Der neue Ageing Report der EU ist allem Anschein nach pessimistischer als sein Vorgänger

Wie hältst du’s mit den Renten?

d'Lëtzebuerger Land vom 04.05.2018

Das von CSV, ADR, Sprachenschützern und dem Mouvement écologique seit zwei Jahren beschworene Schreckgespenst „1,2-Millionen-Einwohnerstaat“ hat seinen Ursprung im 2015 Ageing Report der Generaldirektion Wirtschaft der EU-Kommission. Alle drei Jahre stellt eine Ageing Working Group aus Mitarbeitern der Generaldirektion und Regierungsbeamten aus allen Mitgliedstaaten einen solchen Bericht zusammen. Darin wird für jedes EU-Land gezeigt, wie sich in den nächsten fünf Jahrzehnten die öffentlichen Ausgaben entwickeln könnten, die mit dem wachsenden Anteil über 65-Jähriger an der Bevölkerung in Verbindung stehen.

Besondere Bedeutung haben dabei die Rentenausgaben. Einerseits, weil sie meist höher sind als die für Gesundheit und Langzeitpflege. Andererseits, weil die Zahl künftiger Rentner aus der aktuellen Beschäftigtenstruktur mit mehr Treffsicherheit extrapoliert werden kann als beispielweise die vermutliche Zahl der Pflegebedürftigen im Jahr 2060 aus den Mittdreißigern von heute. Da sich damit verhältnismäßig gut zeigen lässt, wie sich die Rentenausgaben entwickeln werden, falls sich die Politik nicht ändert, greifen die EU-Kommission und der Ecofin-Ministerrat auf die Schätzungen der Ageing Reports zurück, um im Rahmen des alljährlich stattfindenden „Europäischen Semesters“ Mitgliedstaaten wie Luxemburg vorzuhalten, ohne Änderung ihrer Rentenpolitik eine „implizite Staatsschuld“ anzuhäufen, und sie zu Politikänderungen zu drängen.

Doch mit den Ageing Reports ist das so eine Sache. Der von 2009 sah nicht gut aus für Luxemburg: Bei unveränderter Politik könnten die Rentenausgaben bis 2060 auf 24 BIP-Prozent zunehmen. Drei Jahre später dagegen schätzte der nächste Bericht sie nur noch auf 18,6 BIP-Prozent, obwohl die Politik sich nicht geändert hatte. Zwar war die Pensionsreform der vorigen Regierung unterwegs. Doch als der 2012 Ageing Report im Frühjahr 2012 erschien, war die Reform noch nicht ausdiskutiert, geschweige schon verabschiedet. Weitere drei Jahre danach zeichnete der 2015 Ageing Report die Aussichten noch besser und schätzte die Rentenausgaben für 2060 nur noch auf 13,4 BIP-Prozent.

Diesen Monat ist es wieder so weit, soll der 2018 Ageing Report herauskommen. Bekannt ist schon, dass darin die Aussichten für Luxemburg wieder etwas schlechter sind: 16 BIP-Prozent für die Renten 2060 (2,6 Prozentpunkte mehr als 2015 geschätzt, aber 2,6 Punkte weniger als 2012) und womöglich 17,9 BIP-Prozent im Jahr 2070. Diese Zahlen hat die Regierung für ihre Aktualisierung des Stabilitäts- und Wachstumsprogramms übernommen, die sie am Freitag vergangener Woche termingerecht nach Brüssel geschickt hat. Vorher hatte die Abgeordnetenkammer über das Programm diskutiert, im Anschluss an die Debatten zur Lage der Nation. Die nun wieder leicht schlechteren Rentenzahlen waren dabei aber auch für die CSV kein Thema, deren Spitzenkandidat in der Vergangenheit immer wieder hatte durchblicken lassen, um die Sozialkassen unabhängiger vom Wachstum zu machen, müssten „Reformen“ her, aber noch nicht gesagt hat, welche.

Aber wie schon gesagt, ist das mit den Ageing Reports so eine Sache. Sie aufzustellen, nennt die EU-Kommission selber im Vorwort zu jedem Report „a daunting task“, also eine einschüchternde bis abschreckende Aufgabe. Dazu stellt das EU-Statistikamt Eurostat jedes Mal ein Bevölkerungsmodell für die EU auf und rechnet dort ein, was sie an demografischen Daten aus den Mitgliedstaaten bekommt. Die Generaldirektion Wirtschaft der Kommission wiederum fertigt ein makroökonomisches Modell für die EU an und lässt dort einfließen, was sie an Volkswirtschaftsdaten aus den Mitgliedsländern gemeldet erhalten hat. Demografie- und Wirtschaftsmodell sind damit für alle Länder dieselben. Erst in einem dritten Schritt rechnen die zuständigen Behörden der EU-Länder aus, was das Demografie- und das Wirtschaftsszenarium für die öffentlichen Ausgaben bedeuten könnten. Die EU-Kommission warnt in jedem Bericht, das nicht als „Vorhersage“ aufzufassen, sondern nur als „Möglichkeit“.

So viel Understatement ist bemerkenswert, wenn andererseits mit den Rentenschätzungen Politik gemacht wird. Natürlich steht es Regierungen der Mitgliedstaaten frei, die Aussicht auf hohe Rentenausgaben doch als Vorhersage zu verstehen und durch beherzte politische Maßnahmen die langfristige implizite Staatsschuld abzubauen. In Luxemburg trug die Aussicht auf 24 BIP-Prozent Rentenausgaben im Jahr 2060 laut dem 2009 Ageing Report mit dazu bei, dass die vorige Regierung 2010 ziemlich plötzlich für die Pensionsreform mobil machte, nachdem LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo, aber auch CSV-Premier Jean-Claude Juncker sich vorher immer wieder gegen „Panikmache“ ausgesprochen hatten.

Dass die Ageing Reports nicht nur Auslöser für politische Entscheidungen sein können, sondern sogar die Berichte selbst nicht nur von mathematischen Prognoseversuchen durchdrungen sind, sondern auch von politischer Beeinflussung, zeigte das Luxemburg-Kapitel im 2012 Ageing Report. Die 2060 möglichen Rentenausgaben wurden darin im Vergleich zum 2009-er Bericht um 5,4 BIP-Prozent geringer veranschlagt. Das war durchaus erstaunlich, denn die demografischen und ökonomischen Aussichten sahen 2012 für Luxemburg weniger gut aus als 2009: Der Einwanderungsüberschuss werde etwas geringer ausfallen, womit weniger Leute im arbeitsfähigen Alter als Beitragszahler für die Rentenversicherung zur Verfügung stünden. Die BIP-Wachstumsrate werde sich längerfristig nicht bei zwei Prozent im Jahr einpendeln, sondern nur bei 1,7 bis 1,8 Prozent, der Produktivitätszuwachs nicht bei 1,7 Prozent, sondern nur bei 1,5 Prozent.

Wie sich daraus daraus kleinere Rentenausgaben ergeben würden, war nicht klar. In einer Fußnote zum 2012 Ageing Report stand jedoch, dass der die Pensionsreform einbezog. Zwar nicht die ganze, zum Beispiel nicht die „Pension à la carte“, die die Wahl geben würde, im Alter von 60 und nach 40 Beitragsjahren mit einer gegenüber 2012 kleineren Rente vorlieb zu nehmen, oder drei Jahre länger zu arbeiten und sie aufzubessern. Aber dass die Anpassung bestehender Renten an die Reallohnentwicklung suspendiert oder zumindest um die Hälfte gekürzt würde, sobald die laufenden Ausgaben der Pensionskasse die laufenden Einnahmen zu übersteigen drohen, floss in den 2012 Ageing Report ein, obwohl die Reform noch immer diskutiert wurde. Und obwohl damals die Einnahmen der Pensionskasse nach wie vor höher waren als ihre Ausgaben, wusste die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) schon, dass das Réajustement der bestehenden Renten nicht ganz suspendiert, aber halbiert werden würde, und konnte sogar schon sagen, wann: 2019.

Ob sich allein durch diesen Kniff um 5,4 BIP-Prozentpunkte kleinere Rentenausgaben für 2060 ergaben, ist nicht bekannt. Aber die Frage stellt sich, ob eine kleine Beeinflussung womöglich auch auf den 2015 Ageing Report wirkte – und vielleicht auch auf den, der demnächst erscheint. Vielleicht machen die anderen Mitgliedstaaten das ja auch, sobald ihre nationalen Behörden sich über die EU-Modelle beugen und sie konkretisieren?

Denn immerhin fiel der 2015 Ageing Report so gut aus, dass er der DP-LSAP-Grüne-Regierung half, ihre positive Botschaft vom Wachstum zu verbreiten, das „nachhaltiger“ und „qualitativer“ wäre: Der Report schrieb, der Einwanderungsüberschuss um jährlich 10 000 bis 11 000 Personen könne bis Mitte der 2030-er Jahre anhalten, das BIP-Wachstum nicht schon 2020 unter ein Prozent sinken, wie 2012 geschätzt, sondern erst 2050. Im Laufe der 2040-er Jahre könnte es eine Million Einwohner geben, im Jahr 2060 1,1 Millio-
nen. Wer Luxemburg mit Wissensökonomie und Weltraumbergbau nach vorne bringen will, musste sich durch diese Perspektiven bestätigt fühlen, und falls in Zukunft jeder Landesplanungsminister rechtzeitig Plans sectoriels vorlegt, um das Wachstum zu „managen“, könnte nicht viel schief gehen.

Die besseren Rentenaussichten im Bericht von 2015 waren für die Regierung auch ein Anhalt, rentenpolitisch noch nichts zu unternehmen. Denn ab 2019 die Anpassung der bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung tatsächlich zu halbieren, wie das im 2012 Ageing Report angekündigt wurde, wäre nicht ohne Gesetzesänderung möglich; das schreibt das Pensionsreformgesetz ausdrücklich vor. Es geht sogar noch weiter und stellt in Aussicht, drohen die laufenden Ausgaben der Rentenkasse höher zu werden als die Einnahmen, werde nicht nur die Reallohnanpassung der bestehenden Renten mindestens halbiert, sondern überdies die Jahresendzulage auf den Renten abgeschafft. Darüber ein legislatives Verfahren einzuleiten, käme einer kleinen Pensionsreform gleich. Es würde unweigerlich in den Konflikt mit Unternehmerverbänden und Gewerkschaften führen, und es könnte vor allem die Rentner verärgern: Von der Pensionsreform 2012 waren sie nicht unmittelbar betroffen, von Änderungen bei Jahresendzulage und Réajustement wären sie es. Die Änderungen ab 2019 wirksam werden zu lassen, hätte die Auseinandersetzung darüber gefährlich nahe an den Wahltermin rücken können.

Doch dank der Aussichten auf Wachstum schien das nicht nötig, und Ende 2016 ließ die Regierung es sich von der IGSS schriftlich geben, dass dank der guten Konjunktur und dem kräftigen Beschäftigungszuwachs wohl erst um 2023 damit zu rechnen sei, dass die Rentenkasse mehr ausgibt als sie einnimmt. So vom politischen Handlungszwang befreit, konnte selbst der vom Direktor der Handelskammer zum DP-Finanzminister und zum Politiker gewandelte Pierre Gramegna in seiner Haushaltsrede im Oktober vergangenen Jahres verkünden: „Diese Regierung will, dass auch die Generationen nach uns nicht weniger Anspruch auf eine Pension haben.“ Der OGBL, bei dessen Führung schon vor Jahren die Erkenntnis gereift war, 2012 am Ende Ja gesagt zu haben zur Pensionsreform, sei ein strategischer Fehler gewesen, hätte sich kaum mehr wünschen können.

Was aber nun, da der neue Ageing Report die Aussichten allem bisherigen Anschein nach weniger optimistisch zeichnen wird als sein Vorgänger? Bereits im November hatte die EU-Kommission die „Assumptions“ publik gemacht, die den neuen Modellen von Eurostat und der GD Wirtschaft unterliegen. In erster Linie sieht Eurostat die EU weniger immigrationsfreundlich als 2015. In jenem Jahr habe die Einwanderung eine „Spitze“ erreicht, mit der sich nun „statistisch schwierig umgehen“ lasse, heißt es technokratisch verklausuliert, um nicht sagen zu müssen, dass niemand weiß, wie es politisch weitergeht nach der Flüchtlingskrise und dem Rechtsruck in vielen Mitgliedstaaten. Auch die Wachstumsaussichten für BIP und Produktivität in der EU werden weniger optimistisch veranschlagt als 2015.

Werden die EU-Modelle auf Luxemburg angewandt, bliebe der Einwanderungsüberschuss zwar hoch, würde sich aber schon in den nächsten Jahren abschwächen und könnte in den 2020-er und 2030-er Jahren auf Niveaus von vor zehn Jahren sinken. Fortgeschrieben in die Zukunft würde daraus 2060 vielleicht der „Eine-Million-Einwohnerstaat“. Die Arbeitsproduktivität sieht die EU-Kommission in Luxemburg leicht stärker wachsen als 2015, wodurch im Gegensatz zum 2015 Ageing Report das BIP-Wachstum womöglich sogar bis 2070 nie unter ein Prozent sänke, aber auch nicht bis 2040 bei bis zu 2,8 Prozent bliebe, sondern nur bis Ende der 2020-er Jahre und sich dann abflachte.

Im Wachstumswahlkampf könnten solche Möglichkeiten, die keine Vorhersagen sind, sich natürlich benutzen lassen, um zu behaupten, es müsse doch nicht „sechs Mal die Stadt Luxemburg gebaut werden“, um die Einwohner des 1,2-Millionen-Staats unterzubringen, wie CSV-Fraktions-präsident Claude Wiseler das 2016 vorgerechnet hatte. Aber das wäre eine ähnliche Kaffeesatzleserei, wie sie für die Ageing Reports versucht wird, und für die Zukunft Luxemburgs mit seiner offenen Wirtschaft ist viel entscheidender, wie politisch gestaltbar die EU bleibt, und vielleicht auch, ob in den USA der Ausgang der Mid-term elections im November die Agenda des Präsidenten durchkreuzt oder stärkt.

Un dann ist da noch die als Tripartite-Gremium zusammengesetzte Renten-Arbeitsgruppe beim Sozialminister: Die IGSS hatte in ihrem Rentenbericht Ende 2016 nicht nur kurzfristig Entwarnung für die Finanzen der Pensionskasse gegeben, sondern auch längerfristige Betrachtungen angestellt. Minister Romain Schneider (LSAP) hatte erklärt, die Renten seien bis etwa 2043 „sicher“, weil erst dann die Rentenreserve aufgezehrt wäre. Doch das implizierte einerseits, dass sich bis dahin die Politik nicht ändern würde, andererseits jenes Wachstum, das der Ageing Report 2015 skizziert hatte – und damit, wenn man so will, dass der 1,2-Millionen-Staat nicht die Rettung wäre. Die IGSS hatte damals zum Teil radikale Vorschläge gemacht, um das Rentensystem bis 2060 abzusichern. Die Arbeitsgruppe soll sagen, was sie davon hält. Noch konsultiert sie sich, ist zu hören. Wer weniger Wachstum will, müsste umso mehr Rentenpolitik bieten. Falls der neue Ageing Report Recht behält mit seinen pessimistischeren Aussichten für die EU, erforderte das womöglich noch mehr Rentenpolitik. Kein Wunder dass die CSV, obwohl sie sich schon wieder an der Macht sieht, noch nicht gesagt hat, was sie will.

Peter Feist
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