Die kleine Zeitzeugin

Liebe deine Nächste

d'Lëtzebuerger Land vom 20.12.2019

Links zu sein bedeute, zuerst die Welt zu denken, dann sein Land, dann die Nahestehenden, dann sich selber. Rechts zu sein, verlaufe genau umgekehrt.

Dieser Mahnspruch eines französischen Philosophen begegnet mir wo? Natürlich auf FB, unserem modernen Poesiealbum, in dem wir uns einen Reim auf so circa alles machen. Stirnrunzel, grübel … Ja, das klingt gut, so eine Weltentwerfung.

Am besten bevor man so viel chaotisch Menschliches angerichtet hat, dass man den Überblick verliert. Am besten bevor einem dauernd Nahestehende ins Weltbild laufen. Aber wahrscheinlich käme man gar nicht dazu, chaotisch Menschliches anzurichten beim Weltdenken, beim Welterdenken, beim Sich-die-Welt-Denken, wer käme da noch dazu, eine Nachkommenschaft zu züchten, zum Beispiel? Zumindest wenn dieses Denkwesen eine Frau wäre? Robbend durch die Pampers-Canyons würde sie die Welt hoffnungslos aus den Augen verlieren, sie wäre ihr bald Wurst. Sie würde es nicht mal auf eine Klima-Demo schaffen.

Wo alle ihre Freundinnen sind, statt mit ihr Kaffee zu trinken und mit ihrem Kind zu spielen. Klar, das ist wichtiger. Die Freundinnen denken eben die Welt. Zumindest denken sie an die Welt.

Welt ist ja nun wirklich faszinierender als Nahestehende. Sich für die Welt zu engagieren, ist eine viel sinnvollere Investition. Die Welt kann man retten, Nahestehende nicht. Nahestehende sind viel zu nah, man weiß, wie sie riechen, wie sie ticken, ihre Ticks. Dann sind sie einem auch noch fremd. Viel fremder als das syrische Kind auf dem Foto. Als der Wal mit dem Plastik im Bauch.

Solidarität mit Vietnam war einst schon bedeutend verlockender als Solidarität mit Tante Mariechen im Siechenhaus. Besonders, da die Amerikaner nicht mal schuld daran waren, dass Tante Mariechen im Siechenhaus lag, zumindest nicht vordergründig. Ho-Ho-Ho-Tschi Minh war angesagter als Herzinfarkt-Opa, Kaffeebohnen ernten in Nicaragua wirklich was anderes als ins Heu zu gehen mit Monni Misch. Und wer wollte schon die Eltern, diese Komplizen des Kapitals, bei ihren sinnlosen Ersatzbefriedigungsritualen unterstützen? Wenn draußen grad geile Demo war, vielleicht eine mit Gefahr, vielleicht sogar mit Sterben à la Benno Ohnesorg. Zuhause beim Hausputz war das kaum drin.

Mittlerweile gibt es ein Riesenangebot an Solidaritäten, wir können sie uns aussuchen. Es gibt Solidaritäts-Hypes und Solidaritäts-Moden. Es gibt immer neue, manche sind chronisch, wie die mit Palästina. Es gibt Solidarität mit aussterbenden Tierchen und mit toten Frauen. Mit Flüchtlingen, derzeit nicht so gefragt, die, die in Bosnien frieren haben wir grad nicht auf dem Radar. Kurdistan? Daran erinnern nur noch die Kurd_innen, die ihren bunten Zorn in die grauen Städte tragen.

Und was ist mit Jemen, erinnert sich jemand an Jemen? Gab mal so eine Posting-Welle mit Haut- und-Knochen-Kindern aus Jemen, allen zerriss es das Herz, aber das Herz musste weiter. Erinnert ihr euch an den bösen Saudi-Prinzen, der einen Weltwimpernschlag der weltbeste Bösewicht war, erinnert ihr euch, saudische Botschaft in der Türkei? Da ging das los mit den Knochenkids, Gott sei Dank bald vorbei, und der böse Prinz wurde wieder eingeladen. Also für den Jemen setzen sich nicht so viele ein. Für Assange auch nicht, nur ein paar einsame Poster posten ein Heiligenbild und sammeln Unterschriften. Für das Klima sind die meisten, es hat Hochkonjunktur, man kann ja auch kaum dagegen sein.

Solidarität mit der ewig depressiven Freundin dagegen, seufz? Sich all das anhören, schon wieder, all das, was ins Nichts führt? Was zu nichts führt? Oder ausgeflippten Kleinkindern hinterher hecheln auf Spätherbstspielplätzen, wegen Mütter- Soli?

Peter Rosegger, schon 101 Jahre tot und nicht gerade ein In-Autor, sah das mit der Welt und den Nahestehenden, bei ihm sind es Nächste, ganz anders als der französische Philosoph. Er schrieb, es sei leichter alle zu lieben als einen. Die Liebe zur ganzen Menschheit koste gewöhnlich nichts, die zum Nächsten Opfer.

Opfer, pfui, huch, schrei!

Opfern tut man nicht mehr.

Nur ein besinnliches Zitat zum Fest der Liebe.

Michèle Thoma
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