten geographische Quoten durch die Einteilung der Bevölkerung in vier Wahlbezirke. Seit der Reform des Parteienfinanzierungsgesetzes vor anderthalb Jahren gelten auch Geschlechterquoten. Mit dem Referendum von 2015 hatte die Regierung versucht, die nationale Quote neu festzulegen. Doch fast scheint es, als ob die ganze Aufmerksamkeit für die richtige Dosierung von Stadt und Land, von Frauen und Männern, Inländern und Ausländern bloß von der fehlenden sozialen Repräsentativität in Parlament und Regierung ablenken soll.
Die 240 Kandidaten von CSV, LSAP, DP und Grünen lassen sich nämlich beinahe vollständig in fünf Berufsgruppen aufteilen: Erziehungs- und Pflegebereich, öffentliche Verwaltung, Angestellte, Selbstständige und Rechtsanwälte. 33 Prozent der Kandidaten stammen aus dem Erziehungs- und Pflegebereich, der landesweit bloß sechs Prozent aller Erwerbstätigen beschäftigt. 22 Prozent kommen aus Verwaltungen und anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes, die insgesamt nur neun Prozent der Erwerbstätigen ausmachen. Wobei ein großer Teil der Lehrer, Pfleger, Erzieher und Sozialarbeiter ebenfalls zum öffentlichen Dienst gehören oder in einem parastaatlichen Arbeitsverhältnis sind, so dass die Hälfte der Kandidaten aus dem öffentlichen Dienst im weiteren Sinn stammt.
Die Angehörigen des öffentlichen Dienstes fühlen sich von ihrer Arbeit her oft dem Staat näher. Die Beschäftigten der sozio-edukativen Branchen sind zudem von Berufs wegen gewohnt, sich für ihre Mitmenschen einzusetzen. Hinzu kommt, dass sie großzügiger für ihr politisches Mandat freigestellt werden und, anders als Beschäftigte der Privatwirtschaft, eine Arbeitsplatzgarantie für die Zeit nach dem Ende ihrer politischen Laufbahn haben. Beschäftigte des öffentlichen Dienstes haben ein anderes Verhältnis zur Existenzsicherheit als mit den Risiken eines Lohnarbeitsverhältnissess vertraute Beschäftigte der Privatwirtschaft.
Überrepräsentiert unter den Kandidaten sind auch die Selbstständigen, die ohne Rechtsanwälte 13 Prozent der Kandidaten, aber nur sechs Prozent aller Erwerbstätigen ausmachen. Selbstständige verfügen gemeinhin über mehr Unternehmergeist zur Wahrnehmung ihrer Interessen als Beschäftigte in untergeordneten Positionen. Außerdem können sie selbst über ihre Arbeitszeit für die Wahrnehmung eines politischen Mandats entscheiden. Mittelständern ist individuelles Leistungsstreben oft wichtiger als solidarische Umverteilung.
Am meisten überrepräsentiert sind aber die Rechtsanwälte. Sie machen kaum ein Prozent aller Erwerbstätigen, aber acht Prozent der Kandidaten von CSV, LSAP, DP und Grünen aus. Ein Jurastudium ist der Königsweg in politische Ämter: Von elf Regierungschefs in den letzten 100 Jahren waren acht Anwälte. Anwälte sind schon mit der Gesetzgebung vertraut, wenn sie ins Parlament gewählt werden, sie haben oft rhetorische Erfahrung und können sich als Selbstständige ihre Arbeitszeit zwischen Beruf und Amt selbst aufteilen. Rechtsanwälte neigen von Berufs wegen eher dazu, gesellschaftliche Fragen auf private Interessenkonflikte zu reduzieren.
Unterrepräsentiert ist dagegen die größte Erwerbstätigengruppe, die der Angestellten. 33 Prozent der Erwerbstätigen im Land sind Angestellte im herkömmlichen Sinn, aber nur 16 Prozent der Kandidaten. Und gar nicht repräsentiert sind die Arbeiter. Sie machten 31 Prozent der Erwerbstätigen aus – zumindest bis zur Auflösung ihres Statuts durch das arbeitsrechtliche Einheitsstatut in der Privatwirtschaft 2009 –, aber kein einziger der 240 Kandidaten von CSV, LSAP, DP und Grünen ist Handarbeiter in der Industrie oder am Bau. Dabei wurde diese Woche gerade dem Unfalltod des Tetinger Abgeordneten und Bergarbeiters Jean Schortgen vor 100 Jahren gedacht, des ersten Arbeiters im Parlament.
Gar nicht repräsentiert sind auch die rund 16 000 Arbeitslosen. Die wenigen erwerbslosen Kandidaten sind vorwiegend Hausfrauen und Studierende.
Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind die Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung der Kandidatenlisten gering. Die Zahl der Kandidaten aus Erziehungs- und Pflegerufen sowie dem öffentlichen Dienst ist bei der inzwischen verbeamteten Arbeiterpartei LSAP und bei den Grünen mit jeweils 36 gleich. Nicht die LSAP, sondern die DP ist die Partei mit den meisten Angestellten, zwölf. Nicht die DP, sondern die CSV ist die Partei mit bei weitem den meisten Selbstständigen und vor allem Anwälten, insgesamt 20, was vielleicht auch mit ihrem hohen Anteil von Berufspolitikern unter den Kandidaten zu tun hat. Die wenigsten Selbstständigen stellt die LSAP auf, dafür aber ausgerechnet im industriellen Süden die meisten Beamten.
Ein Viertel aller Kandidaten sind Berufspolitiker und werden ausschließlich fürs Regieren bezahlt. In der Regel sind es Minister, Staatssekretäre, parlamentarische Fraktionsvorsitzende, Abgeordnete, die auch Bürgermeister sind, einige Abgeordnete ohne richtigen Beruf und der eine oder andere Parteifunktionär und Fraktionsreferent.
Mit Ausnahme der Grünen macht der Anteil der Berufspolitiker unter den Kandidaten der verschiedenen Parteien etwa ein Drittel aus:
CSV 22 Berufspolitiker
LSAP 18 Berufspolitiker
DP 18 Berufspolitiker
Grüne 8 Berufspolitiker.
Die Grünen hatten ursprünglich versucht, das Berufspolitikertum in ihren Reihen durch Rotation, imperatives Mandat sowie die Trennung von Ämtern und Mandat zu verhindern. Aber selbst sie zählen inzwischen acht Berufspolitiker unter ihren Kandidaten und demonstrieren damit die von anderen Parteien zum Regieren verlangte Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit.
Die Zahl der Berufspolitiker hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. Weil die politische Arbeit im Parlament und in den Gemeinden immer technischer wurde, wurde die Professionalisierung durch Diätenerhöhungen und längere Freistellungen am Arbeitsplatz gefördert. Die Professionalisierung macht das politische Personal aber auch gefügiger, weil jeder Wahlgang nicht nur über die politische, sondern auch über die berufliche Zukunft entscheidet. In Krisensituationen ist nicht jeder bereit, das Familieneinkommen seinen Prinzipien zu opfern. Diätenerhöhungen und Ausweitung des Congé politique werden immer wieder damit begründet, dass dadurch auch Leute mit niedrigen Einkommen die Möglichkeit erhalten, im Parlament zu sitzen. Die soziale Herkunft der Abgeordneten und Kandidaten straft diese Behauptung aber Lügen.
Während sich die LSAP mit Ach und Krach dazu entschloss, Doppelmandate von Abgeordneten und Bürgermeistern abzuschaffen, und nur noch die LSAP-Bürgermeister von Betzdorf und Düdelingen ins Parlament wollen, sehen CSV und DP das anders:
CSV 19 Bürgermeister
DP 9 Bürgermeister
LSAP 2 Bürgermeister
Grüne 1 Bürgermeister.
Seit die hundertprozentige Gewährung von staatlichen Zuschüssen über das Parteienfinanzierungsgesetz davon abhängt, dass eine Partei mindestens 24 Frauen unter 60 Kandidaten auf ihren Listen zählt, nähert sich auch der Kandidatinnenanteil der Parteien einander an:
Grüne 31 Kandidatinnen
DP 27 Kandidatinnen
LSAP 25 Kandidatinnen
CSV 24 Kandidatinnen.
Nur die Grünen erreichen die Parität. Bei fast allen Parteien müssen die beiden großen Wahlbezirke den Mangel an Kandidatinnen in den kleineren, konservativen Wahlbezirken ausgleichen.
Der Altersdurchschnitt aller Listen unterscheidet sich nur wenig. Er liegt für jede Partei bei Mitte vierzig, bei einem Altersdurchschnitt der Gesamtbevölkerung von 39,3 Jahren:
CSV 47,4 Jahre
Grüne 46,3 Jahre
LSAP 45,5 Jahre
DP 43,1 Jahre.
Es scheint, als ob in allen Parteien ähnliche Regeln und Fristen herrschen, nach denen Interessenten in den Parteigremien und in der Lokalpolitik über die Jahre aufsteigen, bis sie populär genug sind, um einen Platz auf einer Kandidatenliste für die Kammerwahlen eingeräumt zu bekommen.
Innerhalb dieser geringen Unterschiede hat die DP die jüngsten Listen, vor allem dank ihrer Süd- und Ost-Liste. Die CSV kandidiert mit den ältesten Listen, insbesondere im Süden. Die Opposition war der Verjüngung nicht förderlich. Die Kandidaten der ursprünglichen Jugendpartei Die Grünen sind nur unwesentlich jünger als diejenigen der traditionellen Altenpartei CSV, wohl weil die Gründergeneration so lange brauchte, bis sie für regierungsfähig angesehen und so die personelle Erneuerung gebremst wurde.
Denn das Durchschnittsalter der Kandidatenlisten steht im Zusammenhang mit der Anzahl der erfahrenen Kandidaten. Etwa die Hälfte der Kandidaten bewarb sich schon bei den Kammerwahlen 2013:
CSV 35 Kandidaten von 2013
Grüne 31 Kandidaten von 2013
LSAP 29 Kandidaten von 2013
DP 29 Kandidaten von 2013
Trotz der 2013 versprochenen Erneuerung hat die CSV einige Altkandidaten mehr. Aber sie hat auch die größte Parlamentsfraktion, und Erfahrung ist älteren Wähler einer konservativen Partei wichtig.