Die Kleine Zeitzeugin

Gerade war noch Greta

d'Lëtzebuerger Land vom 09.07.2021

Es wird nicht mehr nur gezoomt, endlich, es boomt, es geht wieder los, voll, mankind, Menschenskind will endlich wieder Spaß haben. Kohle machen. Leben eben.

Überall wütet es los, genug gerastet, jetzt wird ausgerastet, voll auf- und überdreht und durchgedreht und gehupt und aus Hitzeautos gebrüllt, schnell wie der Blitz schießen die Testosteronbomber auf ihren hochgerüsteten Fahrrädern durch die Fahrradzonen. Die Ellbogen werden gerammt, in Weichteile, die Mensch immer noch hat, wie lange kann er sich die noch leisten? Der ehrliche Ellbogengruß wird zwar schon vom Kussikussi der Impfsociety verdrängt, ach, wie schön, dass es wieder schön ist!

Überall wird gerammt, allerhand in Elternteil Erde, der Beton strebt gen Himmel, roh stehen die Rohbauten herum, während der Transport aufröhrt, die Automobile aufschnauben, die Verkehrsadern verstopft sind und es zum Verkehrsinfarkt kommt. Dann werden eben neue Bypässe gelegt. Es muss schließlich weitergehen. Weil die Wirtschaft legt wieder los, die globale Stadt kocht. Es wird betoniert und asphaltiert auf Teufelkommraus, und Männer, ja, Männer, altmodische Männer schleppen in der Hitzehölle Eimer, aus denen der dampfende Teer schwappt, sie sind in der Hölle. Sie sind die Pechvögel des Fortschritts. Ab und zu fällt einer hitzetot von einem Gerüst und ist fort. Er war nicht von hier. Ein Botgott wird den Überlebenden morgen signalisieren, ob sie noch verbrauchbar sind.

Ja, das Leben ist zurück. Wonach sich ja alle sehnten. Alle wollen plötzlich alles, nicht als blöden utopischen Slogan, ins urbane Beton-Nichts graffitigeschmiert, als romantisches Erlösungsversprechen, nein, konkret, real, here and now. Alle wollen in den Baumarkt, alle wollen ins fliegende Zeug. Sie nicht mehr alle haben in Malle. Alle wollen ins Fußballstadion, alle wollen Helden schnuppern, wenn es sein muss, mit Sternchen und Regenbogen. Hauptsache rein. Alle wollen rein. Alle wollen raus. Aus dem Häuschen sein.

Haben die nicht gesagt, sie wollen was anderes? Haben die nicht im ersten Lockdown etwas entdeckt, einen verschollenen Schatz?, reibt Straßenrandschnecke sich die Augen. Da war doch was … Da war doch was nicht … Der Schatz hieß Ruhe. Hieß Stille. Verhieß Stille. Anspruchslosigkeit. Auskosten, statt „Koste es, was es wolle“. Davor schon, vor Corona, im Jahre Greta begann es. Das freundliche gehobene Milieu schwärmte für das Mädchen mit den Zöpfen, das statt Oldtimers, Flügen, Yachten gepostet wurde. Verschämt wurde herumgedruckst, ja, hm, eigentlich, eigentlich. Der Geist war willig, eigentlich. Das Wort Flugscham, ein schlechtes Wort, Flugschuld wäre die Steigerung, kam auf, jetzt scheint es verflogen. Endlich kann Mensch wieder sein geiles Mobil posten, seine geile Mobilität. Seine Grenzenlosigkeit feiern. Klar, wer will sich ewig schämen? Das haben wir doch hinter uns, haben uns längst befreit von Scham und Schuld, haben höchstens noch Schulden. Das Herumtraben um die eigenen Wurzeln ist ja auch wirklich etwas beschränkt, ein Kopf voller Wurzeln bringt uns nicht weiter, nicht weit.

Das Wasser steht bis zum Hals, der Hut brennt zugleich, eine große Herausforderung, erkennen die Politiker/innen, die aber immer gerade vor Wahlen stehen und deshalb Rücksicht auf die Rücksichtslosigkeit nehmen müssen. Ganze Landschaften werden mit Sonnensammelanlagen zugepflastert, mit Spiegeln, die erbarmungslos die Sonne spiegeln, der Himmel ist gerädert von Windrädern, aber es geht alles nicht schnell genug. Wer einem Kind bei einer langen Zugfahrt über Land eine Kuh zeigen will, wird erbärmlich scheitern. Wo sind die Kühe? Im Supermarkt in der Leichenteilabteilung. Im tröstlich verlogenen Bilderbuch.

Elektrische Riesen auf Rollern schießen auf Straßenrandschnecke zu, starr und ausdruckslos wie Osterinsel-Aliens. Gerade und geradeaus. In eine neue Zeit.

In der ein Bot, ein neuer Gott, selbst erschaffen wie alle Götter, uns dann sagt, was zu tun ist. In der die künstliche Dummheit, von unserer natürlichen Dummheit erschaffen, uns den ganzen Stress abnimmt.

Michèle Thoma
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