Die Kleine Zeitzeugin

Im Zug mit Kindern

d'Lëtzebuerger Land vom 02.07.2021

So eine Zugfahrt ist doch was Schönes, draußen eine Landschaft, die sich bewegt, auf nicht beängstigend übertriebene Art, immer noch das kindische Vergnügen. Ein Buch auf dem Schoß wie die Aussterbenden, oder der Laptop aufgeklappt, wie die relativ neuen Menschen, ab und zu winkt Mensch einen dienstbaren Geist heran, der einen Pappbecher bringt mit sogar was drin, und nach Stunden des Einsiedelns steht Einzellerin auf und ist an einem so genannten Ziel. Vorausgesetzt natürlich, es fallen nicht gerade alle Klimaanlagen aus, das Gefährt ist nicht allzu gebrechlich und es ist nicht gerade Wochen- oder Ferienanfang beziehungswweise -ende.

Vorausgesetzt, man ist nicht in Begleitung so genannter Kinder. Kind, weiß noch jemand, was wer das ist? Das sind so Kleine, werden gern übersehen oder mit hysterischer Begeisterung überschüttet, von oben, um sich schnell wieder abzuwenden, dem Wichtigen zu. Sich selber. Hoffentlich ist meine Nächste kein Kind. Noch schlimmer, mein Nächster.

Das sind solche Störenfriedas. Die dringen in die Aura der abgeschirmten und abgekapselten Neu-Menschen ein, die Hochsensible sind. Die haben schließlich ihre Aura gebucht! Da war nicht die Rede von solchen Wesen, die ihr Unwesen treiben, es gab keine Warnung! Dass der Space nicht safe ist. Dass solche eindringen können, mit einem Laut, der laut ist. Diese Bewegungen. So unentwegt. Man kann sie nicht mal mit Handbewegungen verscheuchen wie Insekten, die es ja, seufzschluchz, kaum noch gibt.

Man kann sie nicht mal abstellen. Wenn auch abbestellen. In den Zügen gibt es ja Ewige-Ruhe-Abteile, die ihren Transport in gespenstischer Stille absolvieren. Aber davon gibt es viel zu wenige für das immer größer werdende Ruhebedürfnis! Im ganzen großen ICE gibt es auch nur ein einziges, ewig ausgebuchtes Kindergetto, einen einfallslosen Kinderabstellraum mit dem Furcht erregenden Etikett „Familie“. Wer Pech hat, landet gar in der Nähe der knapp bemessenen Familienzone. Die ist mitten unter uns!

Darüber kann Leidgeprüfte dann lautstark per Handy wehklagen. Diese Leidgeprüften haben nämlich zu tun. Das mobile Home Office immer dabei, die Klapplade angestarrt, als stünde die Doktorarbeit vor dem letzten Schliff. Anweisungen werden ins Handy gebrüllt, großartige Geschäftsabschlüsse werden getätigt. Jaja, wir liefern die Mikrowellen, sofort! Das junge, gestresste Präkariat im Dauereinsatz, empathisiert Letzte Alte kurz inmitten der Empathielosen.

Die, die da auf langen Strecken unterwegs sind, sind vor allem Thirtysomethings. Auf zwei Tagreisen durch Deutschland kaum Alte in Sicht, die einst von Bekinderten gefürchteten Grauschöpfe vielleicht coronabedingt weg. Die Jungen solo oder sola. Starren über ihrer Maske vor sich hin, geradeaus, auf ihren Bildschirm, niemand schaut niemanden an und auch sonst nicht viel, während der Zug durch den deutschen Bilderbuchwald schleicht. Nur diese Ausgeburten der Erde werden großzügig mit dem bösen Blick bedacht. Dem Killerinnenblick, gern geht er von jungen Frauen aus, und gern trifft er andere junge Frauen, die Urheberinnen des Schreckens, einst Mütter genannt. So etwas, wie heißt das wieder?, trägt frau einfach nicht mehr. Wie archaisch unsolidarisch unemanzipiert ist so was!

Vielleicht sind sie coronageschädigt?, grübelt Großmutter. Und erzählt von ferner Zeit. Als sie kreuz und quer mit einer Kinderschar durch Europa reiste. Als es noch Abteile gab. Richtige, mit wolkigen Fenstern, die man runterkurbelte, mit verschlissenen Sitzen, die man auszog, um sich häuslich niederzulassen. Um zu schlafen. Gänge, die die Größeren erkundeten. Ein bisschen roch es immer. Plötzlich saß ein Kind im Gepäcknetz! Wenn es wirklich kritisch wurde, wurden Pampers gewechselt. Wer diese Prüfung bestand, war ein Reisegefährte.

Sie erzählt von Reisen, die anstrengend, aber nicht vernichtend waren, von Nächten, sogar mit Schlaf. Es wurde geraucht und geredet, miteinander. Menschen erzählten ihr Leben und verschwanden aus dem Leben der Weiterfahrenden. Die Abenteuer des französischen Fremdenlegionärs. Die kurdische Großfamilie, die Speis und Trank mit ihnen teilte. Zugfahren war Geschichtensammeln.

Kein Transport Wachkomatöser.

Michèle Thoma
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