Die goldenen letzten Jahre

„... wenn es denn schon sein muss“

d'Lëtzebuerger Land vom 04.03.2010

Literaturschaffende und -interessierte teilen das Leid, trotz allen Ehrgeizes und aller Lesesucht nur einen Bruchteil dessen zu kennen, was „lesenswert“ ist. Literatur ist ein weites Feld. Der noch nicht bestellte Bereich dieses Feldes ist zumeist der umfangreichste und birgt unzählige Autoren, die gelesen sein wollen oder sollen. Einige darunter sind gar preisgekrönt, eine 2008 mit dem Koeppen-Preis ausgezeichnet: Sibylle Berg. Mein mangelndes Vorwissen über ihre Person erwies sich als Vorteil, denn ihre nachträglich begutachteten öffentlichen Auftritte verdienen wohl das gut gemeinte Prädikat „gewöhnungsbedürftig“ und hätten für Skepsis gesorgt. Doch auch ihre Romane wie Sex II (1998), Ende gut (2005) oder Der Man schläft (2009) und Dramen wie Hund, Frau, Mann (2001) oder Das wird schon. Nie mehr Lieben! (2004) gehörten nicht zu meinem Lektüre-Repertoire. So galt es, sich unbefangen und neugierig auf Anne Simons Regiearbeit zu Bergs vorletztem Bühnentext Die goldenen letzten Jahre (2009) für das Thea-ter Trier im TNL einzulassen.

Bergs Bühnenstück befasst sich mit einer Art Klassentreffen, bei dem sich acht Schüler in den Mittvierzigern an ihren Werdegang vom schulischen Alltag bis zur Gegenwart erinnern. Sie begannen allesamt als Typen. Allesamt waren sie einer Schublade zugeordnet. Es gab die Verlierer. Es gab die Gewinner. Ob man zum Spaß anderer eine Nacht in einer Holzkiste eingesperrt verbringen musste oder, sechzehnjährig, mit unedler Einfalt und körperlicher Größe, die Schönheit der Klasse abschleppte, das entschieden ein paar Beinschienen, eine nach hinten gerückte Baseballmütze oder schieres Übergewicht. Kinder können grausam sein. Auch und vor allem, wenn die Eltern diese Typen durch Nachlässigkeit auf dem Weg zur schiefen Bahn des bedrückten Verlierers oder des stumpfen Gewinners aus den Augen verloren, verlieren wollten. Auch und vor allem, wenn der Lehrer diese Typenbildung erlaubte, sie förderte, sich an ihnen labte.

Die Schubladen blieben, ihr Inhalt nicht. Der Autist Paul spricht noch die Worte: „Sich umzubringen, ist kein Spaziergang. (...) Es ist auf jeden Fall eine rechte Sauerei und mehr Aktivität, als man erbringen könnte in dem paralysierten Zustand, da man sich tot wünscht“. Im Laufe der Jahre jedoch finden die vermeintlichen Verlierer zueinander und merken, wie sich das Blatt teilweise wendet. So erkennt Bea: „Hätte ich früher gewusst, dass es mir irgendwann völlig egal sein wird, was andere von mir denken; hätte ich gewusst, dass es keine Normalität gibt, ich hätte mir Jahre des Ärgers erspart.“ In ihrer Wortwahl und unter Berücksichtigung der Umstände entlarvt Berg diese Erkenntnis jedoch als Trug. Zu oft verlieren sich Gewinner wie Verlierer in sinnlosen Jobs und einem fadenscheinigen Privatleben. Ein herumbrüllender, fauchender Bär wacht über das Geschehen und darüber, dass sich eine Stichelei, ein Zwist, ein Schicksalsschlag nach dem anderen ereignen. Nicht weniger entlarvt wird das versöhnliche Ende mit den Folgeversen, die den Titel im letzten, revuehaften Refrain des Stücks vervollständigen: „Diese letzten goldenen Jahre,/ die uns noch bleiben bis zum Schluss./ Wir werden sie entspannt genießen,/ wenn es denn schon sein muss.“

Barbara Ullmann, Antje Härle, Paul Steinbach, Tim Stöneberg, Michael Ophelders und Jan Brunhoeber: Das Darsteller-Ensemble erweist sich in jeder Hinsicht als Glücksgriff und weiß das Groteske im Wechsel zwischen Leid, Glück und entlarvter Illusion gekonnt zu verkörpern. Von Berg nicht vorgegeben, tritt der Lehrer als Zirkusdompteur mit clownesker Schminke auf und erfreut sich sadistisch und rückblickend an dem Leid und dem illusorischen Glück, zu deren vermeintlicher Evolution auch er maßgeblich beigetragen hat. Anouk Schiltz‘ Bühnenbild, das immerhin die Schauplätze des Schulalltags sowie des Privat- und Berufslebens in Einklang bringen muss, wirkt wie eine Mischung aus Sporthalle, Zoogehege und Büro. Wer die Inszenierung gesehen hat, versteht, dass diese Requisite passt. An einer Tafel werden die leeren Lebensweisheiten anfangs vom schadenfrohen Lehrer festgehalten, später von den einstigen Verlierern revidiert und neu hingekritzelt. Werden sie die späteren Lehrer sein? Markant ist auch jener Moment, da der Lehrer sich unters Publikum mischt und den überraschten Zuschauern zunickt, zujubelt, angesichts der Groteske, die sich inmitten seiner ehemaligen Schüler aufbläht. Am Ende wird er die Karteikarten aus seinem Unterricht verlieren. Seine festgefahrenen Notizen entgleiten ihm. Seine Regeln stimmen nicht mehr. Typen werden zu komplexen Psychen. Er selbst wird drangsaliert. Auch sein Typus wird dekonstruiert.

Die goldenen letzten Jahre entpuppen sich als überragendes Stück mit viel Sprengkraft und unbequemem Identifikationspotenzial. „Bitte nicht füttern“ steht an einem Schild vor dem Gehege geschrieben: Der Lehrer verliert die Kontrolle über sein Rudel, füttert es mit dem falschen Stoff. In Simons Inszenierung hat das Ensemble Bergs Vorlage gebändigt, soweit sich der Text bändigen lassen möchte, bändigen lassen soll. Sibylle Berg? Mehr davon.

Die goldenen letzten Jahre von Sibylle Berg. Inszenierung: Anne Simon; Dramaturgie: Peter Oppermann; Bühne: Anouk Schiltz; Kostüme: Alevtina Enders; Darsteller: Barbara Ullmann, Antje Härle, Paul Steinbach, Tim Olrik Stöneberg, Michael Ophelders, Jan Brun
Claude Reiles
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