Visafreier Zugang in die EU

Unsichtbare Mauern

d'Lëtzebuerger Land du 17.06.2016

Die EU ist eine Ordnungs- und eine Unordnungsmacht weit über das ihr zugehörige Territorium hinaus. Und zwar unabhängig davon, ob sie es sein will oder nicht. Der eindrucksvollste Beleg für diese Tatsache sind die beiden Osterweiterungen von 2004 und 2007, die den ganzen Kontinent neu gegliedert haben und den erfolgreichen wirtschaftlichen und demokratischen Neustart vieler ehemaliger kommunistischer Länder begleitet, gefördert und abgesichert haben. Obwohl vieles im Detail noch unvollendet ist, so wird diese Leistung der Europäischen Union im historischen Rückblick einmal als herausragend bewertet werden.

Von der Kraft und dem Selbstbewusstsein, die das westliche Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus beflügelt haben, ist nach der Finanzkrise, dem russischen Revisionismus, der auch vor Krieg nicht zurückscheut, und der massiven Verschiebungen im planetaren Machtgefüge nicht mehr viel übrig. Die EU igelt sich mittlerweile ein wie ein Kind, das sich unter der Decke versteckt, damit es die dunklen Gefahren, die es erahnt, nicht konfrontieren muss. Die Mauern gegen Flüchtlinge und die Hilflosigkeit bei der Sicherung der eigenen Grenzen sprechen da Bände. Weniger wahrgenommen wird, welche Rolle sie gerade in der Frage des visafreien Zugangs aus Ländern ihrer unmittelbaren Nachbarschaft spielt und welche Konsequenzen für Glaubwürdigkeit, Ansehen und die Absicherung des weiteren Umfelds daraus erwachsen könnten.

Konkret geht es um die Frage, ob Menschen aus Georgien, der Ukraine und dem Kosovo, die im Besitz eines biometrischen Passes sind, der bei der Einreise eine schnelle digitale Überprüfung ermöglicht, für 90 Tage visafrei in die EU einreisen können. Die EU-Kommission empfiehlt dies seit Dezember 2015 mit Nachdruck. Die EU-Mitgliedstaaten konnten sich letzte Woche auf der Ratssitzung der EU-Justiz- und -Innenminister in Luxemburg mehrheitlich nicht darauf verständigen.

Zwischen 2011 und 2015 hat die EU zum Beispiel nicht weniger als fünf Fortschrittsberichte im sogenannten Visadialog mit der Ukraine verfasst. Immer hat sie dabei betont, dass die Visafreiheit erteilt werde, sobald die Länder, mit denen sie diesen Dialog führt, die gestellten Bedingungen erfüllt haben. Für die Ukraine gab die Kommission im Dezember grünes Licht. Die EU-Mitgliedstaaten aber verweigern ihre Zustimmung. Erst müsse das Land die Beschlüsse von Minsk umsetzen, heißt es jetzt. Iryna Herashchenko, Vizepräsidentin des ukrainischen Parlaments, sprach denn auch von doppelten Standards. Die EU enttäuscht so ein Land, in dessen Revolution Hunderte für die Durchsetzung europäischer Werte gestorben sind. Wäre es nicht besser, die EU würde die Visafreiheit gewähren und dann entziehen, wenn die Ukraine in ihren Demokratieanstrengungen wieder hinter erworbene Standards zurückfiele? So hätte sie ein politisches Pfund in der Hand, denn in der Bevölkerung der betroffenen Länder besitzt die Visafreiheit einen großen Wert.

Das Gleiche gilt für Georgien und Kosovo. Georgien wird die Zustimmung verweigert, weil in letzter Zeit viele Georgier von professionellen Diebesbanden angeheuert werden, die in Deutschland auf Raubzug gehen. Die Georgier sollen für rund ein Drittel aller Diebstähle verantwortlich sein. Die Zunahme der Raubzüge in Deutschland ist gewiss erschreckend, aber dieser „Geschäftszweig“ floriert offensichtlich auch bei Visazwang und verlangt andere Bekämpfungsstrategien. Mit Georgien wurde seit 2013 verhandelt, mit dem Kosovo seit 2012. Die EU-Kommission steht seit ihrem Verdikt, dass die Türkei ihre Verpflichtungen nicht erfüllt, nicht unbedingt in dem Ruf, Visafreiheit leichtfertig zu empfehlen. Moldawien, ein mindestens so problematisches Land wie der Kosovo, bekam 2014 seine Visafreiheit nach vier Jahren Anstrengungen. Es scheint fast, als läge 2014 – von heute aus gesehen – in einer anderen Epoche.

Die EU-Mitgliedstaaten wollen eine Gesetzesänderung, damit eine einmal erteilte Visafreiheit bei Missbrauch leichter wieder zurückgezogen werden kann. Frühestens im Oktober wird sich das Parlament mit dieser Sache befassen. Inoffiziell machen vor allem Deutschland, Frankreich und Italien gegen die Visafreiheit Front. Offiziell darf man nicht erfahren, wer wofür gestimmt hat. Klaas Dijkhoff, Staatssekretär im niederländischen Ministerium für Sicherheit und Justiz und Leiter des Rats-Treffens, verweigerte dazu in der anschließenden Pressekonferenz jede Auskunft. Öffentlichkeit ist jedoch ein hohes Gut der Demokratie. Warum nur sprechen so viele EU-Gegner immer wieder von Hinterzimmerdiplomatie?

Die Visafreiheit ist ein wichtiges Instrument, um die Nachbarländer an die EU zu binden. Visafreiheit hat einen hohen praktischen und symbolischen Wert. Sie kann ein Druckmittel sein, um Reformen in den betroffenen Ländern voranzutreiben und sie wäre Ausdruck einer grundsätzlichen europäischen Solidarität mit den Ländern, die nach Europa streben. Angst war noch nie ein guter Ratgeber. Es wäre besser, wenn die Mitgliedstaaten mutiger und strategischer denken und handeln würden.

Christoph Nick
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