Ein vertrockneter Strauß weißer Rosen, verwelkte rote Nelken am Wegesrand deuten stumm darauf hin: An diesem Ort ist ein Mensch gestorben, hier nahmen Freunde und Angehörige Abschied. An einem Bund hängt ein Schild, darauf hat jemand mit dem Kugelschreiber „Bekämpfe den Schmerz, aber nicht Dein Leben“ sowie eine Telefonnummer geschrieben. Wer anruft, bekommt keine professionelle Hilfe, sondern landet bei einer freikirchlichen Sekte. Auf die Frage, welche Beratung sie Lebensmüden zu bieten habe, bleibt der Mann in der Leitung wortkarg, der Chef sei grad nicht zu erreichen.
Wer dagegen die Nummer von SOS Détresse (45 45 45) oder der Ligue médico-sociale anruft, trifft auf Mitarbeiter, die zuhören und die geschult sind, verzweifelten Menschen aus der Sackgasse zu helfen. Dass Lockdown und Quarantäne zu erhöhtem Stress führen, hatte eine Umfrage des Statec und des Meinungsforschungsinstituts TNS Ilres ergeben: Jeder dritte Einwohner klagte über negative Folgen für seine Gesundheit durch das Coronavirus. Insbesondere Jüngere, Frauen und Bürger portugiesischer Nationalität berichteten von Ängsten, Sorgen, Stress und Anspannung. Eine Längsschnittstudie der Uni Luxemburg stellte ebenfalls deutlich erhöhte Depressivitätswerte und verstärkte Einsamkeitsgefühle während der Pandemie unter den rund 1 000 Luxemburger Befragten fest (siehe unten und Seite 4).
Corona macht Angst Das Notruftelefon SOS Détresse verzeichnete laut Leiter Sébastien Hay während des Lockdown ein Drittel mehr Anrufe als vor der Pandemie. Drehten sich im März etwas über ein Drittel der Anrufe ums das gefährliche Virus, war es einen Monat später jeder zweite Anruf. Oft ging es um die Folgen der Isolation, um Einsamkeit, weil mit dem vorgeschriebenen Social Distancing die täglichen Kontakte auf ein Minimum reduziert waren. Manche hatten Schwierigkeiten, sich im neuen Alltag zurechtzufinden, andere fürchteten sich oder Familienmitglieder anzustecken. Bei manchen war die seelische Not so groß, dass sie keinen Ausweg wussten.
„Wir haben immer wieder Anrufe von Menschen, die Suizidgedanken haben oder suizidgefährdet sind. Eine außergewöhnliche Situation, wie wir sie mit der Coronakrise erleben, bringt natürlich viel Stress, Sorgen, Ängste und größere Änderungen mit sich“, antwortet Sébastien Hay. „Wir hören zu, versuchen Empathie zu zeigen.“ Wo das nicht hilft, verweisen die SOS-Détresse-Mitarbeiter/innen auf andere Notdienste. Kinder und Jugendliche können beim Kanner- a Jugendtelefon unter 11 61 11 anrufen.
Ob während der Corona-Krise die Zahl Lebensmüder im Vergleich zum Vorjahr anstieg, ist unklar: Die Statistik, die das Statec liefert, stammt von 2017 und erfasst nur Suizide (66), nicht aber die zehn- bis 20-mal höhere Anzahl der Suizid- Versuche. Für die Folgejahre müsse man sich ans Gesundheitsministerium wenden. Für die Monate März, April und Mai 2020 sind dort insgesamt 14 Suizide gemeldet, allerdings sind die Hintergründe unbekannt.
Auch die Polizei, die kommt, wenn eine/r Tote/r im öffentlichen Raum gefunden wird, kennt die genauen Zahlen nicht: „Im privaten Raum (etwa bei jemanden daheim) ist die Polizei nicht immer notwendig“, heißt es von der Polizei-Pressestelle. Droht jemand in der Öffentlichkeit, sich umzubringen, wird meist die Polizei gerufen. Grundsätzlich sind die Beamten geschult, in Extremsituationen einzugreifen. Bleibt Zeit und erfordert es die Situation, werden Spezialkräfte hinzugerufen. So geschehen am 2. Juni, als in der Hauptstadt ein älterer Mann drohte, sich das Leben zu nehmen. Weil er eine Waffe hatte, waren zudem Hundestaffel, Hubschrauber und Rettungskräfte vor Ort. Mehrere Versuche, zu vermitteln, konnten den Mann dennoch nicht von seinem Vorhaben abbringen. Wie sich herausstellte, litt der Mann an Depressionen und hatte mehrfach mit dem Suizid gedroht.
Distanz verstärkt Einsamkeit „Viele Patienten, die zu uns kamen und die versucht haben, sich während der Pandemie das Leben zu nehmen, hatten eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen“, bekräftigt Paul Hedo. Der Psychiater arbeitet im CHL und hat auch während der Krise psychisch Kranke betreut, darunter Menschen, die schon vor der Corona-Pandemie wegen Angststörungen oder Depressionen in Behandlung waren. Aber auch gänzlich Unbekannte. „Vielleicht waren für sie plötzlich Druck und Angst zu groß geworden, dass sie es nicht mehr ausgehalten haben“, sagt er.
Das CHL ist eines von vier Krankenhäusern mit einer ambulanten Psychiatrie im Land. Im Lockdown, von Mitte März bis Anfang Mai, hatten sich die Kliniken umorganisiert, um auch Covid-19-Patienten aufnehmen zu können; das betraf auch die psychiatrischen Abteilungen. „Die Priorität galt der Versorgung von Covid-19-Kranken. Wir wussten ja zunächst nicht, ob hier italienische Zustände drohten.“ Im CHL wurde ein Stock für Covid-Kranke geräumt, die offene psychiatrische Abteilung für diese Zeit in die Eicher Klinik verlegt. Für Hedos Patienten, die von der geschlossenen Abteilung in die offene verlegt wurden, hieß das: umziehen und zudem den Arzt oder die Ärztin wechseln; das ist bei psychischen Erkrankungen nicht ohne, denn die persönliche Bindung zwischen Arzt und Patient ist für den Erfolg einer Behandlung wesentlich.
Auch in der Psychiatrie galten und gelten die Regeln des Social distancing. „Wir haben Patienten per Video beraten“, so Hedo. Ein Psychiater der Kirchberg-Klinik musste eine Frau mit extremen Angstzuständen, die in einem Hotel im Ausland festsaß und wegen des Lockdown nicht ausfliegen konnte, per Telefon beruhigen, was ihm schließlich auch gelang. Entsprechend wenig Verständnis hatten die Psychiater, als die Krankenkasse entschied, die Kosten für telefonische Beratungen nicht zu übernehmen und das Honorar für Visiokonsultationen niedriger anzusetzen als für Beratungen in Gegenwart des Arztes. Gleichwohl ersetzt eine Video-Konsultation nicht die persönliche Beratung.
Dass seine Station besonders viele Suizidgefährdete in den vergangenen Monaten betreut hätte, kann Paul Hedo nicht bestätigen. Aus der Forschung ist belegt, dass psychisch Kranke riskieren, stärker unter Isolation und Lockdown zu leiden. „Sie zeigen tendenziell mehr Angststörungen und mehr depressive Symptome als die allgemeine Bevölkerung“, erklärt der Psychiater. Nicht jede Angst ist aus der Luft gegriffen, sondern manche haben ganz reale Ursachen: beispielsweise wenn jemand wegen Corona weniger Lohn bekommt oder seine Arbeit verloren hat.
Kollaps mit Verzögerung „Es gab Kranke, die zeigten eine erstaunliche Resilienz“, erzählt Hedo. Sie verkrafteten die mit den Hygienemaßnahmen einhergehenden Freiheitsbeschränkungen vergleichsweise gut: Auf der psychiatrischen Station durften sie zunächst keinen Besuch empfangen, viele konnten ihre Angehörige nicht oder selten sehen und waren abgeschottet. Auch Spaziergänge im Freien, in Begleitung eeines Pflegers, waren in der Anfangszeit nicht erlaubt oder nur reduziert möglich. „Bei manchen Patienten hat sich der Zustand aufgrund der Isolierung deutlich verschlimmert.“ Manche haben, obwohl sie Medikamente nehmen, damit gewartet, in die Sprechstunde der Klinik zu kommen. Bis ihr Zustand sich derart verschlechterte, dass sie stationär behandelt werden mussten. „Die einen taten dies aus humanistischen Gründen, weil sie die Infrastrukturen nicht belasten wollten. Andere, weil sie extreme Angst hatten, sich mit dem Virus anzustecken.“ Erst als nichts mehr ging, wurde der Notruf gewählt. „Da waren mehrere schwere Suizidversuche dabei“, sagt Hedo rückblickend. Für Covid-19-Überlebende, die mit psychosomatischen Spätfolgen kämpfen, wird das CHL übrigens ein eigenes Angebot auf die Beine stellen.
Die Kollegen der Robert-Schuman-Krankenhäuser berichten von ähnlichen Erfahrungen. „Die ersten zwei Wochen war es auf der Station geradezu gespenstisch leer“, erinnert sich Jean-Marc Cloos, medizinischer Leiter der psychiatrischen Dienste der Schuman-Gruppe. „Im April hat der Betrieb dann wieder angezogen.“ Weil die Angst und das Leiden zu groß wurden, oder weil sich die ersten vor die Tür trauten. „Wir hatten Psychose-Patienten, die dekompensiert haben, weil sie abgeschottet zuhause ihre Medikamente nicht genommen hatten“, berichtet der Psychiater. Auch Patienten mit Suchterkrankungen kamen im April und im Mai verstärkt in die Notaufnahme. „In Krisenzeiten spielen erhöhter Alkoholkonsum und andere Suchterkrankungen als Ventil natürlich eine Rolle“, so Cloos, der an sich selbst beobachtet, während des Lockdown mehr Alkohol getrunken zu haben. „Kritisch wird es, wenn der Konsum zur Sucht wird.“ Weil Selbsthilfegruppen wegen des Distanzgebots nicht stattfinden konnten und Entgiftungen in der ersten Zeit nicht im selben Umfang angeboten werden konnten, herrscht auf der Suchtstation derzeit großer Andrang.
Viele Suchtkranke haben zugleich psychische Probleme. „Die vorgelagerten Strukturen haben eine beachtliche Vorarbeit geleistet und eine gute Notversorgung gewährleistet“, berichtetet Cloos. Einige Obdachlosen landeten gleichwohl in der Klinik, etwa jener Covid-19-Positive, der sich zunächst geweigert hatte, sich medizinisch behandeln zu lassen, und über den sich ein Streit entzündete, ob die Behörden Covid-19-Positive zwangsweise in die Psychiatrie einweisen können sollten. „Bei uns blieb er freiwillig“, unterstreicht Cloos.
Insgesamt habe die Umstellung von Normalbetrieb auf den Covid-19-Notbetrieb gut funktioniert, so das positive Fazit; Closs lobt das „gute Zusammenspiel im Krankenhaus“ und mit externen Partnern wie etwa der Ligue. Die sozialmedizinische Liga betreut die Online-Plattformen www.prevention-suicide.lu und www.prevention-depression.lu und war, neben Angeboten der Regierung und SOS Détresse, eines von mehreren Rund-um-die Uhr-Angeboten für Menschen in Not. Die Hotline Psy war während des Lockdown zwischen 7 und 23 Uhr zu erreichen, am Telefon standen Psycholog/innen und Therapeuten Rede und Antwort: Mit insgesamt fast 650 Anrufen bei durchschnittlich 23 Anrufern täglich (zu Stoßzeiten um die 40) hielt sich die Inanspruchnahme allerdings in Grenzen, so dass die Hotline Ende April eingestellt und die Anrufer auf die klassischen Dienste verwiesen wurden.
Möglicherweise ist das aber verfrüht: Experten wie der Psychologe Claus Vögele von der Uni Luxemburg warnen: „Leider ist zu befürchten, dass sich später noch psychologische Folgen zeigen können.“ Etwa wenn staatliche Hilfsmaßnahmen für Familien und Unternehmen auslaufen und die Arbeitslosigkeit weiter steigt. Der Professor für klinische Ppsychologie leitet eine Längsschnittstudie zu den psychischen Folgen der Corona-Pandemie, in dem die psychologischen Effekte von Covid-19 in sechs Ländern miteinander verglichen werden. Aus den Daten der ersten Untersuchungsphase, die bis Ende April dauerte, lässt sich ablesen: Einsamkeit und Depressivität haben vielen Menschen im Lockdown zugesetzt.
Was die Wissenschaftler/innen überrascht hat: Während in anderen Ländern eher Jüngere und Ältere mit Niedergeschlagenheit, Ängsten und Sorgen auf den Lockdown reagierten, waren es in Luxemburg eher Menschen mittleren Alters und ohne Beziehung. Noch etwas hat das Team um Claus Vögele festgestellt: Es gibt offenbar Menschen, die eine höhere Widerstandskraft als andere haben, um eine solche Krise zu bewältigen. Deren Resilienz es augenscheinlich erlaubt hat, die sozialen Distanzierungsmaßnahmen und die damit verbundene Einsamkeit besser zu verkraften als andere. „Von ihnen können wir lernen, wie Menschen am besten gesund durch solche Extremsituationen kommen“, betont der Psychologe.
Dem Burn-out vorbeugen
Die Hotline der Regierung richtete sich auch an das Gesundheitspersonal, das an vorderster Linie im Kampf gegen das Virus stand und noch steht: Ärztinnen, Krankenpfleger, Psychiater, Putz- und Desinfektionsteams; sie wurde aber kaum von ihnen genutzt. Das mag daran liegen, dass die Spitäler eigene Hilfsdienste mit Psychologinnen und Psychiatern für ihr Gesundheitspersonal eingerichtet haben. In den Krankenhäusern der Robert-Schuman-Gruppe wurde das Angebot laut einem internen Bericht „sehr schwach“ nachgefragt. Hauptkoordinator Jean-Marc Cloos erklärt sich dies mit möglicherweise verspäteten Effekten durch den großen Druck, unter dem das Gesundheitspersonal in den ersten Wochen und Monaten nach Ausbruch der Pandemie stand: Während des Lockdown habe das Personal alle Hände voll zu tun hatte und im Stress schlichtweg keine Zeit gehabt, um sich um sich selbst zu kümmern. „Oft zeigen sich Anzeichen von Burn-out mit einer zeitlichen Verzögerung, wenn die Krisensituation unter Kontrolle ist und man dem Körper eine erste Ruhepause gönnt“, sagt Cloos. Angststörungen durch Dauerbelastung sowie ein erhöhtes Risiko für einen Burn-out seien für Gesundheitsberufe ohnehin ein Thema. „Irgendwann geht es nicht mehr.“ Es sei daher wichtig, „die Situation weiter im Blick zu haben, über die unmittelbare Krise hinaus“. Im CHL wurden die psychologischen Angebote nach Aussagen von Psychiater Paul Hedo vom Personal gut genutzt. In einem Drei-Stufenkonzept konnten Mitarbeiter/innen wählen, ob sie eher Online-Beratung wünschten, sich in einem dafür eingerichteten Café bien-être mit Kolleg/innen austauschen oder aber im persönlichen Gespräch von Therapeut/innen beraten lassen wollten. „Wir hatten etwa 150 Besucher im Café. Insgesamt haben rund 500 Mitarbeiter unser Angebot genutzt“, freut sich Paul Hedo. Nach den Sommerferien soll es mit dem Gesprächs-Café weitergehen, vielleicht in etwas abgewandelter Form, stärker auf das Personal zugeschnitten, das direkt in Kontakt mit Covid-19-Patient/innen steht.