Eine Analyse des Coronaverlaufs an den Schulen zeigt: Im Rückblick hat DP-Erziehungsminister Claude Meisch das Meiste richtig gemacht

Kontrolliertes Risiko

d'Lëtzebuerger Land vom 21.08.2020

„Weiterhin totale Intransparenz der Regierung“, titelte die Alternativ-demokratische Reformpartei (ADR) angriffslustig vergangene Woche. Soeben hatten Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) und Schulminister Claude Meisch (DP) Journalist/innen die Studie L’école face à la Covid-19 au Luxembourg zum Verlauf des Corona-Virus’ in hiesigen Schulen vorgestellt. 49 Kinder haben sich, so die von Gesundheits-, Hochschulministerium und Uni Luxemburg gemeinsam verantwortete Zwischenanalyse, in der Schule angesteckt, das heißt: in der Klasse, auf den Gängen, auf dem Pausenhof oder sonst im Schulgebäude.

Das habe nach dem 23. Juli noch ganz anders geklungen, erinnert die ADR hämisch in ihrem Pressekommunikee. Damals hatte der Erziehungsminister, konfrontiert unter anderem vom Land zu mehreren Fällen Covid-19-positiv getesteter Sekundarschüler, wiederholt behauptet, keine der Ansteckungen mit dem gefährlichen Virus seien in der Schule geschehen.

Angreifbare Aussagen Die Empörung der ADR ist dennoch irreführend. Es stimmt, die 20-seitige Studie, die erstmalig das reale Infektionsrisiko an hiesigen Grund- und Sekundarschulen unter die Lupe genommen hat, entlarvt die früheren Äußerungen des Schulministers als das, was sie sind: kalkuliertes Herunterspielen von unbequemen Fakten durch einen Politiker, der Sorge hat, in der Beliebtheitsskala (weiter) abzurutschen. Dass sich die von Meisch anfänglich verbreitete Null innerschulischer Infektionen nicht würde halten können, wurde anhand von Augenzeugenberichten rasch deutlich: Dem Land wurden Anfang Juli vier positiv getestete Schüler in einem Klassenverbund mitgeteilt, die zu einer Clique zählten. Meisch aber hielt stoisch am Bild einer nahezu ansteckungsfreien Schule fest. Und heute haut ihm die Opposition seine Beschwichtigungstaktik um die Ohren.

Auf den ersten Blick muten 49 infizierte Schüler gegenüber nahezu keinem innerschulischen Fall in der Tat viel an. Der Studie zufolge haben 29 Personen von insgesamt 424 positiv Gemeldeten 49 andere Schüler und Lehrer in der Schule angesteckt. Sekundärfälle nennen das die Wissenschaftler.

Und trotzdem trifft das Lob von Studienleiter Paul Wilmes, Professor für Systemökologie am Luxembourg Centre for Systems Biomedicine und Mitglied der Arbeitsgruppe Research Luxembourg, zu: „Die Studie beweist im Grunde, dass wir die Infektionen in den Schulen sehr gut eingefangen und unterdrückt bekommen haben.“ „Wir“ meint in diesem Fall vor allem die Gesundheitsinspektion, die das Tracing von positiv Getesteten verantwortet, also ihre Kontakte aufspürt, um weitere Ansteckungen aufzudecken und gegebenenfalls in Isolation oder Quarantäne zu schicken. So werden frühzeitig Infektionsketten unterbrochen.

Effizientes Krisenmanagement Das scheint den Verantwortlichen dank konsequentem Monitoring durch massiv ausgedehnte Tests sowie einer strengen präventiven Quarantänepolitik weitgehend gelungen zu sein. 2 721 Lehrer und Schüler wurden zwischen dem 9. März und dem 26. Juli in Quarantäne gesetzt. Längere Infektionsketten gab es in den Schulen keine. Der Streit, den Paulette Lenert und Claude Meisch kürzlich um Sars-CoV-2-Cluster austrugen, ist vor allem semantischer Natur: Zwar wurden an einigen Schulen Jugendliche derselben Lerngruppe angesteckt, aber nie mehr als vier – in der Statistik gelten drei Personen und mehr als Cluster. Ein regelrechter Herd konnte während der 19 erfassten Wochen in keiner Schule ausgemacht werden. Trotz massiv ausgedehnter Tests. Die 49 Fälle, die sich in der Schule angesteckt haben, sind gemessen an insgesamt 424 positiv getesteten Lehrern und Schülern nicht viel; sie entsprechen rund 11,5 Prozent.

Kontrolle ohne neuen Lockdown Die Luxemburger Wissenschaftler haben auch die Übertragungswege untersucht. Nicht immer wurden sie fündig. Vor allem bei den Erwachsenen war es schwieriger, die Quelle ihrer Ansteckung zweifelsfrei zu bestimmen. „Das liegt auch daran, dass Erwachsene generell mehr soziale Kontakte haben. Während Kinder eher auf die Schule und Zuhause beschränkt sind“, sagt Paul Wilmes. Bei ihren Befragungen fanden die Mitarbeiter der Gesundheitsinspektion heraus: Die meisten Ansteckungen geschahen in der Familie. Das deckt sich mit Erkenntnissen aus anderen Ländern. Im April hatten chinesische Forscher die Rolle von Kindern beim Infektionsgeschehen untersucht. Für die in Shanghai und Wuhan durchgeführte Studie, deren Ergebnisse das Science-Magazin veröffentlichte, wurde das Kontaktverhalten von Patienten analysiert. Demnach hat ein Kind nur ein Drittel des Risikos eines Erwachsenen, sich mit dem Virus zu infizieren. Eine jüngere vorläufige Untersuchung mehrerer Unikliniken in Baden-Württemberg kommt zum gleichen Ergebnis: Kinder steckten sich seltener mit dem Coronavirus an als ihre Eltern.

Die Vorsicht vom Beginn der Pandemie, als die Regierung Mitte März den Notstand ausrief und sämtliche Schulen schloss, die Wirtschaft bis auf wichtige Branchen lahmlegte und die Bevölkerung in die eigenen vier Wände schickte, scheint richtig.

Damals wussten weder Forschung noch Politik über das Virus und seine Übertragungswege Bescheid, die Angst, Schulen könnten zu Corona-Hotspots und Kinder zu Superspreaders werden und insbesondere Risikogruppen, wie Ältere und Pflegebedürftige, anstecken, war theoretisch naheliegend. Die Politik wollte kein Risiko eingehen. Mit dem Lockdown wurde ein anfänglich sich exponenziell entwickeltes Infektionsgeschehen eingehegt und eingedämmt. Im Rückblick aber zeigt sich, und die Schulstudie belegt das, dass der Infektionsverlauf, ohne einen Impfstoff oder ein Medikament gegen Sars Cov-2 zu haben, auch ohne Lockdown einigermaßen wirkungsvoll kontrolliert werden kann.

Dabei sind die Schulen nicht von der Restbevölkerung losgelöst zu betrachten: Während der ersten Welle waren es in den Schulen mit 34 positiv getesteten Fällen in der 13. Woche gegenüber 942 in der übrigen Bevölkerung vergleichsweise wenige Infektionen. Das entspricht rund 3,5 Prozent. In der 30. Woche, da war die zweite Welle voll im Gange, hatte sich das Bild gewandelt: Da wurden 120 Schüler und Lehrer positiv auf das Sars-CoV-2 getestet, das entspricht rund 22 Prozent. Allerdings: In der Zeit wurde auch deutlich mehr getestet. Der Infektionsverlauf in den Schulen ähnelt dem in der Gesellschaft; je mehr Menschen insgesamt positiv auf das Coronavirus getestet wurden, umso mehr positiv Getestete verzeichneten auch die Schulen. Kinder und Jugendliche besuchen neben dem Unterricht Freunde, mit denen sie spielen. Sie sind daheim, wo sie sich anstecken können und Gefahr laufen, das Virus später in die Klasse zu tragen. Auf den ersten Blick scheinen Kinder und Jugendlichen somit ähnlich empfänglich für das Virus zu sein wie Erwachsene.

Kaum Covid-19-kranke Kinder Schaut man jedoch in die Krankenhäuser, bewahrheitet sich das pessimistische Bild nicht: In Luxemburg waren von 519 positiv gemeldeten Kindern und Jugendlichen nur zwölf ins Krankenhaus eingeliefert worden. Von den Null- bis Neunjährigen war kein Kind auf der Intensivstation und nur zwei der zwischen Zehn- und 19-Jährigen. Auch gab es hierzulande keinen einzigen Todesfall in der Altersgruppe. Die Hospitalisierung von Jugendlichen und Kindern unter 18 Jahren machte in diesem Zeitraum zwischen dem 17. März und dem 15. April ein Prozent aller Krankenhaus-Patienten aus (neun PCR-positiv bestätigte Fälle / 967 Hospitalisierungen).

Von diesen Kindern hatten einer Analyse des Krankenhauses CHL zufolge vier (40 Prozent, Durchschnittsalter acht Monate) leichte bis milde Symptome (Krankenhausaufenthalt wegen neurologischer Komorbidität bei zwei) und sechs (60 Prozent) schwerere Erkrankungen. Zwei Kinder (20 Prozent der Gesamtzahl, acht und elf Jahre) wurden aufgrund von Herzinsuffizienz (Myokarditis und atypisches Kawasaki-Syndrom) auf die Intensivstation eingewiesen, benötigten aber keine invasive Beatmung und wurden nach einer Woche Aufenthalt nach Hause entlassen.

Insgesamt wurde in den letzten zwei Monaten in der Kannerklinik des CHL keine erhöhte Hospitalisierungsrate beobachtet und keine im Krankenhaus erworbene Sars-CoV-2-Infektion identifiziert. Die Situation an der Kannerklinik in Luxemburg ist folglich mit den Beobachtungen in anderen Ländern vergleichbar: Wenn Kinder und Jugendliche infiziert seien, zeigten sie häufiger als Erwachsene keine oder nur milde Krankheitssymptome; schwere Symptome treten nur selten auf, und die Letalität – also die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben – ist bei ihnen äußerst gering.

Das beruhigende Zwischenfazit lautet daher: Die Schule ist nicht der Ort, wo das Gros der Ansteckungen geschieht. Eher lässt sch dort das Infektionsgeschehen, bei Einhaltung der sanitären Maßnahmen und einer konsequenten Quarantänepolitik, recht gut steuern. Völlige Entwarnung gibt es gleichwohl nicht: Für die Kontrolle des Infektionsgeschehens stellt der eher asymptomatische beziehungsweise sehr milde unspezifische Verlauf bei Kindern und Jugendlichen eine Herausforderung dar, denn Infektionen können sich (ohne Testen) so unbemerkt ausbreiten.

Ausnahmen der Regel Davon können Israel und Frankreich ein Lied singen. In Israel standen die Vorzeichen eigentlich zunächst günstig. Die Infektionen hatten sich nach einer strikten Lockdown-Politik deutlich nach unten entwickelt. Dann aber öffnete die neue Regierung unter Benjamin Netanjahu die Schulen wieder – verfrüht und mit drastischen Folgen. Der Fall des Gimnasia Rehavia machte Schlagzeilen und gilt weltweit als einer der größten Corona-Ausbrüche in einer Schule. Wenige Tage nachdem sich zwei Schüler infiziert hatten, erkrankten rund 150 Schülerinnen und Schüler sowie 25 Lehrkräfte. Insgesamt steckten sich 260 Personen – darunter Verwandte und Freunde – in dem 1 200 Schüler zählenden Gymnasium an. Ursache für den Massenausbruch: In Israel sind die Klassen generell durchschnittlich sehr viel größer und die Räume kleiner; es drängen sich mehr Schüler in einem Klassensaal. Wegen einer Hitzewelle hatten zudem Lehrer die Fenster geschlossen und die Klimaanlage angeworfen; die Schüler wurden von ihrer Maskenpflicht entbunden.

In einer Sekundarschule im französischen Department Oise hatte sich der Ausbruch ebenfalls hochgeschaukelt: Dort hatten sich einer Studie zufolge binnen fünf Wochen 38,5 Prozent der Schüler, 43 Prozent der Lehrer und 60 Prozent der sonstigen Mitarbeiter angesteckt. Hier erfolgten die Ansteckungen aber vor dem Lockdown; die Schule hatte (noch) keine Schutzvorkehrungen getroffen.

Schutz bleibt wichtig Denn das ist die entscheidende Prämisse: Die Forscher der Luxemburger Analyse haben einen Infektionsverlauf unter relativ strikt eingehaltenen Hygienemaßnahmen gemessen. In der Studie heißt es ausdrücklich, das Risiko der schwachen innerschulischen Übertragung könne „nicht losgelöst von den strengen Maßnahmen“ betrachtet werden.

Die waren vorbildlich: In Luxemburg hat jedes Kind ab sechs Jahren in der Grundschule und jeder Jugendlicher auf der Sekundarstufe eine Maske oder einen Schal bekommen, um sich gegen Viren in der Luft zu schützen und war zumindest bis Anfang Juli gehalten, diese im gesamten Gebäude, auf den Gängen und im Hof zu tragen. Nur im Klassensaal durfte die Maske abgenommen werden – sofern der Sicherheitsabstand von anderthalb bis zwei Metern eingehalten wurde.

Technisches Personal hatten in allen Schulgebäuden über Land Desinfektionsmittel und Seife verteilt sowie meterweise Pfeile und Schilder geklebt, um mit Einbahn-Leitsystemen zu verhindern, dass sich Schüler in den Gängen begegneten, sondern zügig ihr Klassenzimmer aufsuchen und verlassen konnten. Zweier- und Gruppentische wurden getrennt, voneinander abgerückt und Plexiglasabsperrungen verstärkten den Schutz des Lehrers vor der Klasse zusätzlich. Denn es ist der Lehrer, der durch lautes Reden und Rufen potenziell am ehesten Viren verteilen kann. Das Lehrpersonal wachte derweil darüber, dass Schüler die Hygieneregeln einhielten.

Was heißt das für die Rentrée im September? Die alte Normalität, die Claude Meisch beschwört, wird es auch im Herbst höchstwahrscheinlich nicht geben. Das Virus ist weiterhin da, die Gefahr, sich in Menschengruppen anzustecken, bleibt. Trotzdem setzt Meisch darauf, den Unterricht so normal wie möglich stattfinden zu lassen. Dafür will er, wie er dem Land im Juli mitteilte, ein Stufenmodell mit unterschiedlichen Infektionsszenarien entwickeln. Eine wichtige Aufgabe wird daher sein, nach den Sommerferien Schüler und Lehrer intensiv zu testen, um sich ein Bild der Lage zu machen und sicherzustellen, dass sie das Virus nicht aus Risikogebieten mitgebracht haben. Paulette Lenert kündigte am Freitag solche verstärkten Tests zur Rentrée an.

Details hat Meisch bislang nicht preisgegeben, aber es läuft auf mehrere Stufen hinaus, mit jeweils unterschiedlich strengen Hygienemaßnahmen, angepasst an das jeweilige Infektionsgeschehen vor Ort. Das strengste Szenario wäre möglicherweise ein Unterricht mit Maskenpflicht und Sicherheitsabstand, ein gelockertes vielleicht nur mit zwei Metern Abstand, ohne Maske. Auf der Pressekonferenz sagte Meisch, Schulen sollten die Maßnahmen flexibel handhaben können. Tatsächlich hatten Lyzeen, als Meisch Anfang Juli mit der Trennung in A- und B-Gruppen auch die allgemeine Maskenpflicht in den Schulen aufgehoben hatte, auf Wunsch ihrer Schulkonferenz an der Maske festgehalten. Für einen optimalen Schutz spielen weitere Faktoren eine Rolle: Nicht jede Schule kann überall einen Abstand von zwei Metern zum Nachbarpult garantieren, andere haben Fenster, die sich nicht oder nur teilweise öffnen lassen. Wieder andere haben Treppenaufgänge, in denen sich schon zu normalen Nicht-Corona-Zeiten Schüler aneinander vorbeidrängten. Im Corona-Szenario gilt es, diese potenziellen Gefahrenquellen frühzeitig zu entschärfen. Flexible Lösungen könnten in Form zeitlich verlegter Pausen geschehen oder mehr Unterricht im Freien.

The new normal Eine interministerielle Arbeitsgruppe mit Beamten aus dem Gesundheits- und aus dem Erziehungsministerium ist dabei, diese Informationen zu sammeln und daraus praktikable Schutzvorgaben und -empfehlungen für den Schulbetrieb nach den Ferien abzuleiten. Denn eines hat Minister Claude Meisch unmissverständlich mit auf den Weg gegeben: Auch die Nebenfächer wie beispielsweise Sport, der wegen der körperlichen Nähe unter Corona-Gesichtspunkten als kritisch gilt, sollen nach den Sommerferien wieder unterrichtet werden.

Kinder haben ein Recht auf Bildung und das bedeutet bestmögliche pädagogische Förderung. Das Homeschooling kann während des Lockdown dafür sorgen, dass Schüler nicht komplett den Anschluss verlieren, aber es ersetzt keinen Präsenz-Unterricht. Besonders schwache Schüler und solche aus ärmeren Elternhäusern laufen Gefahr, durch die Pandemie abgehängt zu werden: weil ihnen die Ressourcen daheim fehlen, um in Ruhe zu lernen. Und weil beim Homeschooling das Lernen mehr als sonst vom Elternhaus abhängt: Wer keinen Vater oder keine Mutter hat, die bei den Hausaufgaben helfen können, ist im Nachteil. Da trifft es sich gut, dass die kommenden zwei Pisa-Studien aufgrund der Coronakrise um ein Jahr verschoben und die nächsten Tests nicht 2021, sondern 2022 stattfinden sollen.

Ganz zu schweigen von der zusätzlichen Belastung, die der durch Homeschooling und Quarantäne verursachte Unterrichtsausfall für Eltern, und insbesondere Mütter bedeutet. Ob der Lernstoff aufgeholt werden kann, wird auch davon abhängen, wie gut es den Schulen gelingt, trotz Corona regulär zu unterrichten – und den Stundenplan durch gezielte Unterstützungsmaßnahmen zu ergänzen. Einen zweiten Lockdown der Schulen kann sich niemand leisten.

Ines Kurschat
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