Ein EU-Austritt Großbritanniens hätte nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Folgen für das Großherzogtum

Wenn der Partner-Rivale ginge

d'Lëtzebuerger Land du 17.06.2016

Auch wenn Großbritannien die Europäische ­Union verlässt, wird die Öffentlichkeit in den anderen Mitgliedstaaten gegen eine Vertiefung der europäischen Integration sein – „außer vielleicht in Luxemburg“. Das meinte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble am Wochenende bei einer Investorenkonferenz in Berlin. Aber selbst da irrt sich Doktor Schäuble: Wenn der britische Chauvinismus nächsten Donnerstag im Referendum siegt, fühlte sich der Nationalismus überall in Europa bestätigt und es gäbe genügend rechte Politiker, Unterschriftensammler und Internet-Kommentatoren, die auch hierzulande ein Referendum über jeden neuen Schritt der europäischen Integration verlangten.

Wie eine solche Volksbefragung endete, zeigt sich am Beispiel des knappen Ausgangs des Referendums von 2005 über den Europäischen Verfassungsvertrag – gar nicht zu reden vom Referendum vom vergangenen Jahr über das Ausländerwahlrecht. Doch dessen ungeachtet, wäre ein am Luxemburger Nationalfeiertag beschlossener EU-Austritt Großbritanniens eine Gefährdung des Herzstücks der Luxemburger Außenpolitik, seiner Europapolitik, selbst wenn es nicht zu Ivan Krastevs politischem „bank run“ in den EU-Staaten käme.

Das Luxemburger Parlament hatte den Brüsseler Vertrag über die erste Erweiterung dessen, was damals noch lange Schuman-Plang und Zeka hieß, um Großbritannien, Dänemark und Irland am 17. Oktober 1972 diskutiert. Der Bericht des außenpolitischen Ausschusses bemühte sich, Ängste zu zerstreuen, dass die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf nunmehr neun Länder den Einfluss des kleinsten Gründungsmitglieds, Luxemburg, verringere. Es gehe nun nicht mehr bloß um die deutsch-französische Versöhnung, sondern um „die Partnership mit Großbritannien – dem großen Verbündeten im Zweiten Weltkrieg“. Berichterstatterin Colette Flesch (DP) hatte die Auswirkungen des britischen Beitritts auf die Luxemburger Stahl­industrie, die Klein- und Mittelbetriebe sowie die Landwirtschaft und den Weinbau untersucht – von Banken und Fonds ging noch keine Rede. Ihr Parteikollege, der Landwirt Albert Berchem, meinte, dass der Beitritt Großbritanniens „uns schwere Probleme verursachen“ werde, und der LSAP-Gewerkschafter Jängi Fohrmann machte sich Sorgen, dass nach der Erweiterung keine Sitzungen des Europaparlaments mehr in Luxemburg stattfänden.

Trotzdem wurde der Beitritt mit 50 Stimmen von CSV, LSAP, DP und SdP gegen sechs Stimmen der KPL ratifiziert. Über einen möglichen Austritt 44 Jahre später müsste laut Lissaboner Vertrag die Kammer gar nicht mehr befinden. Auch wenn sich in einer Ende Mai von TNS-Ilres über Internet durchgeführten Umfrage bei 868 Erwachsenen zwei Drittel für den Verbleib Großbritanniens in der Union aussprachen, 27 Prozent aber meinten, dass die EU ohne Großbritannien besser funktionierte.
Ein Austritt Großbritanniens würde das Kräfteverhältnis innerhalb der Europäischen Union verändern und damit auch den von Freund und Feind stets als überproportional beschriebenen Einfluss Luxemburgs. Luxemburg verlöre einen Gegner, der das Großherzogtum stets als Verfechter einer politischen Union ansieht und deshalb auch stets seine Kandidaten für den Vorsitz der Europäischen Kommission zu verhindern versuchte. Angesichts der widersprüchlichen Interesse der Luxemburger Europapolitik verlöre das Land aber auch einen Verbündeten im Kampf für ungehinderte und möglichst wenig kontrollierte Finanzgeschäfte in der Europäischen Union. In diesem Sinne meinte auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble diese Woche im Spiegel: „Außerdem tritt das Vereinigte Königreich in Brüssel konsequent für marktwirtschaftliche Lösungen ein und ist damit häufig ein Verbündeter der Bundesregierung.“ Nicht nur Deutschland, auch andere Staaten des reichen wirtschaftsliberalen Nordens, wie die Benelux, Dänemark, Österreich, Schweden und Finnland, verlören einen wichtigen Verbündeten und möglicherweise sogar ihre Sperrminderheit gegen die ärmeren, vom deutschen Merkantilismus geschwächten Staaten des Südens.

Nach dem Gipfeltreffen im Februar, bei dem die britische Regierung neue Zugeständnisse für den Fall versprochen bekam, dass sie Mitglied der EU bliebe, war Premier Xavier Bettel stolz darauf, das Level playing field verteidigt und erreicht zu haben, dass die Regierungschefs „keine Verträge aufgemacht“ und „keine Sonderregelungen für Großbritannien“ zugunsten der Londoner City und zu Lasten des Boulevard ­Royal beschlossen hätten (d’Land, 26.2.16). Sollte sich eine Mehrheit der britischen Wähler nächste Woche für den Verbleib in der Europäischen Union aussprechen, träten die im Februar abgemachten Opt-out-Klauseln in Kraft, darunter auch die Möglichkeit für alle EU-Staaten, das Kindergeld von ausländischen Beschäftigten zu kürzen.

Aber Großbritannien und Luxemburg sind nicht nur Konkurrenten und Partner bei der Verteidigung ihrer Finanzplätze. Großbritannien war auch lange ein Gegengewicht zu der deutsch-französischen Allianz und somit im Interesse Luxemburgs und anderer kleinen und mittleren Mitgliedstaaten. In der Wirtschaftskrise von 2008 war diese Allianz vorübergehend ein Direktorium der deutschen Kanzlerin und des französischen Präsidenten, die nicht einmal mehr auf die legendäre Vermittler- und Übersetzerdienste Luxemburger Politiker angewiesen waren.

Doch nach der Krise hat Deutschland die Allianz mit dem wirtschaftlich und politisch geschwächten Frankreich aufgekündigt. Seither bestimmt die deutsche Regierung die EU-Politik oft alleine, wie die Verhandlungen mit dem überschuldeten Griechenland und die vorübergehende Öffnung der Grenzen für Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Irak zeigten. Durch seine Größe und seine militärische Potenz als eine der beiden Atommächte der EU stellt Großbritannien eines der letzten politischen Gegengewichte zur deutschen Hegemonie dar, das nun verschwinden könnte.

Die Kräfteverschiebung in der Europäischen ­Union fände sowohl politisch als auch institutionell statt. Das Europaparlament verlöre ein Zehntel seiner Abgeordneten, wenn die 73 britischen Europaabgeordneten nach Hause reisten. Dadurch veränderte sich seine politische Gewichtung, denn die Hälfte der britischen Europaabgeordneten sind rechte Gegner der europäischen Integration, von der für den Austritt kämpfenden UK Independance Party und der regierenden Konservativen Partei, welche das Austrittsreferendum organisiert hat. Letztere zählen zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer, deren Allianz hierzulande die ADR angehört.

Bei einem Austritt Großbritanniens müssten auch der für die Finanzmärkte zuständige EU-Kommissar, Jonathan Hill, und die britischen Richter am Europäischen Gerichtshof auf dem Kirchberg nach Hause fahren. Wobei es wohl im Luxemburger Interesse wäre, dass alle Institutionen verkleinert würden, ohne dass die Büchse der Pandora geöffnet und eine neue Gewichtung der Mitglieder diskutiert würde, bei der Luxemburg wieder um seinen Kommissar, seine sechs Europaabgeordneten und seine Kirchberger Institutionen bangen müsste. Bei der Volkszählung von 2011 wurden 5 471 britische Staatsbürger in Luxemburg gezählt, davon ein Teil Beamte der europäischen Institutionen und ihre Familien, die kaum von einem Tag zum anderen entlassen, aber doch zum größten Teil nach und nach abgezogen würden.
Weitreichender wären die Veränderungen im Ministerrat, der einflussreichsten der europäischen Institutionen. Hier ist bei Beschlüssen zur Außen- und Sicherheitspolitik, zu indirekten Steuern, zur sozialen Sicherheit und zu den EU-Finanzen Einstimmigkeit nötig. Bei einem Austritt Großbritanniens wäre dessen Veto nicht mehr zu befürchten, was die Suche nach einem Konsens in diesen Fragen vereinfachte.

Großbritanniens Abwesenheit würde das Kräfteverhältnis im Ministerrat verändern, wenn mit qualifizierten Mehrheiten abgestimmt werden soll, was bei vier Fünftel aller Vorschriften geschieht. Zu einer qualifizierten Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsländer bräuchte es dann nur noch 15 statt 16 Regierungen. Die qualifizierte Mehrheit schreibt aber auch die Stimmen von Regierungen vor, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Mit Großbritannien verließen 12,73 Prozent der Bevölkerung die EU. Dadurch würde der Einfluss der Luxemburger Bevölkerung als zweitkleinstem Mitgliedsland von 0,11 Prozent auf 0,13 Prozent steigen. Der Einfluss Deutschlands als größtem Mitgliedsland stiege dagegen von 15,93 auf 18,25 Prozent derjenige Frankreichs von 13,04 Prozent auf 14,94 Prozent.

Großbritannien ist laut EU budget 2014. Financial ­report der Europäischen Kommission der drittgrößte Nettozahler in der Europäischen Union. Allerdings sind dank Margaret Thatchers Rabatt seine jährlichen Beiträge mit 4,9 Milliarden Euro kaum höher als diejenigen der weit kleineren Niederlande, die 4,7 Milliarden Euro zahlen. Wenn das Land die EU verlässt, müssten folglich Ausgaben gekürzt oder die Beiträge anderer Länder erhöht werden. Da Luxemburg in dieser manchmal auch beanstandeten Rechnung trotz seines hohen Prokopfeinkommens noch 80,1 Millionen Euro an der EU verdiente, ist nicht ausgeschlossen, dass es in bescheidenem Maße zum Nettozahler wie seine Nachbarländer würde.

Romain Hilgert
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