Die Ethik und Ästhetik der Fotografie

d'Lëtzebuerger Land du 01.11.2024

Lee Miller war nicht nur ein erfolgreiches Fotomodell, sondern auch die Muse des avantgardistischen Fotografen Man Ray. Heute wird ihr Name vor allem mit ihren bemerkenswerten Leistungen als Kriegsfotografin im Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht. Sie dokumentierte nicht nur die Front und die Befreiung von Paris, sondern war auch eine der ersten, die das unvorstellbare Grauen der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau festhielt. Ellen Kuras, die zuvor als Kamerafrau für zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme gearbeitet hat, bringt Millers Leben in Form eines Biopics Lee, mit Kate Winslet in der titelgebenden Filmrolle auf die Leinwand.

Lee Miller gilt heute als eine Pionierin der Fotografie der Nachkriegszeit. Sie war eine Künstlerin, die auf bemerkenswerte Weise die ethischen Herausforderungen, die mit der visuellen Dokumentation des Krieges verbunden sind, zur Diskussion stellte. Sie nutzte dabei Stilmittel, die dem sehr nahekommen, was Susan Sontag in ihrem Werk On Photography als „Ethik des Sehens“ bezeichnet hat. Oft mied Miller die direkten Schrecken des Krieges oder stellte sie auf unkonventionelle, ja verfremdende Weise dar. So unkonventionell und avantgardistisch die Arbeit Lee Millers als Fotografin war, so überaus konventionell, mutlos und uninspiriert ist dieses Biopic. Ein stationäres Abarbeiten an den bekannten biographischen Orten England, Frankreich, Deutschland strukturiert diesen Film, ohne dass diese Szenen die Figur der Lee Miller wirklich greifbar werden lassen. Dies verhindert allein schon der Off-Kommentar, der durch die Rahmenhandlung zwischen der gealterten Lee Miller der Nachkriegsjahre und einem jungen Mann, Tony (Josh O’Connor), gestiftet wird. Mittels Rückblenden wird so in dieses bewegte Leben zwischen Reportagearbeit und Kunst, Ethik und Moral eingeführt.

Die amerikanische Kamerafrau und Regisseurin Ellen Kuras verwendet zunächst sehr viel Aufwand darauf, Miller als abenteuerlustige, lebensbejahende, sexuell freizügige und ambivalente Frau zu zeichnen. In den Dreißigerjahren im Cornwall ist Lee umgeben von freiheitsliebenden Künstlern, wie Paul und Nusch Éluard. Dann tritt der britische Künstler und Sammler Roland Penrose (Alexander Skarsgård) hinzu, mit dem Lee ein tiefes Liebesverhältnis teilen wird. Es wird einem ausschweifenden Bohèmien-Dasein gefrönt, während Rundfunkmeldungen von der zunehmenden Popularität Adolf Hitlers berichten – dass Europa im Begriff ist, sich an den Rand der kompletten Zerstörung zu bringen, daran denkt in diesen unbekümmerten Momenten niemand. Doch dann beginnt mit dem Überfall Nazideutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg. Je mehr Europa in diesen Konflikt hineingezogen wird und unter seinen Folgen leidet, desto stärker verspürt Lee Miller den Drang, ihre Fähigkeiten in den Dienst der Alliierten zu stellen. Die englische Vogue, vertreten durch die feministisch orientierte Redakteurin Audrey Withers (Andrea Riseborough), veröffentlicht nach anfänglichen Schwierigkeiten Millers surrealistisch beeinflusste Fotografien. Sie zeigen Frauen mit Schutzmasken sowie ein elegantes Model, das vor einer Karte mit den Kriegsschauplätzen posiert. Den Großteil von Ellen Kuras’ filmischem Porträt machen Lees Erlebnisse als Kriegsreporterin aus – doch ist Lee kein Film über die Kriegsbilder, dafür fehlt es an Tiefenebenen, die noch Alex Garland in Civil War (2024) aufmachte. Nur die Szene ihres ikonisches Selbstporträts in Hitlers Badewanne in dessen Münchner Wohnung vermag es, den Spürsinn Millers für die Kraft der Inszenierung ansatzweise erlebbar werden zu lassen – ihr humorvoller Umgang mit Machtdarstellung und -umkehrung wird hier zumindest angedeutet.

Dass aber diese fotografische Arbeit am Krieg Miller überaus gefordert und tiefe Spuren hinterlassen haben muss, ist augenscheinlich. Es ist die Erfahrung mit der Grenze und mit dem Kraftakt, die Entäußerungen des Menschen in eine fotografische Sprache zu fassen, freilich: Fragen nach der Ethik und der Ästhetik der Fotografie stellen sich hinsichtlich des Werkes von Lee Miller auf überaus dringliche Weise, thematisiert werden entsprechende Spannungsfelder in Lee indes nicht. Ferner: Ihre Depressionen, die posttraumatischen Belastungsstörungen, die Alkoholsucht sowie die Flucht in exaltierte Partys waren Verdrängungsversuche dieser Erfahrungen, doch wirklich erzählt davon wird in Lee auch nicht. Die Bilder, die um Lee sind und von ihr festgehalten werden, sind bei Kuras ohne Drastik, sie vermitteln nicht die Intensität und Unmittelbarkeit, die für Millers Fotografien so prägend sind. Noch nicht einmal die filmische Form, die Wesenszüge des bewegten Bildes, werden dazu wirklich in Relation gesetzt oder spannend nutzbar gemacht. Dass Miller lange Zeit in Konflikt stand mit ihrer Arbeit, dass sie ihr Bildarchiv seit den Fünfzigerjahren auf dem Dachboden unter Verschluss hielt, all das erfährt man über eine Texttafel am Ende des Films – und damit viel zu spät.

Marc Trappendreher
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