Als sich am frühen Nachmittag des 4. Oktober die Minibus-Kolonne mit den Presseleuten dem Zentrum von Wiltz nähert, wirkt die Stadt beinah menschenleer. Doch das täuscht, in der Rue du Château vor dem Schloss spielt die Musik. Hier warten Stände, um den Tag nach der Passage des großherzoglichen Paares zum Volksfest werden zu lassen. Ein 150 Meter langer Tisch ist aufgebaut, an dem schon seit dem Vormittag gegessen und getrunken werden kann. Die Leute hoffen, dass Guillaume und Stéphanie nach dem offiziellen Teil ihres Wiltz-Besuchs kurz vorbeischauen, dass Guillaume vielleicht das Glas erhebt.
Im Amphitheater des Schlosses soll eine Inszenierung von „Vivre ensemble“ dargeboten werden. Nach Grevenmacher ist Wiltz die zweite Station der Tour über Land des neuen Staatschefs an seinem ersten Arbeitstag, wenn man so will. Alles ist durchorganisiert: Die Wiltzer CSV-Bürgermeisterin Carole Weigel, die Nord-Minister Martine Hansen (CSV) und Eric Thill (DP), der Kammer-Vizepräsident Fernand Etgen (DP) sollen Guillaume und Stéphanie im Innenhof des Schlosses empfangen. Die Nord-Abgeordneten von CSV, DP, LSAP und ADR, Lokalpolitiker aus Wiltz und dem Norden sowie Abgesandte von 55 lokalen Vereinen stehen weiter unten am Ende einer Treppe Spalier. Die Bürger/innen warten im brechend vollen Amphitheater. Wie an allen Stationen der Tour soll Nähe zwischen Großherzog und Großherzogin und den Leuten beschworen werden. Keine aristokratische Aura, sondern die Vorstellung, dass der Staatschef dem Volk diene, auch wenn er nicht gewählt ist.
In Wiltz, ausgerechnet einer Gemeinde mit vielen sozialen Problemen, gelingt das durch eine raffinierte Show: solidarisches Zusammenleben als eine alle einschließende Kommunitarismus-Idee. Eine Theatergruppe junger Menschen mit Trisomie führt ein kurzes Stück über die Arbeit von Dienstboten früher auf – und verfrachtet damit das höfische Leben in eine Vergangenheit. Die Tischtennis-Olympionikin Ni Xialin und der Künstler Mike McQuaide sind die Zeremonienmeister der Show. Sie berichten auf Englisch, wie willkommen sie sich in Luxemburg schon am ersten Tag gefühlt hätten. Ein Chor tritt auf, eine Jazzband mit zwei Sängerinnen. Und vor allem werden auf eine Videoleinwand im Hintergrund der großen Bühne Aussagen von Wiltzer/innen projiziert, jung und alt, aller möglichen Herkünfte. „Schwätz mam Grand-Duc“ heißt das Projekt. An den Staats-
chef werden Wünsche gerichtet. Dass er für Wohlstand sorgen möge. Dass in Luxemburg kein Krieg sein soll. Dass er sich für Frauen und Kinder einsetze und gegen die Erderwärmung. Wer kann das nicht verbindend finden? Das vielleicht 2 000 Köpfe umfassende Publikum ist begeistert.
Als der Konvoi mit Guillaume, Stéphanie und den Prinzenkindern den Schlosshof verlässt, rennt ein Mädchen aus der Theatergruppe, eine belgische Papierfahne in der Hand, den Autos hinterher: „Monseigneur, Monseigneur…“ Doch der ist schon unterwegs nach Steinfort und später Düdelingen. Ein Abstecher zum langen Tisch in der Straße vor dem Schloss war im Programm nicht vorgesehen.
In Düdelingen hinter dem Kulturzentrum Neischmelz und dem Wasserturm ist die Szenerie viel größer als in Wiltz. Schließlich ist hier der Südbezirk. Eine Rangfolge, wer dem Staatschef wann begegnen soll, ist schwer möglich. Honoratioren, Süd-Minister, Abgeordnete und Lokalpolitikerinnen stehen alle beisammen. Im Gegensatz dazu ist die Distanz zu den normalen Leuten größer und von vornherein so geplant: Guillaume, Stéphanie, der Düdelinger Bürgermeister, SüdRegierungsmitglieder werden das Gelände über für sie reservierte Pfade und Brücken abschreiten und unterwegs einer Darbietung nach der anderen begegnen. Chefin des Ganzen ist Tänzerin und Choreografin Sylvia Camarda. In Düdelingen geht es um „Mouvements“. Tanz natürlich, aber expression corporelle im weiteren Sinne, bis hin zu Akrobatik und mit viel Körperlichkeit dargebotener Musik. Die Show ist opulent, dauert mehr als eine halbe Stunde. Während auf der großen Wiese bei der Musikschule und dem zum Festplatz mit Karussells und Imbissbuden umfunktionierten Parking eine Menschenmenge zuschaut und wenigstens von weitem einen Blick auf Großherzog und Großherzogin zu erhaschen versucht. Die Aufführung gipfelt in einem Finale mit einer schwimmenden Plattform auf dem See am Wasserturm, Wasserfontänen und einem kurzen Feuerwerk, das den Wasserturm in Rot-Weiß-Blau taucht. Während in Wiltz die Botschaft von einem schönen Zusammenleben übermittelt werden sollte, ist es in Düdelingen eine von Leistung und Wettbewerbsfähigkeit.
In der Hauptstadt soll es am Abend die Synthese geben, die Konklusion. Doch je größer der Austragungsort, desto größer wird die Distanz zu den Menschen. Schon in Düdelingen war sie größer als in Wiltz. In Luxemburg-Stadt sieht das Programm noch mehr Distanz vor.
Ehe der neue Großherzog gegen 22 Uhr auf dem Glacis die Bühne betreten und eine kurze Ansprache halten wird, findet auf der Roten Brücke sogar unter Ausschluss der meisten Presse die Begegnung von Guillaume und Stéphanie mit ausgesuchten Vertreter/innen der Gesellschaft statt, die in Tram-Zügen aus Richtung Kirchberg ankommen. Nie an diesem 4. Oktober ist der Kontakt zwischen großherzoglichem Paar und den Bürger/innen so gestellt, als wenn Großherzog und Großherzogin, auf Stühlen sitzend, die Ankunft einer Tram erwarten, der unter dem Titel „Zesummeliewen“ Vertreter/innen des Horeca- und Nightlife-Gewerbes entsteigen sollen. Sieben weitere Züge bringen Künstlerinnen, Polizisten, Sportler oder Geschäftsleute herbei. Mit ihnen allen im Gefolge, an die 1 800 Menschen, begeben Guillaume und Stéphanie sich in Richtung Großes Theater.
Am Glacis, wo die Menschen sind, kommt dieser cortège nie an, er löst sich vorher auf. So ist das vorgesehen: Die Show auf der Brücke soll eine fürs Fernsehen und fürs Internet sein. Die Menschenmenge auf dem Glacis bekommt vom Geschehen auf der Brücke live nur acht leer ankommende Straßenbahnzüge mit. Dass den leeren Trams applaudiert wird, beweist den Sinn der Anwesenden für Humor. Viele versuchen, auf ihren Handys den Livestream von RTL zu empfangen, der alles überträgt. Doch das klappt nicht zuverlässig, die Server des Fernseh-Monopolisten erhalten wohl zu viele Kontaktanfragen. Da waren die Wiltzer/innen besser dran. Im Amphithea-
ter des Schlosses saßen Guillaume und Stéphanie beinah in Rufweite zu den Leuten. Wenngleich sie am Ende nicht an den langen Tisch weiter draußen gingen.