Kommentar

Aberwitzig

d'Lëtzebuerger Land du 20.05.2016

Es grenzt an Dreistigkeit und intellektuelle Unredlichkeit, was der Sozialist Robert Goebbels in seinem Leserbrief im Luxemburger Wort vor einer Woche polemisierte: Eine „fast religiöse Kampagne“, die sich von „Vorverurteilungen und Verdächtigungen“ nähre, attestierte der ehemalige Wirtschaftsminister TTIP-Kritikern, allen voran den „Berufsprotestlern des „Protest-Multis“ Greenpeace, dessen niederländischer Arm die neusten TTIP-Dokumente veröffentlichte.

Goebbels warf ihnen vor, schlecht informiert zu sein (von drei Millionen EU-Bürgern, die eine Petition gegen TTIP unterschrieben, hätten nur 12 000 das Positionspapier der Kommission zum Investorenschutz angeklickt). Der LSAP-Politiker rückte Skepsis gegenüber dem geplanten Freihandelsabkommen indirekt sogar in die rechte Ecke, in dem er vor Politikern warnt, die die TTIP-Verhandlungen als „eine willkommene Gelegenheit nutzen, um sich in die nationalistische und die protektionistische Pose“ zu werfen.

Ja, es gibt Anti-Amerikanisten und Globalisierungsgegner unter den Kritikern von TTIP und Ceta. Bei Rechtspopulisten erfreut sich das Thema zunehmender Beliebtheit, weil sich darüber erfolgreich mobilisieren lässt, so wie der französische Front national, der vor einem Jahr seine Kampagne gegen TTIP startete, oder in Österreich, wo der Präsidentschaftskandidat der Freiheitlichen Partei, Nobert Hofer, mit einem Nein zu TTIP auf Stimmenfang geht. Greenpeace und die Luxemburger Plattform Stopp TTIP zählen aber klar nicht zu den Rechten.

Dass Goebbels wieder einmal wie ein Rohrspatz schimpft, liegt nicht nur an seiner Hassliebe zu Umweltfreunden allgemein. Er zeigt eine Haltung, die symptomatisch für den europäischen (und leider zunehmend für den nationalen) Politikbetrieb ist und mitursächlich für wachsenden Parteienfrust und EU-Skepsis: Statt Einwände, Nöte oder Sorgen der Bevölkerung ernst zu nehmen, auf sie einzugehen und ihnen inhaltlich zu begegnen, werden sie lächerlich gemacht, verdreht, arrogant vom Tisch gewischt oder stur darüber hinweggegangen.

Keine Aussage ist zu dumm, wie jene, noch nie habe es bei internationalen Verhandlungen so viel Transparenz wie bei TTIP gegeben. Goebbels hat recht, bloß wurde diese Transparenz von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und anderen Vertretern der Zivilgesellschaft mühsam gegen den Widerstand von Brüssel erkämpft. Erst als sich abzeichnete, dass der wachsende Protest gegen TTIP die Verhandlungen zu blockieren drohte, veröffentlichte die Kommission ihr Verhandlungsmandat und setzte nach und nach weitere Dokumente online.

Die neue Öffentlichkeit ist keineswegs gesichert, wie die aberwitzigen Leseräume zeigen, in denen gewählte Abgeordnete die konsolidierten Verhandlungspositionen lesen müssen. Nicht nur, dass die Abgeordneten ihre Handys abgeben müssen, ihre Lesezeit limitiert ist und sie keine Experten mitbringen dürfen: Sie sollen auch nicht über die Inhalte reden. Zudem ist völlig unklar, wann die konsolidierten Papiere in die Leseräume gelangen und wie vollständig sie sind.

Goebbels polemische Aufforderung, abzuwarten, bis ein fertig ausgehandelter Vertragsentwurf vorliegt und nicht mit „abenteuerlichen Verdächtigungen Geld in die Kassen von Greenpeace zu spülen“, kann niemand, der sich mit dem Thema beschäftigt, ernstnehmen. Zum einen scheint seine Kritik nur für die Gegner der eigenen Position zu gelten: Soeben veröffentlichte die Kommission eine weitere Studie, die auf fast 400 Seiten versucht, die Folgen von TTIP abzuschätzen, obschon noch gar nicht feststeht, welche Handelshemmnisse aufgehoben werden. Dabei fallen die geschätzten positiven Wirkungen entgegen früherer Annahmen aber deutlich geringer aus.

Als ehemaliger EU-Parlamentarier weiß Goebbels, dass noch gar nicht geklärt ist, ob es sich bei TTIP um ein „gemischtes Abkommen“ handelt, über das auch die nationalen Parlamente befinden müssen, oder ob Europäischer Rat und EU-Parlament allein abstimmen werden. Die Kommission lässt derzeit die Entscheidungskompetenz im Verfahren über das Handelsabkommen der EU mit Singapur vom Europäischen Gerichtshof klären.

Sollte es ein gemischtes Abkommen sein, werden die nationalen Parlamente bestenfalls kapitelweise zustimmen oder ablehnen können. Umso wichtiger ist es, Vor- und Nachteile im Vorfeld genau zu dokumentieren, die dahinter liegenden Motive zu kennen und abzuwägen. Zumal die Abkommen in so einem Fachjargon verfasst sind, dass man den Abgeordneten nur profunde Kenntnisse im Internationalen Handelsrecht wünschen kann.

Dass sich aus dem Wegfallen von Handelsbarrieren Vorteile für europäische Verbraucher ergeben können, weil Preise im Wettbewerb fallen, Doppelkontrollen entfallen und neue Produkte entstehen, streiten seriöse TTIP-Kritiker gar nicht ab. Exportnationen brauchen offene Märkte und globale faire Regeln. Die Frage ist aber, zu welchem Preis und was dies für zukünftige Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards bedeutet. Der Protest gegen TTIP ist mehr als eine rein technische Auseinandersetzung um die richtigen Formulierungen in einem Tausend Seiten starken Vertragswerk. Nur um Handelszölle abzubauen, hätte es ein so umfangreiches Abkommen nicht gebraucht. Was neu ist und worum es eigentlich geht: Mit TTIP und Ceta sollen künftige Standards beeinflusst werden, es geht um nichts Geringeres als die Handelsarchitektur der Zukunft. Dass Vorsicht und Misstrauen nicht unbegründet sind, haben die Greenpeace-TTIP-Veröffentlichungen gezeigt – und werden weitere zeigen. Angesichts so weitreichender Ziele ist es legitim, dass sich die Zivilgesellschaft einmischt, auch wenn das manchen Politikern nicht passen mag. Die Zeiten des Durchregierens, als Brüssel über die Köpfe von EU-Bürgern und nationalen Parlamenten hinweg entschieden hat, weil es kaum jemand interessierte, neigt sich – und das ist durchaus eine Hoffnung von TTIP – hoffentlich dem Ende zu. Ines Kurschat

Ines Kurschat
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