TANZ

Zwischen Tanzkonzert und Konzerttanz

d'Lëtzebuerger Land vom 25.06.2021

Die Corona-Pandemie stellt Künstler/innen auf eine Geduldprobe. Neun Jahre ist es her, dass die Idee entstand, Ligetis Klavieretüden in ein Tanzstück zu verwandeln, vier Jahre lang dauerte die Realisierung. Im Spätherbst 2020 wurde trotz Lockdown geprobt, die Premiere fiel dann aber ins Wasser. Nun ist es endlich soweit. Hear Eyes Move feiert am 1. Juli 2021 Premiere im Grand Théâtre. Für die Choreografin Elisabeth Schilling ist das fast ein kleines Wunder, nicht nur, weil es sich bei dem Projekt um eine Herkulesaufgabe handelt, sondern weil es so viele Hürden zu überwinden galt. In der Zwischenzeit erfand auch Schilling sich neu. So rief sie während der Pandemie die Kunstaktion Invisible Dances ins Leben, bei der der Tanz in die nächtlichen Städte kommt. „Je länger diese Pandemie geht, desto gravierender ist der Einschnitt in Deinem Berufsleben“, befürchtet Schilling, wenngleich sie einräumt, dass verglichen mit der Situation in Schottland oder England man hier in einem Land tätig sei, wo es eine großzügige Unterstützung für Künstler/innen gebe.

Hear Eyes Move ist, wie man es von der Choreografin kennt (Felt, 2019), anspruchsvoll. Die Musik von György Ligeti ist selbst für Musikkenner sehr abstrakt. Sechs Jahre, von 1985-2001, hat der ungarische Komponist an seinen Études pour piano geschrieben. Seine 18 unvollendet gebliebenen Klavieretüden hat er in drei Büchern niedergeschrieben. „Es ist wirklich der Mount Everest der Klavierliteratur“, meint die Pianistin Cathy Krier, die die Choreografie live am Klavier begleitet. Es bedürfe einer unglaublichen Präzision; jeder Ton müsse stimmen.

Elisabeth Schilling kam erstmals 2011 mit Ligetis Musik in Berührung, als sie in dem Stück Métamorphoses von Sasha Waltz tanzte. „Wir haben damals ein Streichquartett von Ligeti getanzt, dass er in den 50er Jahren kreiert hatte“, erinnert sich Schilling: „Es war Liebe auf den ersten Ton.“ Die Musik habe sie gefesselt und seitdem nicht mehr losgelassen. Es war diese unglaublich komplexe Rhythmik von Ligeti. Seine Musik klang für sie direkt nach Texturen. Dann begann sie, diese aufzumalen, und versuchte, das irgendwie in Formen zu bringen und die Zeichnungen wieder in Bewegungen zu übersetzen. Was verbindet Tanz und Musik? Ging es in den Anfängen stets darum, Musik zu schreiben, um eine Geschichte zu erzählen, so emanzipierte Balanchine das Ballett. Er war es, der die Musik durch den Tanz malen wollte. „Ich finde noch immer, dass es im klassischen Ballett so ist, dass der Tanz zweitranging hinter der Musik ist, weil der Tanz die Musik malt.“ Die Wende kam in den 50er Jahren: Erst Cunningham und Cage sollten in der Moderne Tanz und Musik ganz voneinander entkoppeln. Cage komponierte eigenständig; Cunningham komponierte Tanz, und erst bei der Premiere kamen sie zusammen ... Die Idee, im zeitgenössischen Tanz mit Musik so eng zusammenzuarbeiten, sei in den letzten Jahren ein bisschen aus der Mode gekommen, bedauert Schilling.

Die Verschmelzung zwischen Musik und Tanz wurde so zur fixen Idee: „Ich wollte eine Beziehung finden, wo diese Art von Sym-biose, die Kunstformen ineinander wachsen und koexistieren, aber trotzdem noch eng zusammen, komplex verwachsen sind“, beschreibt Schilling ihr Vorhaben. „Die Musik von Ligeti ist der Ursprung der Idee. Darauf baut alles nach und nach gemeinsam auf“, bringt die Pianistin Cathy Krier Hear Eyes Move auf den Punkt.

Einen Zugang zu Ligeti verschaffte sich Schilling, indem sie 14 Bücher über seine Etüden las und versuchte, seine Musik zu verstehen. Das eine war die musikwissenschaftliche Recherche, auf der anderen Seite stand das „choreografische Ohr“ – man hört die Musik wirklich in ihrer Tiefe und in all ihren Lagen, und es kommen Assoziationen hoch. Ausgehend davon habe sie das Projekt erarbeitet. „Ligeti ist in der Musikgeschichte jemand sehr besonderes, weil er andere Ansätze suchte und sich von vielen verschiedenen Dingen inspirieren ließ: Er war ein unglaublich guter Handwerker und wir haben das Glück, dass er so viel geschrieben hat“, meint auch Pianistin Krier. „Nur dann kann man über die Regeln hinwegschauen. Und somit ist alles, was er macht, absolut stimmig und logisch.“

Ligetis Etuden wählte Schilling, weil in seinem Spätwerk sein breitgefächertes Wissen, wie seine Kompositionserfahrung zum Erblühen kommt. Dabei hat jede Etude ihr eigenes Konzept und eine eigene Atmosphäre. Ligeti selbst soll über seine Études pour piano gesagt haben, dass im Prozess der Komposition „taktile Konzepte fast so wichtig waren wie akustische“. Die Bewegungen der Musik sind also nicht nur eine Sache des Hörens, sondern der Empfindung, sie werden „als taktile Form, als Abfolge von Muskelspannungen“ empfunden. Durch diese Formen und Abfolgen verhalten sich Ligetis Stücke wie „wachsende Organismen“. Diesen Gedanken im Hinterkopf hat Schilling die Études pour piano choreografisch interpretiert. Indem sie Tanz und Musik als zusammenhängende Formen behandelt, die neben- und ineinander wachsen, hat sie gemeinsam mit fünf Tänzer/innen und der Pianistin Cathy Krier Hear Eyes Move geschaffen. Schilling glaubt, dass die an sich abstrakten Etuden – und das sieht sie als große Leistung von Ligeti – trotzdem zugänglich sind, dass man mitfühlen könne: „Diese hochkomplexe Musik bringt Atmosphären rüber, mit denen man sich in einer Art und Weise identifizieren kann.“

Ist das pluridisziplinäre Projekt nun ein tanzendes Konzert oder ein konzertierender Tanz? – „In dieser Spannung zwischen Musik und Tanz ist es Zwischenspiel von konzertiertem Tanz oder Tanzperformance und Konzert“, meint Schilling.

„Es ist eine Fusion!“, meint Tänzer Brian Caillet am Rande der Proben. Der Unterschied sei, dass man die Musik höre, aber den Tanz fühle. Für ihn überwiegen jedoch die Gemeinsamkeiten: „Du kannst die Musik und den Tanz fühlen!“„Dieser Mix, diese Verschmelzung hat sehr lange gebraucht“, reflektiert die Tänzerin Elisabeth Christine Holth den Entstehungsprozess.

„Es ist wie Kammermusik, das heißt, man ist zu verschiedenen Partnern“, fasst Cathy Krier die Herausforderung für sie in Worte. Trotzdem sei es darum gegangen, etwas Zusammenhängendes, in sich Stimmiges zu produzieren. „Und da geht es darum, teilweise Individuen zu sein, teilweise eine absolute Einheit“, meint die Pianistin. Die Schwierigkeit habe gerade für sie auch darin bestanden, eben nicht improvisieren zu können.

Als treibende Kraft sieht Schilling ihre Liebe für die Musik. Es habe gedauert, bis sie die Ideen so weit kommunizieren konnte und bis diese aufgenommen und verstanden wurden durch die Körper: „Als es so weit war, haben wir angefangen zu fliegen als Team und sind im wahrsten Sinne des Wortes abgehoben.“

„Ich glaube, es gibt sowohl in der Musik wie beim Tanz etwas, wo wir einen gemeinsamen Nenner finden, und zwar geht es darum, Texturen zu finden – eine Sprache zu entwickeln, die man gemeinsam sprechen kann“, meint Cathy Krier. „Es ging darum, unsere eigenen Bewegungen zu kreieren, die zugleich zu Elisabeths Ideen pass(t)en … Die Balance dazwischen zu finden. Es war schwierig damit umzugehen, das zu verinnerlichen“, meint auch der Tänzer Valentin Goniot rückblickend. „Wir haben ein sehr einzigartiges Zählsystem für die Musik entwickelt. Je intensiver man die Musik hört, desto stärker hört man die Schichten und dann fängt man irgendwann an, das zu genießen und sich darauf einzulassen“, so die Tänzerin Piera Jovic aus Luxemburg.

„Es ist ein absoluter Entstehungsprozess, von Anfang bis zum Schluss ... Irgendwann findet sich das. Von dem Moment an, wo ich bemerkt habe, sie beherrschen ihren Teil, waren wir auf absoluter Augenhöhe und das fand ich schön“, meint die Pianistin Cathy Krier, die den Arbeitsprozess mit Künstler/innen aus einer anderen Disziplin an sich enorm spannend fand.

Bereits das Bühnenbild von Michèle Tonteling symbolisiert Ligetis Hinauswachsen über die Grenzen. Oft werde seine Musik so beschrieben, dass er versuche über die Tastatur hinauszugehen, weil er Extreme in der Musik gefunden hat. Schilling wusste von Anfang an, dass sie einen weißen Tanzteppich wollte, der wie eine Kurve hochgeht. Blickt man als Zuschauer auf die Kurveninstallation, so wächst diese genau wie Ligetis Musik über den Raum hinaus.

Sorge davor, dass das Stück zu abstrakt für die Zuschauer/innen sei, hat die Choreografin nicht. „Ich bin viel im ländlichen Raum getourt, wo man mit Kunst weniger konfrontiert ist als im urbanen Raum, und habe immer gute Erfahrungen gemacht.“ Die Personen, die es bisher gesehen haben, hätten ihr das Feedback gegeben, dass der Tanz, diese Visualisierung hilft, die Musik zu verstehen oder zu erfahren. „Ich glaube, dass dieses Stück schon zugänglicher ist als andere. Es ist natürlich abstrakt, aber es gibt unglaublich viele Informationen, und es ist etwas, was man einfach auf sich einwirken lassen kann.“.

Hear Eyes Move; Konzept & Choreografie: Elisabeth Schilling; Piano: Cathy Krier; Musik: György Ligeti, Études pour piano; Kreative Assistenz: Brian Ca; Kostüme & Bühnenbild: Michèle Tonteling; Dramaturgie: Moritz Gansen; Lichtdesign: Fränz Meyers; Grafikdesign: Annick Kiefer / Studio Polenta; Foto- und Videografie: Bohumil Kostohryz; Tänzer/innen: Brian Ca, Cree Barnett Williams, Natalia Gabrielczyck, Valentin Goniot, Elisabeth Christine Holth, Piera Jovic; Produktion: Making Dances ASBL In einer Koproduktion mit den Théâtres de la Ville de Luxembourg, dem Kunstfest Weimar und dem Mosel Musikfestival. Neue Spieltermine: 1. Juli und 2. Juli um 20 Uhr im Grand Théâtre

Anina Valle Thiele
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