Gängige Schönheitsideale sind für Beton-Baumeister kein Problem. Rudolf Guyer zum Beispiel hat die graue Masse für Bergstationen, Schulen und Kirchen genutzt. Als sein Triemli-Wohnturm in Zürich zum „hässlichsten Haus der Schweiz“ gewählt wurde, blieb er gelassen: „Dass Laien das Gebäude hässlich finden, ist mir egal. Hauptsache, den anderen Architekten gefällt es.“
„Für viele Architekten ist Beton ein Fetisch; die Gefühle der breiten Öffentlichkeit gehen von Indifferenz und Abscheu bis zu ethischen Einwänden“, sagt die Architekturhistorikerin Sarah Nichols. Sie hat die erste Ausstellung zur Geschichte des Betons in der Schweiz kuratiert. Der Anlass für die Retrospektive im Architekturmuseum in Basel sind nicht ästhetische Kontroversen, die Stahlbeton schon seit seiner Einführung im 19. Jahrhundert begleiten. Sondern aktuelle Umweltsorgen, die „den Status Quo des Bauens nicht mehr haltbar“ machen: Der meistgebrauchte Baustoff ist ein Haupt-Klimafeind. Allein die Rohzement-Produktion verursacht mehr CO2-Emissionen als alle Flugzeuge und Schiffe zusammen.
Die Ausstellung will „einen genaueren Blick darauf werfen, was Beton ist und war, um darüber nachzudenken, was er noch sein könnte“. Für die Gemeinschaftsproduktion mit den Hochschulen ETH Zürich, EPF Lausanne und USI Lugano wurden in fünf Jahren Vorbereitungszeit mehr als 15 000 Archivalien gesichtet. Davon werden nun rund 300 Originalzeichnungen, Modelle, Fotos und andere Dokumente in einem als Baustelle gestalteten Parcours gezeigt. Zu den überraschenden Fundstücken zählt gleich am Eingang Opération Béton von Jean-Luc Godard: Der später berühmte Regisseur hatte 1955 im Wallis beim Bau des Staudamms Grande Dixence gejobbt – und begeistert von diesem gigantischen „Organismus“ seinen allerersten Film gedreht.
Die Schweizer haben zu dem robusten, fast beliebig formbaren Baumaterial ein besonderes Verhältnis: In der Welt-Rangliste kommen sie auf Platz fünf; kein anderes europäisches Land verbraucht pro Kopf der Bevölkerung so viel Zement – doppelt so viel wie zum Beispiel Franzosen oder Italiener. Verantwortlich ist dafür vor allem die radikale Modernisierung seit den 1960er Jahren: Brücken, Tunnel und Lawinengalerien erschließen die Alpen; viel Beton steckt in Autobahnen, Kernkraftwerken und anderer Infrastruktur. Geprägt wird das Land auch von über 200 Bahnhöfen und Stellwerken des SBB-Hausarchitekten Max Vogt. Nicht zu vergessen die „Toblerone“-Panzersperren und Bunker, bei denen Nichols zuweilen „ein perverses Verhältnis von Material und Raum“ sieht.
Denkmalschützer haben mit dem „béton brut“ von Le Corbusier und anderen brutalistischen Architekten weitgehend Frieden geschlossen. Der Schweizer Heimatschutz hatte zum Beispiel 1928 vergeblich gegen den Bau des „architektonisch dilettantischen“ und „grundhässlichen“ Goetheanums in Dornach bei Basel gekämpft. Heute sieht der SHS in dem kolossalen Kulturzentrum ein „Gesamtkunstwerk von internationalem Rang“, das gegen alle Eingriffe verteidigt werden müsse. Leider ist Stahlbeton nur in der Werbung dauerhaft und unveränderlich: Beton braucht Jahrzehnte, um endgültig auszuhärten – gleichzeitig fängt er an, zu reißen und zu bröckeln. Der Sanierungsaufwand ist enorm.
In der an Kies und Kalkstein reichen Schweiz ist es der Industrie lange gelungen, Beton als heimischen, quasi natürlichen Baustoff zu verkaufen. Dass bei der Produktion riesige Mengen Kohle, Erdöl oder Müll verbrannt werden und andere Umweltprobleme anfallen, ist auch jetzt in der Basler Ausstellung nur am Rande ein Thema. Immerhin endet die Schau mit kritischen Anmerkungen, etwa dem Buch Bauen als Umweltzerstörung, 1973 von dem Zürcher Architekten Rolf Keller verfasst, oder dem Plakat „Den Strassenbau begrenzen – Stopp dem Beton“, einer Kampagne der Grünen von 1990. Wer wissen will, wie sich der Schweizer Holcim-Konzern, der größte Zementhersteller der nicht-chinesischen Welt und Sponsor der Ausstellung, die Zukunft des Betons vorstellt, wird nur im Begleitprogramm fündig: 3D-Druck, Recycling und andere Projekte.
Viele Visionäre tüfteln heute an Alternativen zu Beton: Holz, Lehm oder Pilzmyzel? Der Zürcher Künstler Christoph Haerle arbeitet lieber daran, dem umstrittenen Baustoff das Grau auszutreiben: Für das neue Bürgerspital Solothurn hat er eine fünf Meter hohe und 60 Meter lange Wand aus farbigem Beton gestaltet. Fünf große Lastwagen in einer minutiösen Choreografie, Fahrmischer statt Farbtöpfe und Schläuche statt Pinsel: Schwere Schweizer Präzisionsarbeit kann bunt und schön sein.