Sozialdemokratie in Europa

Die verlorene Reinigungskraft

d'Lëtzebuerger Land du 13.05.2016

Es war eine schwarze Woche für die europäische Sozialdemokratie. Am Montag trat in Wien Werner Faymann (SPÖ) als Bundeskanzler zurück. Als Begründung gab er mangelnden Rückhalt in der eigenen Partei an. Zur gleichen Zeit mühte sich in Berlin Sigmar Gabriel um die Werte der SPD und ließ sich dabei von einer Putzfrau den Schneid abkaufen. Am Samstag zuvor suchten in Paris Genossen aus Frankreich, Portugal, Spanien, Österreich und Deutschland gemeinsam nach einem Ausweg aus dem Dilemma der Sozialdemokratie. Doch Antworten finden sie keine. Stattdessen eine Hintertür, die sich in schneller Zuschreibung ergibt: Schuld sind immer nur die anderen.

So bleibt es ein Wehklagen in der französischen Hauptstadt. Die Parti Socialist (PS) hat eingeladen und insbesondere Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands haben sich zu einem Wochenendtrip an die Seine aufgerafft. Der Pastis ist günstig und das Wetter frühlingshaft. Frauen sind kaum in der Gruppe, außer der Vorsitzenden einer feministischen Arbeitsgruppe der PS und einer Lokalpolitikerin aus dem Berliner Stadtbezirk Tempelhof-Schöneberg. Eine mitgereiste Sympathisantin möchte nicht länger der paneuropäischen Diskussion folgen, sondern lieber einkaufen. Die Herren arbeiten sich derweil an der Schuldfrage ab und haben schnell einen Schuldigen gefunden: der Rechtspopulismus ist schuld. An allem. Vor allem an der Misere der europäischen Sozialdemokratie.

Doch die hat ihre Wurzel: Es ist 17 Jahre her, dass der Österreicher Jörg Haider mit strengnationalen und ultrakonservativen Parolen einen ersten Wahlsieg für seine Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) einfuhr. Die etablierten konservativen Kräfte der Alpenrepublik arrangierten sich zügig mit der neuen politischen Kraft, die Linken hingegen konnten sich mit dem bis dahin tabuisierten rechten Gedankengut kaum anfreunden. Eifersüchtig schielten sie auf die Wähler der Rechtskonservativen, die doch eigentlich aus dem Klientel der Sozialdemokraten stammen müssten, der Arbeiterschaft.

Seit 2008 stellte die SPÖ mit Faymann den Bundeskanzler. Er führte das Land in die Flüchtlingskrise und legte eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik hin. Österreich habe „Zehntausenden Menschen Asyl gegeben“, lobte sich Faymann zu seinem Rücktritt und verschwieg, dass er mit der Abschottung des Brennerpasses zu einem Totengräber der EU geworden ist. Widersprüchlicher kann Politik kaum sein.

In Frankreich führt François Hollande die Sozialdemokratie in eine Krise. Er kam in den Élysée-Palast nicht aufgrund seines Charismas und seiner politischen Visionen, sondern weil das Wahlvolk Nicolas Sarkozy leid war. Sein Vermächtnis bislang: die höchste Arbeitslosigkeit und der höchste Schuldenberg in der Geschichte Frankreichs – zudem noch eine Partei ohne Kontur, die heute so, morgen so will oder nicht will. Man weiß es nicht so genau.

In Berlin hingegen lässt sich SPD-Chef Sigmar Gabriel von einer Reinigungskraft die Leviten lesen, was völlig am Thema vorbeigeht, denn die Schelte von Putzfrau Susanne Neumann bringt zwar nette Kommentare in den sozialen Netzwerken, verhindert aber eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Kernproblem: Nur noch 32 Prozent der Deutschen traut der SPD Kompetenz in sozialer Gerechtigkeit zu. Oder: Bei den Wahlen in Baden-Württemberg Mitte März kam die Partei auf gerade einmal 13 Prozent der Stimmen.

Die Sozialdemokratie steckt in ganz Europa in der Krise. Und möchte es doch nicht wahrhaben. „In Auseinandersetzungen mit antidemokratischen Rechts- und radikaldemokratischen Linkspopulisten sowie mit populärstrategisch aufgefrischten Konservativen sind die klassischen Mitte-Links-Reformparteien vom aktuellen Vertrauensverlust in die Demokratie am stärksten betroffen“, sagt der Parteien-Analytiker Werner A. Perger dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. „Egal, ob in der Regierung oder in der Opposition, die Sozialdemokraten wirken heute erschöpft und desorientiert.“

Nach den Gründen forschten die Genossen in Paris. Es sind Herren im fortgeschrittenen Alter, die sich im Verlauf der Diskussion auf die Schulter klopfen, in Erinnerung daran, was die Sozialdemokratie in den 1970-Jahren alles geleistet hat, wozu sie beitrug, was sie bewirkte. Es ist eine Rede im Präteritum, der abgeschlossenen Vergangenheit. „Wir sind ein Traditionsverein“, fasst es ein deutscher Genosse zusammen. Die Runde klatscht Beifall.

Es gibt innere und äußere Gründe für den Niedergang. Viele Beobachter schieben es darauf, dass das ursprüngliche Wählerpotenzial der Sozialdemokratie aussterbe und die Arbeiterklasse verschwinde. Es gebe sie weder in der Bergbausiedlung im Ruhrgebiet, noch in den englischen Kohlenrevieren, im französischen Nordosten oder in der „roten Toskana“. Doch mit dem Schrumpfen dieser Klientel erwuchs eine neue Wählerschaft, die der sozial Benachteiligten. Diesen stand die Sozialdemokratie allerdings ratlos gegenüber, da sie diese selbst geschaffen hatte, etwa durch die Hartz-IV-Reformen in Deutschland. Noch konnte sie das sogenannte Prekariat integrieren, da sich die Partei längst dem Mittelstand und der Mittelschicht zugewandt hatte. Sie machte Politik für diese. Aber diese wandte sich den konservativen Parteien zu, um das zu bewahren, was sie erreicht und erzielt hatte: Wohlstand, einen Job auf Lebenszeit, materielle und soziale Sicherheit. Werte, die vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise immer mehr in den Fokus der Wählerinnen und Wähler rückten. Werte, die Nationalisten und Populisten mit Floskeln, aber kaum mit ihrem jeweiligen Wahlprogramm ansprechen.

Die Sozialdemokratie hat europaweit keine Antwort darauf und kein Konzept dagegen. Anstatt den Rechtspopulisten in einer inhaltlichen Diskussion zu begegnen, setzen die Linken auf Konfrontation auf Ebene der Parolen, anstatt bei ihren Werten zu bleiben, springt sie über jedes Stöckchen, das die Rechten hinhalten. Sind Flüchtlinge nicht sogar eine Chance für die alternde, pflegebedürftige Gesellschaft, für die heranwachsende Generation ohne Aussicht auf eine gesicherte Rente? Der Österreicher Faymann entschied sich dafür, in den Flüchtlingen eine Bedrohung zu sehen. Die Genossen in Paris wollten gar nicht erst über die Flüchtlingskrise diskutieren, sondern sich lieber darüber unterhalten, wie der Populismus in Europa eingedämmt werden kann.

Martin Theobald
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