Bürgertum Bis zum Ersten Weltkrieg dominierten Liberale die Politik in Luxemburg. Es waren die Notabeln, die das Wahlrecht besaßen: Sie stammten aus großbürgerlichen Familien, waren Anwälte, Magistraten, Diplomaten, Ärzte und Industrielle. Unter ihrer Regentschaft erhielt Luxemburg seine erste Verfassung, die trotz zahlreicher Reformen bis heute Bestand hat. Sie legten die Grundlage des Rechtsstaats und der Nation. Nach einer Regierungskrise und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts übernahm 1919 die Rechtspartei die Macht und konnte sich dauerhaft etablieren. Mit der Arbeiterpartei gewannen auch die Sozialisten zunehmend an Bedeutung. Die Liberalen litten lange Zeit an Richtungskämpfen zwischen „klassischen“ bourgeoisen Altliberalen und von neuen Denkrichtungen beeinflussten progressistischen, kleinbürgerlichen Linkssozialisten. 1934 ging aus diesen Konflikten die radikalliberale Partei hervor, die wieder in die Regierung kam.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich liberale und zum Teil nationalistische und demokratiefeindliche Bewegungen zum Groupement patriotique et démocratique zusammen, das 1954 in Demokratesch Partei (DP) umbenannt wurde. Ab den 1950-er Jahren wechselten DP und LSAP sich als Koalitionspartner der CSV ab, bis sie 1974 erstmals gemeinsam eine Regierung bilden konnten, die vor allem gesellschafts- und sozialpolitische Reformen umsetzte. Nach 1984 verlor die DP gegenüber der LSAP immer weiter an Bedeutung und schaffte es nur noch einmal von 1999 bis 2004 in die Regierung.
Hatte sie 1999 von der Verärgerung der Staatsbeamten wegen der Rentenreform profitiert, erlitt die DP 2004 eine dramatische Wahlniederlage, weil sie sich nach Ansicht ihrer Wähler zu sehr dem Koalitionspartner CSV untergeordnet hatte. Der anschließende Erneuerungsprozess brachte Claude Meisch an die Parteispitze. Als Spitzenkandidat scheiterte er 2009, die Wählerinnen nahmen ihm und seiner Partei die „nei Weeër“, die sie aufzeigen wollten, nicht ab und blieben lieber auf dem „sëchere Wee“ der CSV. In Meischs Schatten profilierte sich aber bereits sein Nachfolger. Der damals 36-jährige Xavier Bettel hatte zu dem Zeitpunkt schon mehr als sein halbes Leben damit verbracht, in Mokassins, kariertem Hemd und Barbour-Jacke durch die Groussgaass zu laufen und jedem, dem er begegnete, gut gelaunt die Hand zu schütteln und mit ihm ein paar unbedeutende Worte zu wechseln. 1999 war er in die Abgeordnetenkammer gewählt worden, 2000 kam er in den Gemeinderat. 2005 wurde er in der Hauptstadt Schöffe. 2009 ernannte die Fraktion ihn wegen seines persönlichen Wahlresultats zu ihrem neuen Vorsitzenden. Die DP hatte gegenüber 2004 weiter verloren, doch Bettel hatte gewonnen. Im Zentrum hatte er alle Parteigranden hinter sich gelassen. 2011 wurde er Bürgermeister, und obwohl er eigentlich damit zufrieden war, übernahm er zwei Jahre später das Amt des Premierministers.
Zeitenwende Als DP, LSAP und Grüne 2013 erstmals eine gemeinsame Regierung bildeten, war in weiten Teilen der Bevölkerung die Erleichterung groß. Zu lange hatte die CSV das Land regiert, die Zeit für Veränderung war gekommen. Die dpa sprach sogar von einer „politischen Zeitenwende in Luxemburg“. Gesellschaftspolitische Reformen ließen nicht lange auf sich warten. Finanzpolitisch musste Luxemburg nach der Wirtschaftskrise saniert werden. Weil Meisch sich das nicht zutraute, holte Xavier Bettel den parteilosen Pierre Gramegna; mit dem „Zukunftspak“ sollte er nicht nur den Staatshaushalt wieder auf Vordermann bringen, sondern auch eine kompetitive Wirtschafts- und eine selektive Sozialpolitik betreiben.
Die Politik der blau-rot-grünen Regierung war von Anfang an liberal geprägt. Dagegen einzuwenden hatten weder die LSAP noch die Grünen etwas, die sich schon seit 20 Jahren als die „besseren Liberalen“ sehen, weil ihre Politik nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf Ökologie beruht. Trotzdem beansprucht bis heute vor allem die DP für sich, die einzig wahre „liberale“ Partei zu sein. Sie ist das Original.
Seit 2013 sind es vor allem ihre Ministerinnen, die die Arbeit der Regierung bestimmen. Auch nach den Wahlen von 2018 konnte die DP sich trotz leichter Verluste die wichtigen Regierungsämter sichern. Sie stellt den Premier- und den Finanzminister, die bei allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort haben. Die Sozialpolitik hat Familienministerin Corinne Cahen maßgeblich beeinflusst. Claude Meisch stellt in der Bildungs- und Hochschulpolitik die Weichen für die Zukunft, und Marc Hansen kümmert sich darum, die Wählerinnen aus dem öffentlichen Dienst nicht zu verschrecken. Lex Delles bedient seinerseits den für die DP äußerst wichtigen Mittelstand. Mit diesen Schlüsselressorts konnte die DP die „Durchökonomisierung ganzer Gesellschaftsbereiche“ (d᾽Land vom 24.8.2018) vornehmen, ohne aber allzu liberal aufzutreten. Symptomatisch dafür ist die Reform des RMG-Gesetzes, die 2018 verabschiedet wurde. Diente das garantierte Mindesteinkommen dem Zweck, den sozial Schwächsten eine Existenzgrundlage zu bieten, hat Cahen es in Revenu d᾽inclusion sociale (Revis) umbenannt und an Bedingungen geknüpft, die die Empfänger um jeden Preis zurück auf den Arbeitsmarkt führen sollen. Mit dieser Reform setzte sie die langjährige DP-Forderung um, „arbeitsunwilligen“ Menschen, die die Maßnahmen „missbrauchen“, die Mittel nach und nach zu kürzen, wenn sie nicht bereit sind, aktiv Verantwortung zu tragen. Auch Meischs schrittweise Öffnung des Schul- und Bildungswesens für die Privatwirtschaft ist ein Markenzeichen „liberaler“ Politik.
Sexy Ihre Auffassung von liberaler Sozialpolitik veranschaulicht Corinne Cahen in einem Beitrag, den sie vor zwei Wochen auf Facebook veröffentlichte. Als sie eben mit einer Bekannten auf einer Terrasse in der Oberstadt „e bësse poteren“ wollte, erblickte sie eine drogenabhängige Bettlerin, der sie schon einmal begegnet war. Nach einer kurzen Unterhaltung habe sie ihr ausnahmsweise Geld gegeben, damit sie sich etwas zu essen kaufen konnte, „an net méi um Eck do soll hänken“. Allerdings kamen ihr später Zweifel, ob die arme Frau auch wirklich ehrlich mit ihr gewesen war: „A wann et gelunn huet a sech awer Drogen kaf huet? So be it. Ech wëll et och elo net wëssen. Brauche mer et net heiansdo alleguer, e bëssen naiv a guttgleeweg ze sinn??“, fragt die Ministerin und DP-Präsidentin. Sie setze sich regelmäßig neben Bettler, um besser zu verstehen, wie sie ihnen helfen könne. Aber so einfach ist das nicht, denn „heiansdo ass et einfach onméiglech ze hëllefen, nämlech dann, wann d’Hëllef einfach net ugeholl gëtt“. Dem Paperjam verriet Cahen am Wochenende, wenn sie nicht Bürgermeisterin der Stadt Luxemburg werden und noch einmal in eine Regierung kommen sollte, würde sie das Arbeitsministerium interessieren: „Je le trouve ‘sexy’ parce qu’il y a beaucoup de choses à réformer. Comme le temps de travail, faire en sorte que la population puisse mieux organiser sa vie, etc.“
Ihr BFF Xavier Bettel tingelt derweil seit Ostern von Veranstaltung zu Veranstaltung. In den vergangenen drei Wochen besuchte er neben seinen sonstigen politischen Verpflichtungen das Duck Race des Service-Klubs Round Table, einen Popup Store der Stadt Luxemburg und der Jonk Entrepreneuren (mit Lex Delles), die 1. Mai-Feier des LCGB und die Yep Schoulfoire (mit Claude Meisch). Er reiste zur offiziellen Visite nach Zypern, war aber rechtzeitig zurück, um am Wochenende dem Family Day des Fußballvereins UN Käerjeng 97 und der Journée de l’Europe in Esch/Alzette beizuwohnen. Überall schoss er Bilder und Selfies, die er mit seinen Verehrern auf den sozialen Netzwerken teilte. „No Corona“ und ein Jahr vor den Wahlen sind auch die Politiker anderer Parteien an den Wochenenden unterwegs, doch keiner ist so fleißig und macht das so geschickt wie XB. Für die DP, die laut dem Soziologen Fernand Fehlen von allen Parteien traditionell am meisten „auf persönliche Stimmen und damit auf die Attraktivität seines politischen Personals“ angewiesen ist, war Xavier Bettel ein Glücksfall. Doch zuletzt hatte seine Popularität gelitten.
Für die DP könnte es 2023 schwieriger werden als 2013 und 2018. Bei den letzten Umfragen hatten die Liberalen an Zustimmung verloren. Laut Sonndesfro vom November 2021 kämen sie nur noch auf neun Sitze und fielen damit so tief wie zuletzt 2009. Auch Bettel selbst hatte im Beliebtheitsranking acht Prozentpunkte eingebüßt. Die nächsten Resultate dürften Wort und RTL in einem Monat veröffentlichen. Die Befragungen durch TNS Ilres werden in der Regel in den beiden Wochen davor durchgeführt.
Inner Circle Eine Unbekannte für die DP stellt Frank Engels neue Partei Fokus dar, die am Samstag ihren Gründungskongress hat. Viele DP-Mitglieder sind in den vergangenen Monaten übergelaufen. Manche von ihnen hatten schon für die Liberalen bei Wahlen kandidiert, waren jedoch gescheitert und versuchen es nun erneut. Ihren Wechsel alleine darauf zurückzuführen, dass sie bei der DP nicht zum Zuge kamen, greift jedoch möglicherweise zu kurz. Immer wieder wird die DP dafür kritisiert, dass der Inner Circle aus Regierungsmitgliedern und einigen Eingeweihten alle Entscheidungen in der Partei alleine treffe und der Dialog mit den anderen Mitgliedern nicht existent sei. Die scheidende Präsidentin Cahen und ihr Generalsekretär Claude Lamberty hatten dafür zwar eine „Iddis- an Talentschmëdd“ gegründet, doch dabei geht es wohl vor allem darum, Kandidatinnen für die Gemeinde- und Kammerwahlen zu finden. Künftig wird sich wohl Lex Delles darum kümmern, der am Mittwoch angekündigt hat, sich beim Kongress Mitte Juni für den Parteivorsitz zu bewerben. Gegenkandidatinnen dürfte es nicht geben.
Heute ist die Parteienlandschaft so zersplittert wie selten zuvor. Um möglichst koalitionsfähig zu bleiben, drängen fast alle Parteien in die „Mitte“. „Sozial-liberal“ ist das Label, das sie für sich beanspruchen. Die LSAP und die CSV sowieso, die Grünen und die Piraten auch. Nur Fokus entzieht sich noch einer eindeutigen Zuordnung. Die DP aber hat den Sozialliberalismus zu ihrem Aushängeschild gemacht. Sie ist ein Meister der Selbstdarstellung; sie weiß, was ihre Wählerinnen wollen und beherrscht die Marketing-Strategien, um es ihnen ansprechend zu verkaufen. In einer Analyse der Wahlen von 2004 erstellte Fernand Fehlen ein liberales Wählerprofil: DP-Wähler seien „wesentlich gebildeter und verdienen mehr als der Durchschnitt“, schrieb er 2006 im Forum. Die Selbständigen seien überrepräsentiert, unter ihnen vor allem Handwerker, Geschäftsleute und Bauern. Weiter finde man unter den DP-Wählern viele leitende Angestellte und Lehrerinnen, von Letzteren jedoch nicht so viele wie bei den Grünen.
Vordergründig kann man der DP nicht vorwerfen, ausschließlich ihre Wahlklientel zu bedienen. Ihre selektive Sozialpolitik, die sie schon seit 20 Jahren im Programm hat, richtet sich vor allem an Menschen, die traditionell nicht DP wählen. Sie hat die LSAP bei der Erhöhung des Mindestlohns und anderen Sozialleistungen unterstützt, verteilt Geschenke im Bereich der Bildung und der Kinderbetreuung und hilft den Grünen bei der Energiewende. Doch wegen der hohen Wohnungspreise sind sozial selektive Leistungen wie Teuerungszulage, Mietsubvention und Energiekredite nichts weiter als Zuschüsse für die Eigentümer. Gerade deswegen ist die Ausrichtung der Regierung grundsätzlich liberal. Die DP stellt sich stets in den Dienst der Betriebe und der Vermögenden. Eine große Steuerreform, die für mehr soziale Gerechtigkeit und Umverteilung sorgen würde, hat sie abgeblasen, woraufhin Pierre Gramegna zurückgetreten ist und durch Yuriko Backes ersetzt wurde. Einschneidende staatliche Eingriffe zur Bekämpfung der Wohnungsnot hat die DP verhindert. Auch hat die Dreierkoalition dafür gesorgt, dass Betriebe bei der Umstellung auf erneuerbare Energien nicht zu sehr finanziell belastet werden. Und sie hat vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine im Rahmen des Solidaritéitspak dafür gesorgt, dass die Bürgerinnen der Mittel- und Oberschicht den Ärmeren etwas für den Gas- und Benzinkauf abgeben, damit das nicht auf die Unternehmen zurückfällt. Jean-Claude Juncker und Luc Frieden von der CSV haben den Staat zwar zum Dienstleister für die Privatwirtschaft und insbesondere für die Finanzindustrie umgebaut, doch die DP hat ihn als Facilitateur für das Großkapital weiter ausgebaut.
Erfolg Für junge Menschen, die unter der Wohnungsnot leiden, wird die DP 2023 sicherlich nicht die erste Wahl sein. Andererseits hat sie das Wohnungsbauressort 2018 an die Grünen abgegeben, die aber damit überfordert sind und kaum nennenswerte Resultate vorzuweisen haben. Auch für Klimaaktivistinnen dürfte sie nur wenig attraktiv sein, denn der Vize-Präsident der Jungdemokraten, Lou Linster, hat diese Woche gegenüber dem Land unterstrichen, Klimaneutralität sei ohne Atomenergie nicht zu erreichen, deshalb müsse auch der Pensionsfonds wieder stärker in Nuklearunternehmen investieren. Junge Wählerinnen spricht die DP mit anderen liberalen Tugenden an: Offenheit und Toleranz. Xavier Bettel ist zu einer weltweiten Schwulen-Ikone geworden, mit Jana Degrott hat die DP eine ambitionierte Nachwuchspolitikerin, die sich für kulturelle Vielfalt engagiert, Corinne Cahen hat wesentliche Verbesserungen bei der Inklusion und der Barrierefreiheit umgesetzt.
Letztlich war Luxemburg immer schon ein liberales Land und der wirtschaftliche Erfolg und der hohe Lebensstandard geben den „Gründervätern“ recht. Selbst CSV und LSAP haben an den verfassungsrechtlichen Grundprinzipien wie dem uneingeschränkten Recht auf Privateigentum nicht gerüttelt. Im Gegensatz zu anderen Ländern verpflichtet Eigentum in Luxemburg zu nichts. Die Einführung einer Erbschaftssteuer in direkter Linie ist mit Ausnahme der Kommunisten und der Linken in allen Parteien tabu. Genau wie die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Abschaffung des Bankgeheimnisses für Gebietsansässige. Die Liberalen rechtfertigen das damit, dass Luxemburg im Gegenzug fast die Hälfte seines Staatshaushalts für Sozialausgaben aufwendet und damit in Europa einen Spitzenplatz belege. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt machen die Sozialausgaben jedoch gerade mal ein Fünftel aus und Luxemburg liegt noch unter EU-Durchschnitt. Diese Diskrepanz ist auch und vor allem auf den bewussten Verzicht von höheren Steuereinnahmen und die überaus ungleiche Verteilung von Einkommen und Wohlstand zurückzuführen.