Essay über die sozio-politische Atmosphäre in Luxemburg in Zeiten des Ukrainekriegs

Krieg und Unschuld

d'Lëtzebuerger Land vom 06.05.2022

Am 14. März 2022, 18 Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, veröffentlichte die Beamtenkorporation CGFP, im Vorfeld der von der Regierung „einberufenen Tripartite zur Preisentwicklung im Energiebereich“, ein Kommuniqué. Es enthielt einen Satz, der eine eingehende Analyse verdient: „Es kann nicht angehen, dass die privaten Haushalte für die Kosten eines Krieges und einer Pandemie aufkommen müssen, die sie selbst nicht zu verantworten haben.“ Damit drückte die Innung der staatlich und parastaatlich besoldeten Mittelschichten Luxemburgs ihre brennende Sorge um die Erhaltung des relativ hohen Lebensniveaus ihrer Klientel aus, die sich aus den in Luxemburg sozial und arbeitsrechtlich am besten abgesicherten Arbeitnehmern zusammensetzt. Denn zur Immobilienpreisexplosion und den Lieferengpässen während der Pandemie kam nun eine spürbare Steigerung der Lebensmittel- und Energiepreise.

Angst bereitete der CGFP aber vor allem Premierminister Bettels durchaus vernünftig klingende Erklärung, dass der Frieden und die Verteidigung unserer Werte einen Preis hätten, den wir alle bereit sein müssten zu zahlen. Gerade ein solches kollektives Opfer wollte die CGFP verhindern. Damit gab die Beamtenkorporation sich der Illusion hin, die Bewohner Luxemburgs, und besonders die Luxemburger, könnten die große geopolitische und wirtschaftliche Krise, die sich gerade anbahnt, unangetastet und kostenneutral unter dem Zeichen der weltlichen Schutzmantelmadonna Staat durchstehen. Am Ende aber akzeptierten CGFP ebenso wie der LCGB und die Arbeitgeberverbände eine Einigung, die drei Maßnahmenpakete umfasste: für die Betriebe, für die Kaufkraft, sowie wohnungspolitische Maßnahmen.

Der OGBL lehnte es hingegen ab, die Einigung zu unterzeichnen. Denn diese sah vor, dass nach der Indexanpassung von April 2022 die schon für August 2022 vorgesehene Indexanpassung an eine weitere Inflationsrate von 2,5% auf April 2023 vertagt werde. Jede eventuell zusätzlich für 2023 anfallende Anpassung soll bis 2024 ausgesetzt, jedoch durch neue Kompensationsmaßnahmen abgefedert werden. Für die OGBL-Vorsitzende Nora Back ist die Vereinbarung „nichts anderes als eine Index-Manipulation“. Aber anstatt sich vor allem für die Klein- und Mittelverdiener einzusetzen, die den Großteil ihrer Mitgliedschaft ausmachen, manövrierte sie sich mit unseligen Patzern in die Rolle einer verbissenen Verteidigerin der integralen Indexanpassung auch für hohe Jahreslöhne ins Abseits.

Dabei teilte der OGBL mit der CGFP die Illusion, alle Lohnempfänger könnten unangetastet durch Krise und Krieg kommen. So meinte Nora Back im Land: „Wir werden jedenfalls keinen tiefgreifenden Einschnitt in unser Indexsystem dulden, auch nicht unter dem Vorwand, dass in Europa Krieg herrscht.“ Erst ex post erwähnte der OGBL andere, sozial gerechtere und für ihre Mitglieder einträglichere Lösungsansätze, wie die Anpassung der Steuertabelle an die Inflation und die Abflachung des Mittelstandsbuckels, die Besteuerung gewisser Betriebe und der hohen Einkommen. Sie forderte ebenfalls nicht gerade EU-konforme oder klimafreundliche Maßnahmen wie die Heruntersetzung der Mehrwertsteuer und Akzisen. Besonders aber vor einkommenssteuerlichen Veränderungen wollte sich nicht nur die DP wie der Teufel vor dem Weihwasser schützen. Bettel nutzte den Umstand, dass weder die LSAP noch Déi Gréng aus dem Schatten seiner DP treten können, voll aus und setzte sich so mit seiner Blockade und seinen Vorstellungen durch. Die Zeiten des Brückenbauers sind vorbei. Mittelfristig ist die soziale Front in Luxemburg alles anders als befriedet, obschon Bettel zum Schluss die Chuzpe hatte, zu erklären, sich damit selbst zurücknehmend, niemand werde nach der Einigung etwas verlieren.

Dabei steht das Land erst am Anfang einer geopolitisch gefährlichen Periode, während der die Verteidigung von Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten, aber auch die Bewältigung der Klimakrise, einen hohen und unabsehbaren, unter Umständen nicht nur materiellen Preis von den Gesellschaften der EU- und NATO-Staaten verlangen wird. Politisch ist diese Periode nur durchzustehen, wenn diese Last gesellschaftlich gerecht verteilt wird. In einem solchen Krisenmoment rückt die einigende, hoheitliche und umverteilende Rolle des Staats in den Vordergrund. Weiter eine Steuerreform anzusprechen, die diesem historischen Moment angemessen ist, ist also alles andere als abstrus.

Anstatt reinen Wein einzuschenken und sich darauf zu besinnen, dass in existenziellen Krisenzeiten nichts und niemand –auch nicht die HNWI, auch nicht andere hohe und von Steuern befreite Einkommen – von einer Steuererhöhung ausgenommen werden können, hat die Regierung auf ein „weiter so“ gesetzt. Das ist zugleich zynisch und gefährlich, denn sollte die Krise einen humanen Preis fordern, werden die Menschen mit kleinem und mittlerem Einkommen wie in jedem Konflikt in der ersten Reihe stehen. Aber da die augenblickliche Krise von allen Beteiligten offenkundig noch nicht als existenziell angesehen wird – auch für den grundsätzlich pazifistischen OGBL ist dieser widerliche Krieg ja zuerst nur ein Vorwand für Sozialabbau – zogen Regierung und Sozialpartner es vor, leichtsinnig und sorglos in die schon verplanten Sommerferien zu taumeln.

Spuren des Kriegs

Dabei hat der Ukrainekrieg, der schon in der jetzigen Phase ein europäischer Krieg geworden ist, längst tiefe Spuren in der Luxemburger Gesellschaft, Politik und Wirtschaft hinterlassen. Tausende Flüchtlinge sind in Luxemburg angekommen, denen hunderte Haupt- und Ehrenamtliche zur Seite stehen. Solidaritätsdemonstrationen haben stattgefunden. Die ukrainische Flagge weht vor vielen öffentlichen Gebäuden. Verteidigungsminister François Bausch (Déi Gréng) hat rasch Waffen und kriegstaugliches Material aus eigenen Armeebeständen in die Ukraine liefern lassen. Luxemburg hat sich immer wieder den europäischen und internationalen wirtschaftlichen Sanktionen angeschlossen, und sie nach einem längeren Anlauf unter der erst kurz zuvor frisch vereidigten neuen Finanzministerin Yuriko Backes (DP) auch durchgezogen. Jachten von russischen Oligarchen, die unter die Sanktionen fallen, dürfen nicht mehr unter Luxemburger Flagge fahren. Flugzeuge und Helikopter sitzen fest, weil ihnen ihre luxemburgische Lizenz entzogen wurde. Mehrere Milliarden Euro von Oligarchen wurden eingefroren. Die IT-Branche hat sich auf die Abwehr von Cyberattacken eingestellt. Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) strengte zudem grundsätzlichere Überlegungen an über die Kriterien, die Luxemburg künftig bei der Auswahl von wichtigen Handelspartnern beachten sollte. Die früheren Wirtschaftsminister Jeannot Krecké und Etienne Schneider mussten unter dem Druck der Öffentlichkeit und der LSAP, für die sie ihre Ministerämter bekleidet hatten, ihre Posten in Verwaltungsräten von russischen Firmen abgeben, auch wenn sie sich bislang nicht zu einer glaubwürdigen Distanzierung von Putins Aggressionskrieg haben durchringen können. Umfragen zeigen, dass breite Teile der Bevölkerung seelisch unter dem Krieg leiden.

Auch im Kulturbereich hat der Krieg seine Spuren hinterlassen. Russische Filme wurden beim LuxFilmFest zurückgezogen, was sehr umstritten war. Genauso umstritten waren die von beherzten Bürgern rückgängig gemachte schildbürgerliche Verhüllung der Büste von Juri Gagarin im Mondorfer Kurpark, die Escher Stornierung der Errichtung eines Denkmals für im Zweiten Weltkrieg in Luxemburg ums Leben gekommene sowjetische Kriegsgefangene (also so gut Russen wie Ukrainer) oder hysterische Aufrufe zum generellen Boykott russischer Kulturschaffender. Doch trotz vieler Russlandkritik hat die Russophobie nicht überhandgenommen, wohl auch, weil sich mehrere Persönlichkeiten aus der russischen Diaspora in Luxemburg offen gegen den Krieg aussprachen oder sich diskreter auf die Seite der Ukrainer stellten.

Blamagen

Fremdschämen lösten Bettels und Asselborns Auftritte auf der internationalen diplomatischen Bühne aus. Da gab es zuerst die floskelhaften, mit frommen Wünschen gespickten und ziellosen Gespräche von Premierminister Bettel am 14. und 19. März, zuerst mit Putin, und dann auf dessen Wunsch, mit Selenskij. Bettel teilte sie stolz und selbstverliebt in den sozialen Medien mit, anstatt sich darauf zu besinnen, dass er im besten Fall nur ein politisches (und im schlimmsten Fall ein ausgenutztes) Leichtgewicht im Kraftfeld des Ukrainekriegs sein könnte. Die Sache erschien umso surrealistischer, als anderthalb Wochen zuvor Jean Asselborn, immerhin dienstältester Außenminister der EU, sich auf dem internationalen Parkett blamiert hatte. In einem Radio-Interview hatte er die physische Eliminierung Putins als Ausgang aus der Krise herbeiwünscht. Als es von überall an Kritik hagelte, entschuldigte sich Asselborn damit, seine Emotionen seien mit ihm durchgegangen. So war Putin ein paar Tage später im Vorteil, als er mit dem Luxemburger Regierungschef sprach, denn Bettel war wegen Asselborns Patzer in der Bringschuld. Putin konnte ohne Risiko mit „everybodys darling“ Katz und Maus spielen und ihn als Nachrichtenüberbringer ausnutzen, was dieser auch gefällig tat. Es ist nicht nur so, dass mit diesen Vorfällen Luxemburgs Außenpolitik „zunehmend zur Farce“ wurde, wie es Christoph Bumb in einer vielbeachteten Analyse auf Reporter.lu feststellte, sondern auch wiederum offenbar wurde, in welch schwachen Händen die hoheitlichen Kompetenzen Luxemburgs liegen.

Obwohl Bettel mit Putin sehr gesprächig war, hat er sich bis jetzt noch immer nicht ausgiebig vor seinen Bürgern zu dem geäußert, was im Ukrainekrieg für Luxemburg auf dem Spiel steht, und welche Politik er hier führen soll oder will. Der Außenminister zeigt sich dagegen weniger wortkarg, aber er hat vor allem immer wieder zum Ausdruck gebracht, wie sehr ihn der Lauf der Geschichte überrumpelt hat, um dann über die Ohnmacht der Diplomatie und die aufkommenden Gefahren und Gewalttätigkeiten zu klagen, die der Krieg mit sich bringen würde. Für den Rest hat er nicht mehr zu verlautbaren gewusst, als das, was schon allgemein aus den Medien bekannt ist. Als Vertreter einer kleinen Nation, deren Bürger sich mehrheitlich als am Lauf der Geschichte unschuldig und zu verschonend betrachten, ließ Asselborn zwar einen russischen Diplomaten ausweisen, äußerte aber im selben Atemzug die Hoffnung, die Russen würden von einer ähnlichen Gegenmaßnahme absehen. Die Luxemburger Botschaft in Moskau zähle ja nur drei Diplomaten und könne sonst nicht mehr richtig funktionieren. Der Außenminister tritt seit Beginn der Krise als Zuschauer und Kommentator auf, nicht aber als mandatierter Vertreter von hoheitlichen Befugnissen eines kleinen aber reichen Staates mit starkem Hebelpotenzial.

Auch in seiner Funktion als Immigrationsminister, und damit zuständig für praktische Probleme bei die Erstaufnahme der Kriegsflüchtlinge, schien Asselborn wiederholt überfordert. Der Nestor der Außenminister, der sich nie zu schade ist, das Weltgeschehen zu überfliegen, ist plump wie ein Albatros auf dem Deck der Praxis gelandet. Die nicht gerade astronomisch hohe Zahl von 18 Flüchtlingsunterkünften im Großherzogtum kommentierte er so: „Mir sinn zimmlech domadder geplot“. Also nicht „mit ihnen“, sondern „damit“, rutschte es ihm in einem Interview raus zu den 5 000 Ukrainern, die Mitte April in Luxemburg vermutet wurden, so als sei er nicht der Minister, sondern ein gestresster Bürgermeister, und der Staat Luxemburg eine Gemeinde.

Stratege

Professioneller ging hingegen Verteidigungsminister Bausch vor. Er hatte schon vor dem Krieg eine Politik der Personalaufstockung und der Beschaffung von neuem Material für die kleine Luxemburger Armee eingeleitet. Ende März thematisierte er während einer Pressekonferenz sachlich, dass Luxemburg unmöglich zwei Prozent seines BIP in die Verteidigung investieren könne, wie es die NATO verlangt, weil es für die Absorbierung von jährlich fast 1,7 Milliarden Euro in der Armee nicht die notwendigen Voraussetzungen gibt. Er zeichnete nach, wie das Budget für Armee und Verteidigung sich in zehn Jahren fast verdoppelt hat, und dokumentierte die Beteiligung Luxemburgs an UNO-, EU- und NATO-Missionen in den drei baltischen Ländern und in Afrika. Dabei hat sich die Luxemburger Armee auftragstechnisch dermaßen diversifiziert, dass es zunehmend schwierig wird, in allen Tätigkeitsbereichen eine gleichbleibende Qualität zu garantieren.

Würde Luxemburg wirklich zwei Prozent seines BIP in die Verteidigung stecken, so Bausch, könnte es alle drei Jahre das F-35-Beschafffungsprogramm der belgischen Luftwaffe finanzieren. Damit wollte er die Sache keinesfalls ad absurdum führen. Sondern er sprach eine Schwierigkeit an, mit der auch alle Heere der Nachbarstaaten zu kämpfen haben, nämlich die, ihr Budget auszugeben, genug qualifiziertes Personal zu rekrutieren, sowie das adäquate Material zu beschaffen, damit es koordiniert und interoperabel in der NATO eingesetzt werden kann. Würde Luxemburg sich etwa am belgischen Luftwaffenprogramm beteiligen, wie es es mit dem A400M getan hat, müsste es dazu auch die menschlichen Ressourcen mitliefern. Dazu bräuchte es aber über die Frage hinaus, wo hunderte solcher Piloten, Mechaniker und Logistiker hernehmen, eine Verwaltung, die das organisieren könnte. Zum Vergleich: Frankeich hat 10 000 Spezialisten eingestellt, um ein Budget von 41 Milliarden Euro zu verwalten, Deutschland 9 500 bei einem Etat von 51 Milliarden. Umgerechnet auf Luxemburg wären das zwischen 320 und 420 Experten aller Waffengattungen, Wirtschaftsfachleute, Planer, Techniker, Juristen und Ausschreibungsexperten, um ein Verteidigungsetat von 1,7 Milliarden verwalten zu können. Das wären fast mehr als die Hälfte der Soldaten im Dienst. Luxemburg verfügt aber zurzeit nur über rund zwanzig derartige Fachleute.

Bausch hat im Gegensatz zu Bettel und Asselborn die Fragen zum Militär ernst genommen, die sich aus der öffentlichen Diskussion über die Verteidigung in Europa und im Land ergaben. Er hat so weit wie möglich sachlich informiert, ohne seine persönliche Befindlichkeit oder Gemütsverfassung in den Vordergrund zu stellen. Damit hat er direkt nichts geändert an der konkreten fragilen Situation der kleinen Luxemburger Armee. Denn die nimmt nicht nur militärisch breitgestreute Missionen wahr, sondern zusehends auch zivile Aufträge, so im Rahmen der Covid-Pandemie, der Schweinepest, bei Naturkatastrophen oder neulich beim Aufbauen und Rückbauen von provisorischen Aufnahmestrukturen für Kriegsflüchtlinge. Diese allgemein geschätzten Einsätze zählen aber nicht unmittelbar zu den Kernaufgaben der Armee, so dass diese wiederum wegen fehlender Zeit für Übungen nicht mehr so gut ausgeführt werden können. Aber indem Bausch die hoheitliche Funktion der Verteidigung ernsthaft im neuen geopolitischen Kontext bespricht, verändert er die Atmosphäre, in der die Problematik der als notwendiges Übel stiefkindlich behandelten Armee politisch angegangen wird. Er spricht über sie in einer Sprache, die den Bürger für voll nimmt und zumindest das Potenzial hat, von diesem ebenfalls seriös besprochen zu werden. Schließlich stellt sich die Frage der Verteidigung jetzt neu in einer kontinental schwierigen geschichtlichen Lage, aus der Luxemburg sich nicht mehr mit dem Scheckbuch freikaufen kann.

Verwirrungen

Mehr als zwei Monate nach Beginn des Ukrainekrieges und der ersten Verblüfftheit über die Brutalität des russischen Angriffs, und trotz der Entrüstung über die Verbrechen von Putins Armee gegen die Zivilbevölkerung, sind die Demonstrationen zur Unterstützung von Kiew abgeflaut. Die Hilfe für die Flüchtlinge ist zum täglichen Kopfzerbrechen für unzählige Haupt- und Ehrenamtliche geworden. Nach Ostern sind die ersten ukrainischen Kinder und Jugendlichen eingeschult worden. Die Inflation zieht weiter ihre Kreise und beunruhigt das lokale Unternehmertum. Der Regierungschef hat seit Anfang April in den sozialen Medien nichts mehr zur Ukraine gesagt, als habe er auf Bauschs Mahnung bei Reporter.lu gehört, dass „der Hang zur Selbstdarstellung in den sozialen Medien die Lage nicht unbedingt verbessert“. Die Regierung hält sich genauso bedeckt wie ihr Premier. Der OGBL hat am Ostermontag einmal mehr durch seine Beteiligung an einer Friedensdemonstration, in der sich KPL, trittbrettfahrende Pro-Palästinenser vom CPJPO, Schwurbler und NATO-Austrittsbefürworter tummelten, gezeigt, dass er, wie schon in der Pandemie, die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat. Er denunzierte eine „Kriegshysterie“, womit er polemisch so gut die Angst vor dem Krieg meinte wie die Überlegungen vieler, wie man am besten der angegriffenen Ukraine zur Seite stehen und ebenfalls wehrhaft für die eigenen Werte einstehen könnte.

Auf der anderen Seite gibt es maßgebliche Journalisten, die täglich fast ungefiltert die verständlichen Forderungen Kiews, Polens oder der baltischen Staaten nach Gasembargo oder Lieferungen von schweren Waffen übernehmen, ohne zu prüfen, welche Folgen diese Forderungen für die Bevölkerungen Luxemburgs, seiner Nachbarstaaten und der gesamten EU, die weder auf Produktionsstopps noch einen Krieg vorbereitet sind, haben könnten. Einigen europäischen Regierungen, besonders der deutschen, werfen sie Unentschiedenheit oder sogar Feigheit vor. Dabei suchen diese Regierungen nach Mitteln und Wegen, der Ukraine schwere Waffen zu liefern, ohne dass ihre eigene Bevölkerung oder ihr Land einen unverhältnismäßigen Schaden nehmen.

Die Ostpolitik wird jetzt systematisch als gescheitert erklärt. Dass der Wandel durch Handel und Annäherung jetzt nicht mehr funktioniert, kann allerdings nicht die historische Erfahrung von über 70 Jahre Frieden in Westeuropa rückgängig machen, die sich die deutsche, aber auch die anderen westeuropäischen Diplomatien durch Verhandlungen und auch durch Geldflüsse in die russischen Staatskassen erkauft haben, ja erkauft, als ob dies in internationalen Beziehungen zwischen Staaten etwas Unehrenhaftes wäre. Und dies bei gleichzeitiger nur selten unterbrochener schweigender Duldung durch die westlichen Regierungen und Bevölkerungen der dunklen Seiten des autoritären sowjetischen Regimes, mit all dem, was das bedeutete. Immerhin gab es nach dem Zerfall der Sowjetunion, das Entstehen neuer Demokratien und eine erweiterte EU als Prämie.

Dann gibt es die Forderungen nach einem beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine. Dabei wird ignoriert, dass das Narrativ des Blutzolls, den die Ukrainer für ihre Freiheit zahlen, sich über das Primat des Rechts schieben könnte, das gerade die EU als Staatenbund unter allen anderen besonders auszeichnet. Auch wird nicht gerne davon gesprochen, wie eine EU von innen aussehen würde, wenn nebst einigen schon jetzt rechtsstaatlich dubiosen mitteleuropäischen Partnern, militärisch siegreiche und zudem heroisierte und zu Heilsgestalten hochstilisierte Ukrainer voreilig, ehe bei ihnen Rechtsstaat, Demokratie und eine freie und durch EU-Recht geregelte Marktwirtschaft wirklich funktionieren würden, ihre bis dato ruppigen innenpolitischen Methoden ohne Komplexe in den Institutionen der Union ausleben könnten.

Erschütterte Normen

Putins Eroberungskrieg mit den von russischer Seite kalt kalkulierten und durchgeführten Verbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und dem daraus gerechtfertigten Solidaritätsreflex hat bei uns auf eine perverse Manier für eine vorübergehende teilweise Ausschaltung der eigenen „europäischen“ Normen gesorgt. Das zeigen die Reaktionen auf einen Tweet von Premier Bettel vom 3. April. Darin bekundet er sein Entsetzen über die Morde an unschuldigen Zivilisten in Butcha und anderswo in der Ukraine „während der russischen Besatzung“. Dann ruft er, vollkommen logisch im Sinne internationaler Gerichtshöfe, die sich seit Nürnberg mit solchen Verbrechen auseinandergesetzt haben, zu einer unabhängigen Untersuchung auf über alle Grausamkeiten gegen Zivilisten in der Ukraine, damit die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden können. Nach einer bewährten Methodologie starke Beweise sammeln, damit es zu einem rechtsstaatlich soliden Verfahren kommen kann, fanden einige „dünn als Reaktion“: Man kenne ja schon die Verantwortlichen, da mache Bettel es sich aber einfach, er sei ein Heuchler, der russische Einmarsch reiche als Beweis. Man warf dem Premier gar vor, er schütze die Mörder.

Die Pandemie hatte den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stark zugesetzt. Mit dem Ukraine-Krieg sind eine gemeinsame Sprache und das Einhalten von gemeinsamen Regeln in den Beziehungen zwischen den Staaten und Mächten kaum noch vorhanden. In den zivilen Beziehungen zwischen Sozialpartnern oder zwischen Staat und Bürgern sind sie auch in Luxemburg stark unter Druck gekommen. Der Gemütszustand der Menschen ist schwankend. Einmal verdrängen sie den Krieg, und dann haben sie schubweise Angst davor, persönlich hineingezogen zu werden. Sie fühlen die Prekarität ihrer Lebensumstände zwischen dem Medienspektakel um entfernte War-Games und dem pyroklastischen Strom, der sich ihnen schnell nähern könnte. Die Verherrlichung des Kriegerischen ist zwar marginal geblieben. Der Ruf nach Waffen für die Ukraine aber ist laut. Das Militärische, so glauben die meisten, sei die Sache der Anderen, der Ukrainer, und der NATO, als ob die NATO zuletzt nicht sie selbst wären. Die Ukraine war vor dem Krieg keine Demokratie im westlichen Sinne und noch viel weniger ein Rechtsstaat. Sie ist es immer noch nicht. Die Idealisierung der Ukraine ist jedoch schon so weit fortgeschritten, dass es als ungebührlich gilt, diese Binsenwahrheiten auszusprechen. Neu ist, dass der Krieg und die notwendige Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression alle EU-Regierungen dazu gezwungen haben, sich endlich die strategische Frage der Verteidigung Europas neu zu stellen. Schlüssige Antworten auf diese Fragen werden keine Halbwahrheiten und Verdrängungen störender Fakten zulassen.

Zumal es ganz danach aussieht, dass Europa sich nach dem Ukrainekrieg neu strukturieren wird, wie es nicht nur Emmanuel Macron angedeutet hat. Deswegen wäre es wichtig, dass Luxemburg sich jetzt schon nach innen gesellschaftlich gerechter aufstellen würde. Es müsste sich mit seinem ganzen Reichtum, seinen breitgefächerten internationalen Beziehungen, die hoheitlichen Befugnisse des Kleinstaats voll ausschöpfend, also nicht nur als duldender Zuschauer, ins Gefüge eines souveränen und wirtschaftlich bis strategisch autonomeren und föderaleren Europas einbringen, das nach diesem Krieg entstehen dürfte. Gebärdet Luxemburg sich aber als Zwergstaat, indem es sich raushält, delegiert, nur mit dem Scheckbuch wedelt, seine angeborene Unschuld beteuernd, anstatt als Kleinstaat und regionale Metropole seine hoheitliche Lebensfähigkeit in der sich ankündigenden geopolitischen Krise handfest zu rechtfertigen, könnten die Karten neu gemischt und seine Staatlichkeit neu gezeichnet werden. Denn Souveränität und Unschuld schließen sich aus.

Victor Weitzel
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