ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Die Intimsphäre

d'Lëtzebuerger Land du 03.03.2023

Noch vor der Tripartite-Sitzung wollten die Gewerkschaften Premierminister Xavier Bettel sprechen. Um ihm zu erklären, wie wichtig ihnen die Anpassung der Einkommensteuertabelle an die Inflation ist.

LSAP-Präsidentin Françoise Closener sah das ähnlich. Sie wollte die liberale Koalition nach den Wahlen fortführen. „Wann ee sech an decisive Froen – an d’Steierfro ass sécher eng decisiv – eens gëtt“ (Radio 100,7, 23.2.23).

Die DP lehnte eine Anpassung der Steuertabelle ab. Finanzministerin Yuriko Backes wollte keine „strukturell Mesuren“ (RTL, 20.2.23). Die hießen früher „droits acquis“. In der Opposition waren sie der DP heilig wie die „pacta sunt servanda“.

Die Handelskammer klagt durch ihren Lautsprecher Idea: Eine Anpassung wäre für den Staat zu teuer (Décryptage N°27). Der Staat soll sparen: für die Mitglieder der Handelskammer. Sie legte am 9. Februar einen Forderungskatalog für die Wahlen vor. Darunter die Senkung „de l’impôt des sociétés (25%) vers la médiane européenne (21%)“. Plötzlich befürchtete Idea sogar eine Bevorteilung höherer Gehälter. Beim Spitzensteuersatz „Talente“ genannt.

CSV, LSAP und Gewerkschaften wollen Steuern zu einem Wahlkampfthema machen. Nicht als Mittel der Finanzierung, sondern der Umverteilung. Genauer: der Umverteilung der Einkommen, nicht der Vermögen. Sie sorgen sich um den sozialen Zusammenhalt. Sie warnen vor einer sich öffnenden Einkommensschere.

Umverteilung durch den Steuer- und Sozialstaat kommt immer zu spät. Sie ist eine sekundäre Verteilung. Sie kommt nachträglich, wenn die primäre Verteilung entschieden ist.

Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeiten neun von zehn Leuten gegen Lohn. Die Lohnmasse wird bei der primären Verteilung entschieden. Danach können bei der Sekundärverteilung die verfügbaren Einkommen der Lohnbezieher mit Steuern und Sozialleistungen etwas gesenkt oder erhöht werden – umverteilt.

Das Ergebnis der Primärverteilung lässt sich aus den Konjunkturprognosen des Statec erahnen. Vergangene Woche veröffentlichte es seine Projections à moyen terme 2023-2027. Für das bei der Europäischen Kommission einzureichende Stabilitätsprogramm.

Danach soll der Anstieg der durchschnittlichen Lohnkosten der Unternehmen von 5,9 Prozent dieses Jahr auf 5,1 Prozent nächstes Jahr zurückgehen. Bis 2027 soll er sich auf 2,2 Prozent jährlich verlangsamen. Ab nächstem Jahr wäre das weniger als das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.

Das verfügbare Realeinkommen pro Beschäftigten soll dieses Jahr um 1,5 Prozent steigen. Es soll nächstes Jahr um 1,6 Prozent schrumpfen und zwischen 2025 und 2027 um 0,3 Prozent steigen, also stagnieren. Trotz Kindergelds, Teuerungszulage und sonstiger Zuschüsse. Bei inflationsbereinigt rund drei Prozent Wirtschaftswachstum jährlich. Wer das Wirtschaftswachstum erarbeitet, bekommt wenig davon ab.

Selbstverständlich findet die Primärverteilung nicht zwischen Löhnen und Bruttoinlandsprodukt statt. Sondern zwischen variablem Kapital und Mehrwert: zwischen Löhnen und Profit samt Zinsen und Grundrenten. Doch die Entwicklung der Profite wird nicht unter den „[p]rincipaux agrégats macroéconomiques“ aufgeführt.

Der primären Verteilung wird überall mit Schweigen und Respekt begegnet. Sie wird zur Intimsphäre der Unternehmer gezählt. Wie der private Besitz der Fabriken und Büros, der ökonomischen Macht und Entscheidungsgewalt.

In der von Werkstoren und Bürotüren geschützten Intimsphäre wird der Neuwert der Produktion an Lohnmasse und Profit verteilt. Ist der Profitanteil gesichert, zerbrechen sich Politiker, Statistiker und Leitartikler den Kopf über die Umverteilung des Restbetrags: mittels Steuern und Sozialleistungen.

Die Verteilung ist kein Thema für den Wahlkampf. Auch wenn Lohnverhältnis und Warenwirtschaft der Menschen Leben bestimmen, als wären sie ihre Natur. Wahlen dürfen bloß über die Umverteilung entscheiden.

Romain Hilgert
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