Kandidatenlisten

Wir müssen draußen bleiben

d'Lëtzebuerger Land vom 15.04.2004

Als am Mittwoch um 18.00 Uhr die Bezirksgerichte schlossen und damit die letzte Frist zum Depot von Kandidatenlisten für die Parlamentswahlen am 13. Juni abgelaufen war, waren die etablierten politischen Familien wieder so gut wie unter sich. Neben ADR (Liste 1), DP (2), LSAP (3), déi Gréng (4), CSV(5), déi Lénk (6), die erneut in allen Bezirken kandidieren, und der nur noch in zwei Bezirken antretenden Kommunistischen Partei (7), meldete sich als einzige neue Liste die Fräi Partei Lëtzebuerg (FPL, Liste 8), die es auf eine einzige Liste, im Ösling, brachte.

Beim Rendez-vous diese Woche fehlte unter anderem der Verein Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg? des ehemaligen Haebicht-Bürgermeisters Henri Hosch. Die Bürgerinitiative hatte großspurig eine Kandidatur angedroht, um die anderen Parteien das Fürchten zu lehren. Doch beiKonjunkturflaute und steigender Arbeitslosigkeit ist mit Kritik an einem übertriebenen Wirtschaftswachstum kein Blumentopf zu gewinnen. Erwartungsgemäß mied die Initiative das Risiko und ersparte sich die Blamage am 13. Juni.

Keine Spur auch von der einzigen Partei, für die nicht der Mensch, sondern der Hund in den Mittelpunkt stehen sollte, der Déiereschutzpartei fir Lëtzebuerg MDN aus Berchem. Sie war am 8. Dezember letzten Jahres von einem Gemeindeangestellten, zwei Privatangestellten, einem Geschäftsmann, einer Hausfrau und einer Studentin gegründet und sicherheitshalber sogar als ordentliche Vereinigung ohne Gewinnzwecke eingetragen worden. Ihr Ziel sollte es sein, den Tierschutz zum Verfassungsauftrag zu machen, gegen Treibjagden, Fallenstellen und die Diskriminierung der Kampfhunde vorzugehen. Selbst der unverwüstliche Steuerrebell Jemp Bertrand, der seit Jahren unter wechselnder Bezeichnung noch zu jeder Wahl antrat, ist verschwunden.

Die Fräi Partei Lëtzebuerg hatte noch vor Monaten zuversichtlich angekündigt, in allen Bezirken Sektionen zu gründen und zu den Wahlen anzutreten (d'Land, 06.02.04). Doch nach einer internen Krise um den vorübergehend zurückgetretenen Präsidenten und fremdenfeindliche Ausfällen einer Kassenrevisorin ist die FPL nun zufrieden, zumindest in ihrem Stammbezirk, dem Norden, als einzige neue Liste antreten zu können.

Mit acht Listen ist auch die Listenzahl wieder Durchschnitt. Denn seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1919 kandidierten bei jeder Parlamentswahl im Durchschnitt etwas mehr als sieben Listen; das Minimum war wiederholt bei vier, nur einmal stieg die Zahl der Listen auf 16, nämlich 1989. Dass die Zahl der Listen zwischen 1979 und 1994 ausnahmsweise zweistellig war, geht auf das zeitliche Zusammenfallen der Aufsplitterung der grünen Bewegung und einer Inflation rechtsextremer Listen zurück. Die politische Hegemonie der CSV/ LSAP-Koalition motivierte aber sicher auch neue politische Initiativen. Und die Zuteilung von Mindestsendezeiten im Radio und Fernsehen zu Wahlkampfzwecken förderte sicherlich den Reiz einer Kandidatur. Doch die politische Umbruchperiode nach dem Ende der goldenen Dreißiger und des Kalten Kriegs, die dauerhaft Grüne und ADR als neue Parteien etablierte, scheint einstweilen beigelegt, die Zahl der neuen Listen ist wieder rückläufig.

Die Wahlen vom 13. Juni 2004 sind aber auch die ersten, die nach den neuen Bedingungen des reformierten Wahlgesetzes vom 18. Februar 2003 stattfinden. Bis dahin sah das Wahlgesetz in Artikel 106 vor, dass Kandidatenlisten von 25 Wahlberechtigten oder einem Abgeordneten oder drei Gemeinderäten des Bezirks unterstützt werden mussten.

Die letztjährige Reform hat die Zahl der Wahlberechtigten, die eine Liste unterstützen müssen, nun vervier-facht. Die bis Mittwoch abend deponierten Listen mussten entweder von 100 Wahlberechtigten oder einem Abgeordneten oder drei Gemeinderäten des Bezirks unterstützt werden.

Für die traditionellen Parteien stellte dies kein Problem dar. Bis auf die Grünen im Osten verfügen alle fünf Parteien über mindestens einen Abgeordneten in jedem Bezirk, der die Listen im Alleingang deponieren konnte. Und drei der grünen Kandidaten im Osten sind Gemeinderäte, so dass sie gleich noch für ihre Liste bürgen konnten.

Der Lénk, die nur im Süden über einen Abgeordneten verfügt, gelang es, in den anderen Bezirken an das demokratische Gewissen von jeweils drei Gemeinderäten anderer Parteien zu appellieren und ihre Unterstützung für das Depot linker Listen im Zentrum, Norden und Osten zu gewinnen.

Doch für Kandidatenlisten ohne Unterstützung von Mandatsträgern entpuppte sich die neue Prozedur als bürokratischen Spießrutenlauf, der neue Listen sogar vereiteln kann. Insbesondere die Kommunistische Partei, die erstmals seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr in sämtlichen Bezirken kandidiert, kritisierte die neue Prozedur als schikanös. Auch wenn die Versuchung für sie natürlich groß ist, mit einer Märtyrerpose den eigenen politischen Niedergang der Gesetzesreform anzukreiden.

Aber es hieß nun einmal, innerhalb von zwei Wochen einschließlich Osterferien 100 Unterschriften pro Wahlbezirk zu sammeln. Wobei die Unterschriften auf einer einzigen Unterschriftenliste eingetragen werden mussten, so dass es nicht einmal möglich war, dass mehrere Leute einer Liste gleichzeitig auf Unterschriftenjagd gingen. Außerdem genügte es nicht, 100 Unterschriften von Wahlberechtigten zu erhalten, für jede der 100 Unterschriften war auch eine Bescheinigung der Wohngemeinden erforderlich, dass die Unterzeichner tatsächlich in den Wahllisten eingetragen sind.

Für Neueinsteiger, die Politik nach Feierabend machen, grenzt das Unterschriftensammeln unter diesen Bedingungen an die Endausscheidung der Schmierseifenolympiade Spiel ohne Grenzen. Auf jeden Fall scheint sie gründlich die ausdrücklich im Wahlgesetz vorgesehene Möglichkeit von Einmann- und Einfraulisten zu vereiteln.

Doch genau das war laut Motivenbericht der Gesetzeresrform das Ziel der Änderung: "Pour empêcher la présentation d'une multitude de petites listes." Wenn aber bei den Anmeldung von Kandidaturen ein Abgeordneter soviel zählt wie 100 Wähler und ein Gemeinderat soviel wie 33 Wähler, warnte schon der Staatsrat in seinem Gutachten davor, "[de] faire renaître la notion de notables que leurs prétendues sagesse ou perspicacité feraient sortir de la masse des citoyens ordinaires".

Vor allem aber stellt jeder Versuch, mit gesetzlichen und administrativen Mitteln Kandidatenlisten zu verhindern, eine Einschränkung des passiven Wahlrechts dar. Der gegenüber keine Bedrohung des Parlamentarismus steht, da kleine Listen schon durch eine faktische Fünfprozentklausel oder gar 14-Prozentklausel benachteiligt sind. Denn auch wenn es hierzulande keine ausdrückliche Bestimmung gibt, wie in Paragraf sechs des deutschen Bundeswahlgesetzes, die festlegt, dass nur jene gewählten Parteien auch Parlamentssitze erhalten, die mindestens fünf Prozent der Stimmen  erhielten. Die geringe Zahl der zu wählenden Deputierten - sie wurde trotz steigender Einwohnerzahl durch das Gesetz vom 20. Dezember 1988 auf 60 gesenkt  und eingefroren - führt dazu, dass eine Partei je nach Wahlbezirk zwischen fünf Prozent der Stimmen im Süden und 14 Prozent im Osten erhalten muss, um ins Parlament zu kommen. Die Folge ist, dass trotz Verhältniswahlrecht besonders in den kleinen Bezirken starke Minderheiten von Wählern keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kammer haben, ihre Stimmen wirkungslos bleiben.

Natürlich sind kleine Listen, Splitterlisten, Einmann- und Einfraulisten nicht unbedingt das Zeichen einer lebendigen Demokratie. Denn die Erfahrung lehrt, dass die meisten dieser Seiteneinsteiger und Einzelkämpfer, die "einen frischen Wind in der Politik" versprachen, nur griesgrämige Stammtischfreischärler und neidische Nol-op-de-Kapp-Populisten sind. Und das Ziel von Politik ist es weniger, private Fantasien von Einzelhelden ausleben zu lassen, als gemeinsame Interessen von gesellschaftlichen Gruppen zu bündeln und zu verhandeln. So dass man davon ausgehen kann, dass politische Bewegungen, die relevante gesellschaftliche Anliegen artikulieren, weiterhin über genügend Militanten verfügen, die eine Kandidatur auch organisatorisch meistern können: auch heute bliebe das Aufkommen einer grünen Partei und eines ADR möglich.

Doch der Grundsatz der gleichen Wahl ist das Fundament einer parlamentarischen Demokratie. Und die Praxis der letzten 14 Tage wirft die Frage auf, ob die Gleichheit des passiven Wahlrechts und des Wahlvorschlagsrechts garantiert bleiben, die verlangen, dass alle Bürger unter den gleichen Bedingungen kandidieren können. Die gesetzlichen und administrativen Schikanen drohen neue Listen unverhältnismäßig im Vergleich zu Listen bestehender Parteien zu behindern, wenn nicht Einzelkandidaturen zu vereiteln. Das Wahlprinzip bedeutet aber, dass bei jeder Wahl die Zähler auf null gestellt werden und auch die alten Listen wieder "neue" Listen, alle Kandidaten gleich sind.

 

 

 

 

 

Romain Hilgert
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