leitartikel

Relikt

d'Lëtzebuerger Land vom 26.09.2025

Claude Meisch wird sich nicht sagen lassen, er habe die vergangenen zwölf Jahre nichts getan. Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit hat er Schüler/innen mit unterschiedlichen Hintergründen durch die internationalen öffentlichen Schulen sowie die bald generell eingeführte Möglichkeit zur Alphabetisierung auf Französisch neue Perspektiven geschaffen. Das sklerotische traditionelle System hat sich hingegen kaum verändert. Es steht nur wesentlich mehr unter Druck.

Einige Schauplätze, die fundamental reformbedürftig sind, ließ er bisher unangetastet. Angefangen bei dem für jede Familie zentralen Thema der Schulzeiten, für die er sich in seiner Amtszeit kaum interessiert hat. Sie liegen einem Verständnis einer Gesellschaft zugrunde, das seine Wurzeln im ländlichen Luxemburg des 19. Jahrhunderts hat. Ein Relikt. Heute erscheint es kaum zeitgemäß oder pädagogisch sinnvoll, zweistündige Mittagspausen und je nach Tag unterschiedliche Unterrichtszeiten beizubehalten, da allenfalls eine Minderheit der Eltern die Kinder in der Mittagspause zuhause betreuen kann und Kinder sich demnach mit mehrfachen Ortswechseln zwischen Maison Relais und Schule und oftmals wenig Ruhezeit herumplagen. Den Stundenplan zu reformieren, wäre eigentlich der erste Schritt zu einem modernen Bildungssystem gewesen. Doch hierzulande dreht man gerne an allen Stellschrauben, außer den offensichtlichen. Als Claude Meisch im 100,7 dazu befragt wurde, spielte er den Ball den Gemeinden zu. Er wies er auf regionale Unterschiede zwischen urbanem und ländlichem Raum und die kommunale Autonomie hin. Der Stundenplan sei aufgrund dieser Unterschiede gerechtfertigt, heißt es aus dem Bildungsministerium.

Historisch war das Thema ein Wespennest. „Ich kann mir vorstellen, daß die Schule etwas später beginnen wird, daß die Kinder mittags nicht mehr nach Hause gehen sondern einen Imbiß in der Schule selbst zu sich nehmen. Nachmittags wären sie frei“, sagte CSV-Bildungsminister Jean Dupong 1967. Eine Umfrage, die er danach startete, erhielt so viele negative Antworten, dass „vorläufig“ auf eine Veränderung verzichtet wurde. Kurz nachdem Claude Meisch Minister wurde, erwog er, die Schulzeiten an den langen Tagen um eine Stunde zu verlängern. Ein Backlash folgte. Das Wort schrieb daraufhin, Meisch „avanciere langsam aber sicher zum Lehrerschreck“. Er ließ es bleiben. Ein breite Diskussion über den Schulrythmus gibt es heute – außer im Schulhof unter Eltern – nicht. Sie findet politisch stets im Zusammenhang mit anderen Fragen statt. Die letzte Debatte liegt ein Vierteljahrhundert zurück, als die liberale Unterrichtsministerin Anne Brasseur den schulfreien Samstag einführte, nachdem sich Eltern dafür starkgemacht hatten.

Im Ausland, etwa in Skandinavien oder in Peru, in Belgien, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, sind integrierte, gestaffelte Mittagspausen Teil des Schulalltags. In Deutschland wird in etlichen Schulen das „Mittagsband“ angeboten, eine ein- oder anderthalbstündige Pause zum Essen und zur Erholung. Luxemburgische Schulen sind historisch nicht dafür konzipiert. Die Bildungshäuser, die in vielen Gemeinden nun entstehen, sollen formale und non-formale Bildung weiter verzahnen. Es handelt sich um eine Ganztagsbetreuung – keine Ganztagsschule – durch die Hintertür. An der Infrastruktur für neue Zeiten kann es nicht mehr scheitern. Höchstens an politischem Interesse.

Früher pochten die Lehrergewerkschaften auf ihre zwei freien Nachmittage. Heute steht Joëlle Damé, Präsidentin des SEW einer Umstrukturierung der Schulzeiten „offen gegenüber“, wenn sie im Sinne des Kindes sei. Die Sozialpädagogen, die in den Stunden abseits des regulären Unterrichts in der Maison Relais mit Unterbrechungen arbeiten, dürften eine Reform ebenfalls interessant finden, denn im Sektor gibt es einen hohen Turn-over aufgrund der unregelmäßigen Arbeitszeiten. Das Syvicol sieht nicht, „weshalb man nicht darüber ins Gespräch kommen könnte“, sagt sein Präsident Emile Eicher (CSV).

Die Aufteilung von Sorge- und Erziehungsarbeit, Broterwerb und Freizeit ist ein wesentlicher Aspekt des modernen Familienlebens. Keine Familie – hier folgt eine anekdotische, nicht evidenzbasierte Einschätzung – mit Kindern im Schulalter schwärmt von ihrer wundervollen Work-Life-Balance, in der die Eltern ihre Kinder empathisch und werteorientiert erziehen und ihre Karriere stetig voranbringen. Das Wort Care-Arbeit vernimmt man aus dem Bildungsministerium nicht, öfter den Begriff der Flexibilisierung. Doch Eltern und Kinder sind müde. Dem Vernehmen nach sind es die Lehrer/innen und Pädagog/innen auch. Eine Überarbeitung der Schulzeiten käme allen zugute.

Sarah Pepin
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